Einleitung
Einleitung
Mit einer Rate von mehr als 30 000 Neuerkrankungen pro Jahr allein in Deutschland
und steigender Tendenz gewinnt das Bronchialkarzinom unter den Tumorerkrankungen zunehmend
an Bedeutung [1 ]. In über 80 % der Fälle handelt es sich dabei um ein nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom
(NSCLC) [2 ]. Zum Zeitpunkt der Diagnose ist die Erkrankung bei mehr als 66 % der Patienten bedingt
durch lokal fortgeschrittenes oder durch metastatisches Wachstum nicht mehr einem
kurativen, chirurgischen Eingriff zugänglich [3 ].
Nachdem die Wirksamkeit einer Cisplatin-gestützten Chemotherapie auf Überleben und
tumorbedingte Beschwerden bestätigt worden war [4 ], wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von neuen Kombinationen mit den Wirkstoffen
Vinorelbine, Gemcitabine, Irinotecan und Topotecan, Docetaxel und Paclitaxel evaluiert.
Große vergleichende Studien zeigten keine wesentlichen Unterschiede im Bezug auf Ansprechen
und Überleben mit Ansprechraten zwischen 15 und 32 % und 1-Jahres-Überlebensraten
zwischen 31 und 43 % [5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ]. Trotz des Fortschritts in der Therapie des fortgeschrittenen NSCLC bleibt die Prognose
dieser Patienten eingeschränkt und die Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze ist
dringend erforderlich.
Ein Problem in der Chemotherapie und der Strahlentherapie von soliden Tumoren stellt
die Präsenz hypoxischer Zellen in größeren Tumorarealen dar. Circa 12 bis 35 % der
Tumorzellen in menschlichen Tumoren sind hypoxisch oder überwiegend hypoxisch und
damit weitaus resistenter gegenüber einer Strahlentherapie aber auch einer Chemotherapie
als normal oxygenierte Zellen [9 ]
[10 ]
[11 ]
[12 ]
[13 ]
[14 ]. Eine spezifische Zerstörung von hypoxischen Tumorzellen und damit auch eine Manipulation
der hypoxisch bedingten Tumorresistenz durch selektiv wirksame Medikamente könnte
die Wirksamkeit einer Chemo- oder Strahlentherapie deutlich verbessern.
Tirapazamine (SR 259 075), ein Benzotriazinderivat, gehört neben den Chinonen (Mitomycin
C, B 09) und den Metronidazolen (Misonidazol, RSU 1069) zu einer Gruppe von Wirkstoffen,
die über einen Reduktionsmechanismus eine selektive Zytotoxizität im hypoxischen Milieu
entwickeln, die verstärkt wird durch das saure Milieu, welches in hypoxischen Tumorzellen
vorherrscht [15 ]
[16 ]
[17 ]
[18 ]
[19 ]
[20 ]. Neben einer zytotoxischen Wirkung als Monotherapie an Modelltumoren und im Tiermodell
konnte für das Tirapazamine (TPZ) sowohl eine synergistische wie teilweise auch eine
additive Wirksamkeit in Kombination mit diversen Zytostatika unter anderem mit Cisplatin
gezeigt werden [15 ]
[21 ]
[22 ]
[23 ]
[24 ]. Nachdem die optimale Dosis für Cisplatin und Tirapazamine bestimmt werden konnte,
wurde die Effektivität der Kombination Cisplatin/Tirapazamine bei Patienten mit fortgeschrittenem
NSCLC bestätigt. Als charakteristische Nebenwirkungen für das TPZ fanden sich ein
reversibler Hörverlust, Muskelkrämpfe, Sehstörungen, Übelkeit und Erbrechen sowie
ein Fatigue-Syndrom [25 ]
[26 ]
[27 ]
[28 ]. In einer nachfolgenden Phase III-Studie konnte sogar ein statistisch signifikanter
Vorteil für Ansprechen und Überleben zugunsten der Kombination Cisplatin/Tirapazamine
versus Cisplatin gezeigt werden [29 ].
Die Rationale für unsere Studie war die Prüfung der Durchführbarkeit und Wirksamkeit
einer Kombinationsbehandlung von Gemcitabine/Cisplatin, einer mittlerweile etablierten
Chemotherapie beim NSCLC [5 ]
[7 ], mit Tirapazamine.
