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DOI: 10.1055/s-2004-828337
Narzissmus und Internet
Publication History
Publication Date:
08 September 2004 (online)

Ressourcen zu Persönlichkeitsstörungen sind im Internet insgesamt nur in sehr geringer Anzahl zu finden (Eichenberg 2003). Das gilt mehr noch als für andere für narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Im Unterschied zum gewohnten Inhalt der DialogLinks muss in diesem Themenheft deshalb darauf verzichtet werden, internetbasierte Informationen zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung und zu klinischen narzisstischen Phänomenen zusammenzustellen.
Wie ist aber zu erklären, dass sich im Internet nur sehr wenige Informationen aus klinischer Sicht oder aus Sicht von Betroffenen zum Thema Narzissmus finden lassen? Eine Erklärung könnte aus epidemiologischen Befunden abgeleitet werden, die für eine geringe Prävalenz narzisstischer Persönlichkeitsstörungen sprechen (rund 0,4 %, vgl. Girolamo u. Reich 1993). Allerdings haben systematische Internetrecherchen zu anderen Störungsbildern gezeigt, dass die Epidemiologie von psychischen Störungen sich nicht in der Anzahl verfügbarer Internetinformationen widerspiegelt. So findet sich beispielsweise zu den Essstörungen ein reichhaltiges Internetangebot bei Prävalenzzahlen, die noch unter denen der Persönlichkeitsstörungen liegen (vgl. Eichenberg 2004). Zudem lassen sich zu jeder noch so seltenen Erkrankung WWW-Seiten und Selbsthilfeforen finden (z. B. Brustkrebs bei Männern, siehe http://listserv.acor.org/archives/malebc.html).
Menschen mit narzisstischen Störungen leiden selten an den Manifestationen, die Kliniker als direkten Ausdruck ihrer Selbst- und Selbstwertstörungen ansehen. Deshalb suchen sie Versorgungseinrichtungen aufgrund ihrer spezifischen Persönlichkeitsstörungen nur selten auf. Auch therapeutische Fachleute sprechen dieses Klientel auf ihren Praxis- oder Klinik-Homepages kaum jemals dezidiert mit der Bereitstellung von Informationsmaterial zu diesem Störungsbild an. Wenn überhaupt, dann fragen die Betroffenen wegen anderer Beeinträchtigungen, die eine Folge ihrer Entwicklungsstörung sind, nach therapeutischer Hilfe nach, etwa wegen körperlicher Beschwerden wie beispielsweise hypochondrischer Störungen, wegen Depressionen aufgrund gescheiterter Beziehungen oder aufgrund von Problemen am Arbeitsplatz, zu denen es in Zusammenhang mit ihrer geringen Kritikfähigkeit oder ihrer großen Kränkbarkeit kommen kann. Weil sie von sich selbst kaum jemals sagen würden, dass ihre Persönlichkeit gestört sei - auch aus klinischer Perspektive ist die Diagnose „Persönlichkeitsstörung” nicht unproblematisch -, wird kaum ein Betroffener im Internet auf die Suche nach Informationsseiten, virtuellen Selbsthilfegruppen oder Selbstdiagnostika gehen. Wenn überhaupt, dann sind die Betroffenen in Foren zu finden, die thematisch zu umschriebenen Problemen passen, zu denen es in Verbindung mit ihrer basalen Störung im privaten oder beruflichen Bereich gekommen ist, beispielsweise in Diskussionsboards für „Mobbingopfer” (siehe http://mobbing-net.de). Nur wenn im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung die Diagnose gestellt wurde, wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass betroffene Personen sich über ihre Erkrankung informieren und den Austausch mit anderen suchen:
Hallo: Narzisse nenne ich mich, weil ich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung
habe, die mir das Leben ziemlich schwer macht … Ein großer Wunsch wäre, mal jemanden
kennen zu lernen, der dieselbe Diagnose hat.
(Selbstvorstellung eines Mitglieds von www.regenbogenwald.de, einer problem- und störungsunspezifischen Selbsthilfe-Community)
Dass Betroffene den Wunsch nach Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und Erleben, den Ursachen und Auswirkungen der eigenen, als Persönlichkeitsstörung angesehenen Beeinträchtigungen haben, lässt sich am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) zeigen. Zu dieser spezifischen Persönlichkeitsstörung gibt es - im Gegensatz zu allen anderen - reichhaltiges Informationsmaterial (vgl. Tab. [1]) sowie eine starke Präsenz an internetbasierter Selbsthilfe. Das mag u. a. damit zusammenhängen, dass die Borderline-Diagnose in den letzten Jahren modern geworden ist - auch diagnostische Gewohnheiten in der Psychotherapie unterliegen Moden - und auch unter potenziell betroffenen jungen Erwachsenen manchmal einen gewissen modischen Chic genießt. Da narzisstische Persönlichkeitsstörungen zudem oftmals nur als Spezialfall einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgefasst werden (z. B. Kernberg 1980), können sich narzisstische Störungen auch hinter der Borderline-Diagnose verbergen („Ich bin gerade in der Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt und bei mir wurde Borderline in Kombi mit weiblichem Narzissmus […] festgestellt” [http://www.psychotherapiepraxis.at/forum]). In Online-Borderline-Foren mischen sich diese Patientengruppen dann entsprechend.
