Märchen sind Teil der Kulturgeschichte. Es gibt sie in allen Kulturkreisen, sie wandern
und werden dabei verändert und doch bewahren sie in der Regel die wesentlichen Teile
ihrer Aussage. Zuweilen kommen Elemente dazu, andere werden verändert oder gehen verloren,
wohl unter dem Einfluss regionaler Eigenheiten oder „neuer Zeiten”.
Märchen sind in den neueren Werken zur Kulturgeschichte der Haut erstaunlich gering
oder nicht vertreten [1]
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[5], obschon Bezüge zur Haut mehrfach vorkommen. Diese sind, neben Phänomenen der Transplantation
und Verhinderung von Abstoßung [6], zumeist mit wundersamen Wundheilungen bis hin zur Wiedererweckung Verstorbener
verknüpft. Einige sollen hier zur Sprache kommen.
In den Kinder- und Hausmärchen, im hessischen Raume gesammelt durch die Gebrüder Grimm in den Jahren 1812 - 1818 [7], finden wir einige direkte Bezüge:
Rapunzel Nr. 12 (Bd. 1, 97 - 102)
Als der Königssohn wieder einmal Rapunzel im Turm zurief, lass dein Haar herunter,
erwartete ihn die böse Hexe, die ihn verwünschte und herunterstieß. Er fiel in Dornen,
die ihm beide Augen blendeten. Jahrelang irrte er im Wald herum, bis er Rapunzel mit
ihren Zwillingen antraf, die seine Stimme erkannte. Weinend umarmte sie ihn und zwei
Tränen benetzten die blinden Augen, welche daraufhin wieder klar wurden. Wieder sehend
führte er sie in sein Reich und sie lebten noch lange und glücklich.
Mitleidige Tränen vermögen verletzungsbedingt blinde Augen wieder sehend zu machen.
Tränen zur funktionellen Restitution von Narben.
Der treue Johannes Nr. 6 (Bd. 1, 64 - 72)
Ein König ließ seinen treuen Diener Johannes zu Unrecht zum Tode verurteilen. Dieser
fiel, nachdem er dem König seine Treue bezeugt, vor dem Galgen um und ward zu Stein.
Dem reuigen König wurde die Wiedererweckung des unschuldigen Johannes geboten, wenn
er die Köpfe seiner beiden Söhne eigenhändig abschlage und den steinernen Johannes
mit deren Blut bestrich. Der wiedererweckte Johannes belohnte nun seinerseits den
König, setzte die Köpfe der Kinder auf den Hals und bestrich die Wunden mit ihrem
Blut. Diese wurden narbenfrei heil, sie spielten und sprangen herum, als wäre nichts
geschehen.
Das eigene Blut von unschuldig getöteten und geköpften Menschen vermag Köpfe wieder
anwachsen zu lassen und Leben zu geben. Blut zur Wundheilung und als Lebenselexier.
Die drei Schlangenblätter Nr. 16 (Bd. 1, 121 - 126)
Ein junger König wurde mit seiner früh verstorbenen Gattin im Grabgewölbe eingemauert.
Er zerteilte mit seinem Schwert eine nahende Schlange. Eine zweite Schlange kam, versehen
mit drei grünen Blättern. Sie legte auf jede Schnittstelle ein Blatt und die wieder
heile Schlange entfernte sich, narbenfrei zusammengefügt, mit der zweiten. Die drei
Blätter blieben zurück. Der König versuchte nun seinerseits deren Anwendung und legte
je ein Blatt seiner verstorbenen Gattin auf die Augen und den Mund. Sie kam wieder
zum Leben und beide wurden gesund aus der Grabkammer befreit. Der König gab die drei
wundersamen Schlangenblätter seinem treuen Diener zur Verwahrung. Die Königin aber
veränderte sich und alle Liebe zu ihrem Mann wich ihr aus dem Herzen. Bei einer Seefahrt
zum Besuch des alten Königs erfasste sie eine böse Neigung zum Schiffer. Zusammen
warfen sie den schlafenden König ins Wasser, wo er ertrank. Der treue Diener aber
folgte in einem kleinen Kahn, fischte den leblosen König aus dem Wasser und brachte
ihn mit Hilfe der drei Schlangenblätter, den Augen und dem Mund aufgelegt, wieder
zum Leben. Beim alten König wurde die Schandtat bekannt und die Mörder erfuhren gerechte
Strafe.