Material und Methoden
Material und Methoden
Ein- und Ausschlusskriterien
Die Einschlusskriterien für diese Studie umfassten ein histologisch oder zytologisch
nachgewiesenes NSCLC im Stadium IIIb oder IV ohne ZNS-Metastasen. Neben einem ausreichenden
Allgemeinzustand entsprechend einem Karnofsky-Status von mindestens 70 % waren eine
ausreichende Nieren-, Leber- und Knochenmarksfunktion gefordert sowie eine ausreichende
Kontrazeption während und bis zu 3 Monaten nach der Therapie. Vor Einschluss musste
der Patient sein Einverständnis durch eine schriftliche Einwilligung dokumentieren.
Im Falle einer Zweittumorerkrankung, einer schwerwiegenden kardialen oder anderweitigen
Begleiterkrankung sowie einer Vortherapie des Bronchialkarzinoms kam eine Teilnahme
nicht in Betracht.
Behandlung
Vor Behandlungsbeginn erfolgte eine Evaluation der Tumorerkrankung durch Röntgen-Thorax,
TCT, CCT, Oberbauch-Sonographie und gegebenenfalls ergänzenden Untersuchungen wie
Knochenszintigraphie oder Kernspintomographie. Eine regelmäßige Beurteilung des Tumoransprechens
wurde alle 2 Zyklen mittels TCT durchgeführt. Die Überwachung der Laborwerte erfolgte
durch wöchentliche Blutbild- und Differenzialblutbildkontrollen sowie regelmäßige
Kontrollen der Leber- und Retentionsparameter sowie der Serumelektrolyte. Eine Beurteilung
der Toxizität erfolgte anhand der Common Toxicity Scala (Version 2) [30 ]. Darüber hinaus wurden in regelmäßigen klinischen Visiten mögliche Nebenwirkungen
erfasst.
In einem Phase I-Teil erfolgte die Bestimmung der optimalen Dosierung, wobei als Dosis
limitierende Toxizitäten Fatigue, Diarrhoe, Phlebitiden, Kopfschmerzen, Thrombopenien
und schwere Infektionen beobachtet wurden [31 ]. Dementsprechend wurden die Patienten in unserer Studie mit 330 mg/m2 KOF Tirapazamine (Sanofi Synthelabo Berlin) i.v. Tag 1, Cisplatin 75 mg/m2 KOF i.v. (Tag 1) und Gemcitabine 1250 mg/m2 KOF i.v. (Tag 1 und 8) behandelt. Eine Wiederholung des Kurses erfolgte am Tag 21
bis zu einer Zahl von maximal 8 Zyklen.
Ansprechen
Der primäre Endpunkt unserer Studie war die Bestimmung des Ansprechens. Eine komplette
Remission lag vor bei vollständiger Regredienz sämtlicher tumorbedingten Läsionen,
bestätigt durch eine Kontrolluntersuchung mindestens 4 Wochen später. Die Kriterien
für eine Teilremission (PR ) umfassten eine mindestens 50 %ige Größenabnahme des messbaren Tumors im größten
Durchmesser. Eine geringere Größenabnahme bishin zu einer Größenzunahme von maximal
25 % entsprach einem No Change (NC) , wobei eine Größenzunahme von über 25 % als Progress (PD ) eingeordnet wurde.
Statistik
Neben Ansprechen als primärem Endpunkt waren das progressionsfreie Überleben, das
Gesamtüberleben und die Remissionsdauer als sekundäre Endpunkte definiert.
Alle Patienten, die mindestens einen Zyklus Chemotherapie erhalten hatten, waren auswertbar
für Toxizität und Ansprechen. Die Auswertung von demografischen Daten erfolgte anhand
der üblichen statistischen Instrumente wie Median, Minimum und Maximum sowie Standardabweichungen.
Zur Beurteilung des Tumoransprechens wurde eine Null-Hypothese von </ = 30 % definiert,
d. h. bei einer Remissionsrate </ = 30 % unter den ersten 19 Patienten wäre die Studie
abgebrochen worden. Im anderen Fall sollte eine Rekrutierung bis zur geplanten Patientenzahl
von 39 Patienten im Phase II-Teil erfolgen. Eine Darstellung der Überlebensdaten und
der Daten fürs progressionsfreie Überleben erfolgte anhand der Kaplan-Meier-Methode.
