In dem Buch „Künstlerporträts” von M. Reich-Ranicki [18] findet sich eine Gouache von Erich Sokol, auf der Thomas Bernhard (1931 - 1989)
zusammen mit Paul Wittgenstein, dem Neffen des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889
- 1951), dargestellt ist (Abb. [1]).
Abb. 1 Thomas Bernhard, Gouache von Erich Sokol.
Dem Betrachter des Bildes fällt sofort die knollig verdickte Nase von Thomas Bernhard
ins Auge, die einen deutlichen Kontrast zu der spitzen, nach oben weisenden Nase von
Paul Wittgenstein bildet. Auch die Wangenhaut von Thomas Bernhard ist wie dessen Nase
nicht glatt, sondern höckrig dargestellt, weshalb sich dermatologisch geschulten Betrachtern
sofort die Diagnose „Rhinophym mit Rosazea” aufdrängt. Auch der Zeichner und Karikaturist
Tullio Pericoli stellt Th. Bernhard (Porträts Nr. 57, 58, 59) mit kolbig verdickter
Nasenspitze dar [17]. Aufgrund der anderen Zeichentechnik Pericolis ist aber die Hautstruktur der Nase
und der Wangen sehr viel weniger detailliert als bei Sokol.
Da Karikaturen „komisch übertreibende Zeichnungen” mit einer Überbetonung charakteristischer
Merkmale sind, stellt sich die Frage, wie Thomas Bernhards Nase und Wangenhaut tatsächlich
ausgesehen haben. Dies lässt sich anhand der zahlreichen im Internet zugänglichen
Photographien und besonders mit Hilfe des vorzüglichen Bildbandes von S. Dreissinger
[8] beantworten. Nicht wenige dieser Bilder der späten 70er- und der 80er-Jahre zeigen
eine verdickte Nasenspitze, allerdings nicht so ausgeprägt wie bei Sokol, häufig auch
eine großporige Haut mit kleinen Narben im Wangenbereich, so weit erkennbar immer
ohne Pusteln.
Da Thomas Bernhard in jungen Jahren an einer Tuberkulose litt, in seinen letzten Jahren
an einer Lungensarkoidose, soll hier der Frage nachgegangen werden, ob die Veränderungen
der Nase eher einem beginnenden Rhinophym oder einem Lupus pernio entsprechen.
Leben und Werk
Leben und Werk
Thomas Bernhard wird am 9. (oder 10.) Februar 1931 in den Niederlanden geboren, wo
seine ledige Mutter als Dienstmädchen arbeitet. Das erste Jahr verbringt das Kind
in der Obhut einer Pflegefamilie auf einem Schiff, die nächsten Jahre bei den Großeltern
in Österreich und zeitweise in Bayern. Das Gymnasium in Salzburg bricht er 1946 ab
und beginnt eine kaufmännische Lehre bei einem Lebensmittelhändler. Kaum 17-jährig
erkrankt Bernhard an einer schweren Pleuritis, die 1950 von einer Tuberkulose gefolgt
wird [2]
[3]
[4]
[5]
[6]. Nach der Genesung Musik- und Schauspielunterricht in Salzburg, ab 1952 Redakteur
bei einer Salzburger Tageszeitung. Von 1957 an lebt Bernhard als freier Schriftsteller
in Österreich. Schon sein erster Roman „Frost” (1963) wird ein literarischer Erfolg
und 1965 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. In den folgenden Jahren zahlreiche
Ehrungen, aber auch Skandale, vor allem im Zusammenhang mit Theateraufführungen. Etwa
ab 1980 zunehmende gesundheitliche Probleme durch die Lungenkrankheit und die damit
einhergehende Herzbelastung. Am 12. Februar 1989 stirbt Thomas Bernhard, gerade 58
Jahre alt geworden [12].
Pathographie
Pathographie
Bei intensiver Beschäftigung mit Leben und Werk von Thomas Bernhard wird deutlich,
dass alle seine literarischen Arbeiten, von den frühen Gedichten bis hin zum Spätwerk,
ganz und gar von seinen Lungenkrankheiten, die schon in der Jugend lebensbedrohlich
waren und letztlich auch zum Tode geführt haben, bestimmt sind [16]. Verständlich deshalb, dass die schon in der Pubertät aufgetretenen Hautveränderungen,
die wohl nicht als Krankheit empfunden wurden, ganz in den Hintergrund treten und
nur selten in seinem Werk thematisiert sind.
In seinem autobiographischen Roman „Der Keller” schreibt er [4]: „Meine Stimme war stark, ... ganz im Widerspruch zu meinem mageren, hochaufgeschossenen
Körper, der zu dieser Zeit, Kennzeichen von Wahnsinn und Pubertät, fast immer mit
einem Ausschlag bedeckt gewesen war.” An anderer Stelle der Autobiographie, in „Die Kälte” [5]: „war ich … ein magerer Kaufmannslehrling, das Gesicht voller Pickel, …” Dr. J. Fabjan, Arzt und Halbbruder von Th. Bernhard, teilte mir mit (pers. Mitteilung
19. 2. 2004), dass dieser seit der Pubertät an einer Acne conglobata nicht nur im
Gesicht, sondern auch am Oberkörper gelitten habe. Die Verdickung der Nase sei aber
nie extrem gewesen.
