Die Grundformen menschlicher Füße werden nach ihrer bevorzugten Darstellung in der
bildenden Kunst als „ägyptischer Fuß” (Großzehe am längsten) oder „griechischer Fuß”
(zweite Zehe am längsten) bezeichnet. Darüber hinaus sind in der griechischen Antike
seit dem 5. Jh. v. Chr. individuelle Formbesonderheiten realistisch dargestellt worden.
Sie sind uns großenteils nur durch römische Kopien bekannt [1]
[2]. Zu diesen Formabweichungen gehört die schuhmodebedingte Hammerzehen-Stellung der
Kleinzehe. Hierzu gehören aber auch zwei naturgegebene Varianten: erstens eine verkürzte
Kleinzehenform, z. B. bei der Amazone Sosikles des Kresilas, bei der Flora Farnese
(Neapel NM. Inv.-Nr 6409), der Aphrodite Kallipygos in Neapel oder, kombiniert mit
der folgenden, dem Antinoos der dortigen Sammlungen (Inv.-Nr. 6314). Zweitens eine
Verschiebung der Kleinzehennägel nach lateral, z. B. bei einer Zeus-Statue der Berliner
Antiken-Sammlungen, einer Athena Promachos in Neapel (Inv.-Nr. 6007, hier kombiniert
mit kurzer Form) und mehreren Aphrodite-Kultstatuen. Bei einer Aphrodite (Neapel Inv.
6283) hat der Versuch, Bruchstücke so zusammenzufügen, dass die Zehennägel in die
gleiche Ebene kamen, zu anatomisch unmöglicher Zehenform geführt. Typisch dargestellt
ist diese Variante bei einer Athena im Akropolis-Museum (Abb. [1]).
Abb. 1 Fuß einer Athena-Statue. Um 500 v. Chr. Akropolis-Museum, Athen.
Die gleiche Lateralversion der Kleinzehennägel haben wir nun auch bei heute lebenden
Patienten sowie inzwischen 6 Familien in aufeinanderfolgenden Generationen bei beiden
Geschlechtern beobachtet (zweimal Mutter und zwei von 2 Töchtern, einmal Mutter und
eine von zwei Töchtern, einmal Mutter und einzige Tochter (Abb. [2]), einmal Vater und einzige Tochter, einmal zwei Brüder). Bei einer weiteren Sippe
sind Verlagerung der Kleinzehennägel nach lateral und verkürzte Kleinzehe kombiniert
(Mutter, Abb. [3], und eine Tochter). Das familiäre Verteilungsmuster weist bei beiden Varietäten
auf autosomal dominante Vererbung hin.
Abb. 2 Fuß eines 11 Monate alten Mädchens mit nach lateral gewendetem Kleinzehennagel.
Abb. 3 Nach lateral gewendeter Kleinzehennagel kombiniert mit kurzer Kleinzehe. 35-j. Frau.
Dass solche Formvarianten in der klassischen griechischen Kunst des 5. bis 3. Jh.
v. Chr. und den darauf beruhenden römischen Kopien so dargestellt wurden, spricht
dafür, dass möglicherweise in dieser Zeit schuhmodebedingt die Hammerzehen-Stellung
so verbreitet war, dass sie nicht als Abweichung wahrgenommen wurde. An familiären
Besonderheiten wurden aber offenbar sowohl die Verkürzung der Kleinzehe als auch die
Lateralversion der Nägel als innerhalb der Spielbreite idealer Schönheit empfunden.
Bei Kultbildern der Aphrodite hätte man sie sonst vermieden.
Zugleich sind diese Darstellungen ein Indiz dafür, dass „Urmodelle” antiker Kultstatuen
und Weihgeschenke nach lebenden Modellen geschaffen worden sind. Darunter waren einzelne
mit solchen Besonderheiten. Nach dem Ende der Antike wurden die beschriebenen Varianten
in der Kunst späterer Zeiten nicht mehr dargestellt. Erst im 19. Jh. kommen verkürzte
Kleinzehen, abhängig von antiken Vorbildern, wieder vor bei Statuen aus der Schule
B. Thorvaldsens. Hierzu gehört z. B. die von C. Steinhäuser in Rom 1860 - 66 geschaffene
Grabstatue der Bremer Reedersgattin Luise Wätjens (Inv.-Nr. A 1337, Focke-Museum Bremen).
Die erste selbstständige künstlerische Darstellung der lateralen Nagelanordnung in
der Neuzeit ist ein Öl-„Portrait” des eigenen Fußes von A. Menzel in der Alten Nationalgalerie
zu Berlin (Abb. [4]). Eine zugehörige Zeichnung von 1894 ist im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen
Museen Berlin verwahrt (Inv.-Nr. SZ Menzel N 245).
Abb. 4 Adolph Menzel: Der Fuß des Künstlers (Ausschnitt). Alte Nationalgalerie, Berlin.
In der Medizin sind beide familiären Formvarianten der Kleinzehen nach unserer bisherigen
Kenntnis bis heute nicht beachtet worden. In Übersichts-Darstellungen (z. B. [3]
[4]) sind sie nicht erwähnt. Die Dermatologie hinkt also der bildenden Kunst um mehr
als zwei Jahrtausende hinterher in der Wahrnehmung der „Götterzehen”.