Tab. 1 Anzahl der Treffer zu verschiedenen Persönlichkeitsstörungen im deutschsprachigen Web [www.google.de, Stand: 27.5.2004] Suchbegriff Anzahl der Treffer Zwanghafte Persönlichkeitsstörung 226 Paranoide Persönlichkeitsstörung 239 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 571 Borderline-Persönlichkeitsstörung 6630
Angebote für BPS-Betroffene werden intensiv genutzt. Das zeigt die Nutzungsstatistik der Borderline Community [www.borderline-community.de], eine Informations- und Kommunikationsplattform für Betroffene der Borderlinestörung und ihr soziales Umfeld: 23 217 Besuche verzeichnete die Site im April 2004, über 2900 User sind im assoziierten Diskussionsboard registriert.
Im Zusammenhang mit dem Internet spielt der Narzissmusbegriff - vorrangig als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, aber auch im Sinne der Kennzeichnung einer Persönlichkeitsstörung - noch in einem weiteren Kontext eine Rolle. Manche Autoren (z. B. Lojewski 2002) sehen in den mediumimmanenten Möglichkeiten des Internet eine ideale Plattform, narzisstische Bedürfnisse zu erfüllen. Indem sie körperlich nicht präsent sein müssen, könnten sich entsprechend dispositionierte Personen in virtuellen Welten (z. B. MUDs, Multi User Dungeon/Dimensions), Chats oder auf persönlichen Homepages (Lemay 1996) in einer künstlich konstruierten grandiosen Selbstdarstellung präsentieren und damit narzisstische Gratifikationen erlangen. Ob dies tatsächlich so ist, ist unklar. Eine Studie von Döring (1999) zur Frage der Identitätsdarstellung in Chats ergab, dass Personen, die diesen Netzdienst nutzen, dies nicht aus Motiven idealisierender Selbstdarstellung tun, sondern dass Chatten offenes und ehrliches Verhalten begünstigt. 38 % der Untersuchungsteilnehmer gaben an, dass sie beim Chatten „oft” und weitere 45 % dass sie „manchmal” ehrlicher und offener anderen Menschen begegnen als im „real life”. Die psychologische Homepage-Forschung (zusammenfassend siehe Döring 2001) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Allerdings sind „Offenheit” und „Ehrlichkeit” keine Verhaltensmerkmale, die narzisstische Manifestationen ausschließen; zentral ist die Unfähigkeit, andere Personen als Andere in ihrem eigenen Recht wahrzunehmen, und die Kommunikation im Internet macht es zumindest leichter, der Begegnung mit dem realen Anderen aus dem Wege zu gehen. Insgesamt ist das Ausmaß, in dem der Narzissmushintergrund als Motiv für persönliche Netzpublikationen von Bedeutung sein könnte, ungeklärt. Dass die Nutzung des Netzes insgesamt der Förderung der konstruktiven intra- und interpersonalen sowie intra- und intergruppalen Kommunikation, die persönliche Homepage als Mittel zur positiven Selbstkonstruktion und zur Kontaktaufnahme mit anderen dienen kann, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Eine Studie von Machilek, Renner und Schütz (in Vorb.) könnte hier weiteren Aufschluss geben. Diese Forschungsgruppe hat im Rahmen eines Projekts „Selbstdarstellung im Internet - Strategien der Persönlichkeitsdarstellung auf privaten Homepages” eine Subgruppe von Homepage-Betreibern, deren Webpräsenz durch eine sehr extensive, vom Durchschnitt abweichende Persönlichkeitsdarstellung gekennzeichnet sind, hinsichtlich spezifischer Persönlichkeitsmerkmale untersucht, u. a. nach der Ausprägung narzisstischer Tendenzen, um die Motive „authentische Selbstdarstellung” versus „Spielen mit Identitäten” spezifizieren zu können.
Literatur
- 1 Döring N. Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen; Hogrefe 1999
- 2 Döring N. Persönliche Homepages im WWW. Ein kritischer Überblick über den Forschungsstand. Medien & Kommunikationswissenschaft. 2001; 49 (3) 325-349
- 3 Eichenberg C.
Internetbasierte Hilfe für Betroffene. In: Ott R, Eichenberg C Klinische Psychologie und Internet. Potenziale für klinische Praxis, Intervention, Psychotherapie und Forschung. Göttingen; Hogrefe 2003: 173-189 - 4 Eichenberg C. Essstörungen: Informations- und Interventionsangebote im Internet. Psychotherapie im Dialog. 2004; 5 (1) 82-85
- 5 Girolamo G de, Reich J H. Personality disorders. Geneva; WHO 1993
- 6 Kernberg O. Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Frankfurt; Suhrkamp 1980
- 7 Lemay L. Mehr Web-Publishing mit HTML. München; Markt & Technik, Buch- und Software-Verlag 1996
- 8 Lojewski S. Narzissmus und Gesellschaft. 2002 [On-line]. Available: http://narzissmus.stefanlojewski.de/
- 9 Machilek F, Renner K-H, Schütz A.
„Ich kehre mein Innerstes nach Außen und setze es auf meine Homepage.” Einzelfallanalysen außergewöhnlicher Homepages. In: Renner K-H, Schütz A, Machilek F (Hrsg) Internet und Persönlichkeit. Göttingen; Hogrefe in Vorb.