Außer in seinen autobiographischen Werken finden sich in seinen Romanen und Theaterstücken
kaum Hinweise auf Hautveränderungen. Eine aphoristische Anmerkung liefert Karl I.
Hennetmair [11], Immobilienmakler („Realitätenvermittler”), Intimus und wohl auch Faktotum von Thomas
Bernhard. Dieser hat in einem Tagebuch minutiös die Ereignisse des Jahres 1972 festgehalten.
Er zitiert Bernhard, der in Anspielung auf die Großmutter Hennetmairs, die mit Blumen
beschenkt worden war, sagt: „Für was siehst du mich eigentlich an? Ich bin doch keine alte Großmutter, die Blumen
braucht. I hab e Bleamal, meine Wimmerl im Gesicht” (Wimmerl: in Österreich umgangssprachlich für verschiedene Hautveränderungen gebraucht.
Pers. Mitteilung von Th. Luger, 11. 6. 2004).
Laut Dr. Fabjan wurde in einem Krankenbericht der Inneren Abteilung des Allgemeinen
Krankenhauses in Wels/Oberösterreich 1979 eine „fraglich beginnende Rosazea” festgehalten, im HNO-Befund eine „Chronische Rhinopathie”. Hauptdiagnose war damals aber eine Belastungsdyspnoe, die auf die Lungenfibrose
bei Morbus Boeck zurückgeführt wurde. P. Fabjan selbst hat dann aber die seit Beginn
der 80er-Jahre sichtbar gewordene Verdickung der Nasenspitze auf die Sarkoidose zurückgeführt,
da sie, wie die ausgeprägte Belastungsdyspnoe, unter der Kortisontherapie schlagartig
zurückgegangen und Thomas beim Gesichtwaschen „die Nase regelrecht abgegangen” sei (pers. Mitteilung, 19. 2. 2004).
Rosazea und Sarkoidose
Rosazea und Sarkoidose
Die Rosazea wird heute in 3 Stadien (auch als Formen bezeichnet, da diese Stadien
nicht immer nacheinander durchlaufen werden) und verschiedene Sonderformen eingeteilt
[19]. Die Rosazea im Stadium 1 (erythematöse R.) ist durch flächige, zentrofaziale Erytheme
gekennzeichnet, die des Stadium 2 durch Papulopusteln (papulopustulöse R.), Stadium
3 schließlich durch Phyme (glandulär-hyperplastische R.). Bei etwa der Hälfte der
Betroffenen findet sich eine familiäre Belastung mit Rosazea. Im Gegensatz zur Akne
sind für die Pathogenese der Rosazea die Hautgefäße wichtiger als die Talgdrüsen [19]. Eine Akne in der Jugend ist deshalb auch nicht notwendige Voraussetzung für eine
Rosazea im höheren Lebensalter.
Zur Behandlung der Rosazea werden Kortikosteroide nur bei stark entzündlichen Formen
(R. conglobata und R. fulminans) eingesetzt, da Kortison, vor allem bei topischer
Applikation, eine Rosazea auslösen kann (so genannte „Steroid-Rosazea”) [13]. Die glandulär-hyperplastische Form (Stadium 3), deren Frühform bei Th. Bernhard
differenzialdiagnostisch in Betracht kommt, lässt sich ausschließlich durch eine operative
oder laserchirurgische Intervention bessern. Die Beobachtung, dass sich die verdickte
Nase von Thomas Bernhard unter Kortison schlagartig zurückgebildet habe, passt deshalb
nicht zu einem Rhinophym.
Bei etwa einem Drittel der Patienten mit einer Lungensarkoidose finden sich Hautveränderungen,
vor allem in Form von Erythema nodosum, knotigen oder plaqueartigen Hautinfiltraten,
makulopapulösen Exanthemen und Narben-Sarkoidose. Ein Lupus pernio, also eine kolbig
verdickte, in der Regel mehr oder weniger violett verfärbte Nasenspitze und mehr oder
weniger ausgeprägte, plaqueartige Veränderungen der Wangenhaut finden sich nur bei
etwa 3 Prozent, also nur bei etwa einem von Hundert Patienten mit Lungensarkoidose
[23]. Der Lupus pernio soll besonders häufig mit einer lang bestehenden, chronisch-fibrosierenden
Lungensarkoidose assoziiert sein, an der Th. Bernhard ja gelitten hat. Mittel der
Wahl bei der Behandlung des Lupus pernio sind Kortikosteroide, entweder intraläsional
injiziert oder systemisch appliziert [20]. Darunter bilden sich die Hautveränderungen in der Regel prompt zurück, wird die
Dosis unter eine Schwelle von etwa 10 mg reduziert, kommt es zum Rezidiv [20]. Die dramatische Wirkung der Kortisongabe bei Th. Bernhard spricht deshalb für einen
Lupus pernio und gegen ein initiales Rhinophym.