Ergebnisse
Ergebnisse
Patientencharakteristika
Von 04/02 bis 07/02 wurden insgesamt 45 Patienten (13 Frauen/32 Männer) aus zwei Zentren
eingeschlossen. Bei 20 Patienten befand sich die Erkrankung im Stadium IIIb und bei
25 Patienten im Stadium IV. Das mediane Alter lag bei 62 Jahren (24 bis 75 Jahren)
und 58 % der Patienten hatten einen Allgemeinzustand entsprechend einem Karnofsky-Status
von 90 bis 100 % vor Therapiebeginn. Bei 16 Patienten (35,6 %) lag ein Adenokarzinom
vor, bei 10 Patienten (22,2 %) ein Plattenepithelkarzinom und bei 19 Patienten (42,2
%) ein großzelliges oder anderes nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom. Die mediane
Anzahl der gegebenen Zyklen betrug 4 (1 - 6), und die mediane relative Dosisintensität
(DI) für TPZ lag bei 96,4 % (76,5 bis 102,5 %) (Tab. [1 ]).
Tab. 1 Patientencharakteristika
Patienten
45
Alter (median)
62 J (24 - 75)
Geschlecht (M/F)
32/13 (71/29 %
KF 90 - 100 % KF 70 - 80 % KF n. a.
26 (57,8 %) 13 (28,9 %) 6 (13,3 %)
Vorbehandlung Operation Vorbehandlung Radiatio
7 (15,6 %) 1 (02,2 %)
Stadium IIIb Stadium IV
20 (44,4 %) 25 (55,6 %)
Histologie
Adenokarzinom Plattenepithelkarzinom großzelliges Karzinom andere
16 (35,6 %) 10 (22,2 %) 15 (33,3 %) 4 ( 8,9 %)
Toxizität
Die hämatologische Toxizität war moderat mit einer Neutropenie CTC Grad 3/4 bei 20
% der Patienten und einer Thrombopenie CTC Grad 3/4 bei 16 % der Patienten (Tab. [2 ]). Schwere nicht-hämatologische Nebenwirkungen wurden selten beobachtet mit Übelkeit
und Erbrechen CTC Grad 3/4 bei 4,4 % und 6,7 % der Patienten sowie Diarrhoe und Fatigue
bei jeweils 2,2 % der Patienten. Schwere „Tirapazamine-typische” Nebenwirkungen wurden
selten beobachtet. Bei einem Patienten kam es zu einem ausgeprägten jedoch reversiblen
Hörverlust und bei einer Reihe von Patienten wurden leichte bis mittelgradige Muskelkrämpfe
verzeichnet. Relativ häufig trat ein Fatigue-Syndrom auf (CTC Grad 1: 15,6 % der Patienten
CTC Grad 2: 31,1 % der Patienten), welches allerdings sicherlich nicht nur durch TPZ,
sondern auch durch die Chemotherapie, insbesondere das Cisplatin, und die Grunderkrankung
mit induziert wurde (Tab. [2 ]).
Tab. 2 Hämatologische/Nicht-hämatologische Toxizität
n = Patientenzahl (% der Patienten)
CTC 1
CTC 2
CTC 3
CTC 4
Leukopenie
1 ( 2)
4 ( 9)
5 (11)
1 (2)
Neutropenie
0
4 ( 9)
8 (18)
1 (2)
Anämie
1 ( 2)
9 (20)
6 (13)
0
Thrombopenie
1 ( 2)
6 (13)
3 ( 7)
4 (9)
Übelkeit
11 (24)
20 (44)
2 ( 4)
0
Erbrechen
7 (16)
13 (29)
3 ( 7)
0
Fatigue
7 (16)
14 (31)
1 ( 2)
0
Diarrhoe
12 (27)
9 (20)
1 ( 2)
0
Muskelkrämpfe
6 (13)
8 (18)
0
0
Myalgien
2 ( 4)
3 ( 7)
2 ( 4)
0
Hörverlust
3 ( 7)
2 ( 4)
1 ( 2)
0
lokale Nebenwirkungen
6 (13)
1 ( 2)
0
0
CTC = Common Toxicity Criteria
Ansprechen und Überleben
Bei fehlenden kompletten Remissionen wurde bei 18 Patienten eine bestätigte Teilremission
beobachtet, welches einer Ansprechrate von 40 % entspricht. Die Tumorkontrollrate
lag bei 84,4 %. Bei drei Patienten war der Tumor unter der Therapie progredient und
bei vier Patienten konnte keine Remission bestimmt werden. Das mediane progressionsfreie
Überleben lag bei 6,7 Monaten (95 % CI und 4,8 - 8,1 Monate) und das mediane Überleben
bei 8,1 Monaten (95 % CI, 7,5 - 12,5 Monate) mit einem 1-Jahres-Überleben von 35 %
(Tab. [3 ], Tab. [4 ], Abb. [1 ]).