Drei von Schlangen beigebrachte grüne Blätter vermögen zerteilte Schlangen zu restituieren
und, Mund und Augen aufgelegt, unschuldig Getötete wieder zum Leben zu erwecken. Blätter
zur Wundheilung und als Lebenselixier.
Eine gewisse Analogie zeigt sich im Märchen Gevatter Tod aus der Märchensammlung aus dem Thüringerland von Ludwig Bechstein [8], zusammengetragen 1835 - 1888, in welchem auch ein Lebenselixier vorkommt; ein sehr
armer Mann suchte für sein jüngstes, das 13. Kind, einen Paten. Den lieben Gott schlug
er, ebenso wie den Teufel, aus und akzeptierte schließlich Gevatter Tod als Taufpaten.
Dieser schenkte dem Heranwachsenden als Patengeschenk das „rechte wahre Heilkraut”,
er soll ein Doktor über allen Doktoren werden. Dazu sprach er: „Verwende es, wenn
du zu einem Kranken gerufen wirst, nur dann zur Heilung, wenn du mich zu Häupten des
Kranken siehst. Siehst du mich zu Füssen, so ist ihm nicht zu helfen und du sollst
ihm nicht vom Kraut geben. Brauchst du das Heilkraut aber gegen meinen Willen, so
wird es dir übel ergehen.” Der Jüngling ging in die Welt und verfuhr wie geheißen,
er wurde weit herum berühmt als Arzt. Ein todkranker König rief ihn und versprach
ihm hohen Lohn für Heilung. Er sah die reizende Königstochter zu Häupten, den Tod
aber zu Füssen stehen. Flugs ließ er den König umdrehen, verabreichte ihm Tropfen
vom Heilkraut und der König wurde gerettet. Der betrogene Tod aber wich und drohte
seinem Patensohn. Dieser aber entbrannte in Liebe zur Königtochter, die bald darauf
selber schwer erkrankte. Herbeigerufen fand er den Tod wiederum zu Füssen stehen und
verzweifelte, zumal der Tod sich nicht erweichen ließ. Erneut ergriff er seine List;
ließ das Lager der Königtochter umdrehen, gab ihr vom Heilkraut und sie genas. Der
Tod aber ließ sich nicht zweimal hintergehen, nahm den Patensohn mit eiskalter Hand
mit in seine Höhle, wo für jeden Menschen eine Kerze als Lebenslicht brannte. Er kriegte
sein eigenes gezeigt, das beinahe zu erlöschen drohte, und bat um Verlängerung durch
Aufstecken einer neuen Kerze. Der Tod aber löschte mit der neuen Kerze die alte, worauf
der Patensohn tot hinsank.
Ein Heilkraut als Lebenselixier, aber nur anzuwenden nach Maßgabe von Gevatter Tod.
Missbrauch wird grimmig bestraft. „Wider den Tod kein Kraut gewachsen ist!” endet
das Märchen.
Die drei Feldscherer Nr. 118 ( Bd. 2, 272 - 276)
Nachdem einer der drei herumziehenden Feldscherer seine rechte Hand als Pfand gab
und diese von der Katze gefressen wurde, war ihm die rechte Hand eines gehängten Diebes,
bestrichen mit einer heilenden Salbe, alsbald wieder angewachsen. Der mit der Diebshand
aber verspürte fortan immer, wenn er Geld sah, in der rechten Hand ein Zucken, und
einmal wurde er auch beim Zugreifen erwischt. Da ein Rücktausch nicht möglich war,
gingen die drei Feldscherer so tauschbelastet in die weite Welt.
Die geheimnisvolle Salbe stimuliert das Anwachsen und verhindert die Abstoßung [6].