Die Krankheit des Schriftstellers
Die Krankheit des Schriftstellers
Für die Perspektive der Beziehung von Literatur und Medizin sind Persönlichkeit und
Krankheit des Schriftstellers bedeutsam; nicht wenige Literaten schreiben gegen den
unaufhaltsamen Verlauf ihrer Krankheit oder gegen den Tod an [9]
[14]
[22]. Dies trifft ganz besonders auf Thomas Bernhard zu, der das Schreiben offenbar erfolgreich
als Therapeutikum benutzt hat. Gross [10] schreibt: „Ohne gelungenen Weg in die Dichtkunst wäre er angesichts solch biographischer Umstände
mit hoher Wahrscheinlichkeit zugrunde gegangen”. Bei Thomas Bernhard stand verständlicherweise nicht die harmlose Hauterkrankung im
Zentrum des literarischen Schaffens, sondern die lebensbedrohliche Lungenkrankheit,
die er auch als seine „Lebenskrankheit” bezeichnet hat [6].
Nach Francoual [9] liegt es im Wesen des mit einer tödlichen Krankheit konfrontierten Menschen, dass
er sich nicht mit einer rein objektiven oder gar objektivistischen und wissenschaftlichen
Erfassung seiner Pathologie zufrieden gibt und sich auf die Suche nach einem Sinn
(„warum gerade ich, warum jetzt?”) begibt, den ihm die an Technik und Wissenschaft orientierte Medizin nicht vermitteln
kann.
In seinen autobiographischen Schriften und in seinem 1982 erschienenen Buch „Wittgensteins
Neffe” [7] übt Bernhard harsche Kritik an den Ärzten und der Medizin seiner Epoche. Nach Kohlhage
[14] wird „nie das Gefühl eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient vermittelt,
es bleibt … der Eindruck einer unausgesprochenen Feindschaft”. Sie und Francoual [9] analysieren den Wahrheitsgehalt seiner Kritik und zeigen das hohe Maß an Projektion,
das hinter dieser Kritik steckt. Auch Bernhard versucht, „… gegen das biologische Mißgeschick Front zu machen …” und Deutungsmuster für seine Krankheit vorzulegen [9]. Allerdings problematisiert Bernhard selbst diese Wahrheitssuche aber so [4]: „Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er
automatisch zum Lügner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein,
...” Und weiter: „Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden,
aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar.”
Bernhard, in seiner „Übertreibungskunst”
[15], hält den Ärzten denselben Spiegel vor wie Tolstoi fast 100 Jahre vorher in seiner
Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch” [21]. Hier sind prototypisch Ärzte beschrieben, die sich nicht auf die Patienten einlassen
und die ohne Empathie ihre Arbeit verrichten. Bernhards und Tolstois Kritik an den
Ärzten kann, so unsachlich und ungerecht diese manchmal auch erscheinen mag, eine
Ahnung davon vermitteln, was eine schwere Krankheit für den Betroffenen wirklich bedeutet
und welch immense Bedeutung die „conditio humana” im Umgang der Ärzte mit diesen Kranken
hat. Wer Bernhards Kritik nur als Verunglimpfung der Ärzte begreift, macht es sich
zu einfach und übersieht, dass diese auch als Plädoyer für eine patientenzentrierte
Medizin verstanden werden kann.
Auf das übrige Werk von Thomas Bernhard ist, auch wenn es durchaus reizvoll wäre,
hier nicht einzugehen,. Nur so viel: es ist „weder eine mächtig aufgeschwemmte Österreich-Schelte noch ein in Poesie transformierter
philosophischer Diskurs…”, sondern eine facettenreiche Collage der Gegenwart [15]. Nach Bartmann [1] geht es Bernhard nicht darum, „ ‚gute Literatur‘ zu schreiben, sondern im Schreiben das Unrecht zu benennen und
die Verhältnisse zu schmähen, die es möglich machten”.
Man mag über die Prosa Bernhards sehr unterschiedlicher Meinung sein: allein seine
autobiographischen Schriften stellen ihn in die erste Reihe großer zeitgenössischer
Literaten, ganz unabhängig davon, ob er nun an einem Rhinophym oder an einem Lupus
pernio gelitten hat.
Danksagung
Danksagung
Herr Ch. Kamp (Hamburg) hat mich zu der intensiven Beschäftigung mit dem Werk von
Thomas Bernhard angeregt und damit auch zu dieser Arbeit. Für mannigfache Hilfe und
fruchtbare Diskussionen danke ich Frau M. Kohlhage (Hamburg), intime Kennerin der
Pathograpie von Th. Bernhard. Wichtige Hinweise auf die Hauterkrankung verdanke ich
Dr. J. Fabjan (Gmunden), dem Halbbruder von Th. Bernhard. Nicht zuletzt gilt mein
Dank dem Jüdischen Museum Frankfurt für die Abdruckgenehmigung des Sokol-Bildes.