Tab. 3 Tumoransprechen
Remission (n = Patientenzahl [% der Patienten])
CR
PR
18 (40 %)
NC
20 (44,4 %)
PD
3 ( 6,7 %)
n. a.
4 ( 8,9 %)
Tab. 4 Überleben und progressionsfreies Überleben
Überleben
medianes progressionsfreies Überleben
6,7 Monate (4,8 - 8,1 Monate)
medianes Überleben
8,1 Monate (7,5 - 12,5 Monate)
1-Jahres-Überleben
35 %
Abb. 1 Gesamtüberleben und 75 % Konfidenzintervall
Diskussion
Diskussion
Mit einer Ansprechrate von 40 % und einem medianen Überleben von 8,1 Monaten sowie
einer 1-Jahres-Überlebensrate von 35 % zeigte sich in unserer Phase II-Studie eine
ermutigende Aktivität der Kombination TPZ mit Gemcitabine/Cisplatin, die am oberen
Rand der bisher publizierten Daten zur Chemotherapie des fortgeschrittenen/metastasierten
NSCLC lag [5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ], wobei selbstverständlich ein Vergleich von Phase II- mit Phase III-Daten nur einen
Eindruck vermitteln kann. Auch die Verträglichkeit war im Allgemeinen gut, wobei durch
die Einführung des TPZ eine Reihe von neuen Nebenwirkungen wie der Hörverlust, intermittierende
Sehstörungen, Muskelkrämpfe, lokale Nebenwirkungen am Injektionsarm und möglicherweise
ein verstärktes Fatigue-Syndrom hinzugekommen sind. Als Konsequenz aus unserer Phase
II-Studie wurde eine randomisierte Phase III-Studie konzipiert, wobei als Chemotherapie-Regimen
statt Cisplatin/Gemcitabine die Kombination Cisplatin/Vinorelbine gewählt wurde. Die
Ergebnisse dieser Phase III-Studie liegen bislang noch nicht vor.
Es sind jedoch in den letzten Jahren zwei Phase III-Studien publiziert worden, in
denen der Stellenwert des TPZ überprüft wurde.
In der CATAPULT II-Studie wurde die Kombination TPZ/Cisplatin mit Cisplatin/Etoposid
verglichen. Es zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Armen, wobei
Ansprechen und Überleben im Trend günstiger für die Kombination Cisplatin/Etoposid
waren (Remissionsrate Cisplatin/Etoposid versus Cisplatin/Tirapazamine: 19 % versus
15,3 %, medianes Überleben Cisplatin/Etoposid versus Cisplatin/Tirapazamine: 7,8 Monate
versus 6,7 Monate). Die nicht-hämatologische Toxizität mit Übelkeit und Erbrechen,
Muskelkrämpfen, Fatigue-Syndrom und Hörverlust war deutlich erhöht im TPZ-Arm [32 ].
Eine weitere Phase III-Studie untersuchte die Kombination TPZ, Paclitaxel, Carboplatin
(TPC) versus Paclitaxel und Carboplatin (PC). Diese Studie wurde vorzeitig beendet,
da sich in einer Zwischenanalyse der erwartete Überlebenszuwachs für den TPZ-Arm nicht
bestätigte (medianes Überleben TPC versus PC7 versus 9 Monate). Bedingt durch Toxizität
erfolgte signifikant häufiger ein Therapieabbruch im TPC-Arm und eine geplante Dosiseskalation
des TPZ von 260 auf 330 mg/m2 KOF konnte bei 44 % der Patienten im TPC-Arm aus Toxizitätsgründen nicht durchgeführt
werden [33 ].
Zusammenfassend stellt die Therapie hypoxischer Tumorzellen durch bioreduktive Substanzen
ein äußerst interessantes Konzept dar, wobei anhand der vorliegenden Daten eine Verbesserung
der therapeutischen Ergebnisse beim NSCLC durch das Tirapazamine bislang nicht gezeigt
werden konnte. Etwas anders sieht die Situation bei den Kopf-/Halstumoren aus, wo
es Hinweise gibt, dass möglicherweise der Einsatz des TPZ zu einer Verbesserung des
rezidivfreien und Gesamtüberlebens führt, wobei diese Daten noch in Phase III-Studien
bestätigt werden müssen [34 ].