Der Geist im Glas Nr. 99 (Bd. 2, 183 - 189)
Der eifrige Sohn eines armen Holzarbeiters wird beim Durchstreifen des Waldes von
einer Stimme am Fuße einer mächtigen Eiche angerufen. Er findet eine Glasflasche mit
einem froschartigen Wesen, das ihn um Befreiung bittet. Er öffnet den Pfropfen und
ein entsetzlicher Geist entsteigt der Flasche und wird riesengroß. Er droht den Jüngling
zu erdrosseln. Dieser aber verlangt den Beweis, dass der Geist wirklich der kleinen
Flasche entsprang. Nichts leichter als das, bemerkte dieser und versenkte sich wieder
gänzlich darin. Schnell verschloss der Junge die Flasche und stellte diese wieder
unter die Eiche. Nun jammerte der Geist und versprach neben Verschonen auch reichliche
Belohnung. Der mutige Junge öffnete erneut die Flasche und der befreite Geist zeigte
sich nun erkenntlich. Er reichte dem Schüler einen kleinen Lappen, ganz wie ein Pflaster,
dessen eine Seite Wunden heilt und die andere Eisen in Silber zu verwandeln vermag.
Geprüft und gut befunden, kehrte er zum Vater zurück, beglich dessen Schulden und
setzte auf der hohen Schule seine Studien fort. Nicht zuletzt dank dem Heilpflaster,
das alle Wunden heilen konnte, wurde er ein berühmter Doktor.
Heilpflaster zur Wundheilung und dessen „medizinische” Anwendung.
Das Märchen erinnert sehr an dasjenige aus „Tausendundeine Nacht” [9]:
Der Fischer, der Dämon und der versteinerte Prinz, oder in anderer Übersetzung „Der Fischer und der Geist”. Ein armer Fischer fängt
im Netz eine Flasche mit dem Siegel des biblischen König Salomon, welcher nach Eröffnung
Ifrit, ein mächtiger und drohender Geist, entsteigt (Abb. [1]). Dieser erzählt dem Fischer, dass er vor 1800 Jahren von König Salomon, dem Sohn
Davids, wegen Weigerung eines Bekenntnisses zum rechten Glauben zur Strafe in die
Flasche gebannt wurde. Jetzt endlich befreit, sagte er dem Fischer den Tod an. Den
ungläubigen Fischer zu überzeugen, zeigte der Geist, dass er wirklich aus der Flasche
kam, und wurde vom Fischer flugs wieder dort gefangen. Auch hier bat er um eine zweite
Chance, bekam diese und versprach, den Fischer reich zu belohnen. Er kündigt ihm beim
nächsten Fischzug zwei wundersame Fische an und bot jederzeit Hilfe für den Notfall.
Zwei sprechende Wunderfische fing er und brachte diese seinem König. Sie erzählten
von einem festsitzenden, sehr traurigen Prinzen, den nun König und Fischer zu suchen
sich aufmachten. Sie fanden ihn in einem isolierten Schloss, den Unterleib zu Marmor
erstarrt (eher ein Aussätziger in anderer Version), die Stadt zum See und die Bewohner
in Fische verwandelt. Der herbeigerufene Flaschengeist befreite Prinz, Stadt und Menschen,
allerdings ohne ein handgreifliches Hilfsmittel, welches auch anderweitig angewendet
werden könnte. Der teilversteinerte Prinz wird durch die Lösung vom Bann wieder gesund.
Entfernt kann man an die Wunderheilung einer Sklerodermie oder einer anderen Sklerose
der unteren Körperhälfte (Werner Syndrom?) denken. Die beiden Märchen passen zusammen,
haben aber unterschiedliche, regional geprägte äußere Umstände; Eiche da und Fischzug
dort. Während der Geist in der orientalischen Version eine einmalige Wunderheilung
bewirkt, spendet er in der deutschen Erzählung ein Wundheilpflaster zur wiederholten
Anwendung, vielen Menschen zum Nutzen und dem gelehrigen Schüler zu Ehre und medizinischem
Ansehen.
Die in der Sammlung „Tausendundeine Nacht” gefassten Erzählungen von Scheherazade [9] umfassen Geschichten und Märchen aus dem arabisch-persischen Raum, mit Wurzeln in
Indien. Sie stammen teilweise aus dem 8. Jh. n. Chr. und erfuhren erst im 16. Jh.
ihre endgültige Fassung. Schon ab dem 14. Jh. kamen einzelne Geschichten nach Italien,
Frankreich (erste Sammlungen im 18. Jh.) und weiter bis Deutschland. Dort erfuhren
sie offenbar regionale Anpassung und Modifikation, um in der Erzählsammlung (1812
- 1815) der Gebrüder Grimm aus dem hessischen Raume zu erscheinen.
In dieser Phase der mündlichen Tradierung erst ist im „Geist im Glas” das Wundheilpflaster
zum wiederholten medizinischen Gebrauch hinzugekommen. Möglicherweise kann dies als
Respektszeugnis an die auch in Europa bekannten und hochgeschätzten arabischen Universalgelehrten
wie Avicenna, Ibn Chaldun oder Maimonides gedeutet werden.
Märchen zeigen eine besonders drastische Gegenüberstellung von Gut und Böse sowie
eine eigene Darstellung erotischer Geschehen.
Gut und Böse werden extrem polar dargestellt, scharf und apodiktisch getrennt. Die Guten werden
belohnt durch langes und glückliches Leben sowie den sozialen Aufstieg; Verheiratung
mit der Prinzessin oder Hochzeit mit dem bewährt guten Helden. Die Bösen werden bestraft,
Gefangenschaft, Verbannung und Verwandlung sind die reversiblen Strafen, meist aber
wird das Leben verwirkt, und das ist irreversibel. Da es aber auch ungerecht, falsch
oder zu hart Bestrafte gibt, wird für deren Reversibilität ein zusätzliches Element
eingebracht, das wunderbare Heilkraut, das Wunden heilt, Körperteile wieder anwachsen
lässt und als Lebenselixier zum Leben wieder erweckt. Dieses wundersame Heilkraut
entstammt der pflanzlichen Natur, Phytomedizin also, ist den Menschen nicht zugänglich
und wird von einer übernatürlichen Gewalt verliehen, mit Auflagen belegt und kontrolliert.
Missbrauch wird vom Gevatter Tod nach einmaliger Mahnung mit dem Tod bestraft, das
Heilkraut verfällt und kann nicht weiter wirken. In den drei „Schlangenblättern” steht
es dem König und dessen auf Leben und Gedeih ergebenen Diener je einmalig zur Verfügung.
Eine weitere Verwertung gibt es nicht. Dies aber ist der Fall in der hessischen Version
vom „Geist im Glase”, wo dem braven Schüler das Heilkraut zur segensreichen Anwendung
der Wundheilung an die Hand gegeben wird. Auch hier erlischt das Kraut mit dem Ableben
des Trägers, eine Weitergabe entfällt und eine „Medizinschule” erwächst daraus nicht.
Es sind also die wundersamen Ziele künftiger Wundbehandlung angesprochen, die Wege
dazu aber mit keinem Gedanken erwähnt. Märchen zeigen weniger Wege in die Zukunft
als solche „nach innen”, Entwicklungen der Seele, Ausprägung von Eigenschaften, Findung
seiner selbst etc. Fundgruben der Psychologie.
Damit stehen die Märchen im Gegensatz zu den antiken Sagen, die sowohl Wege als auch
Ziele ansprechen. So im Gilgamesch-Epos, wo dem Helden die Gottgleichheit und das
ewige Leben zwar versagt, wohl aber die bleibende Wirkung und Erinnerung seiner Werke
und Taten angekündigt wird (Nachhaltigkeit). Bei den Griechen bringt Prometheus das
göttliche Feuer zu den Menschen. Er wird dafür bestraft, die Menschen aber wahren,
nützen, pflegen und wenden das Feuer an, zu Nutzen und zu Schaden.
Erotische Geschehen sind nur knapp angesprochen und sie werden verniedlicht. Dies mag dem Sprachgebrauch
und den Tabus der romantischen Zeit der Aufzeichnung entsprechen. Auffällig ist die
große Zahl vorehelicher Schwangerschaften bei den Prinzessinnen und den Gefährtinnen
der erfolgreichen und bescheidenen Helden. Dies beschäftigt die Psychologie seit hundert
Jahren.
Im 19. Jahrhundert hat die naturwissenschaftlich basierte Medizin die in den Märchen
verankerten Ziele wieder aufgenommen. Forschung und Entwicklung sind auf dem Weg zur Realisierung derselben schon weit
vorangekommen. Die Dermatologie hat dazu Wesentliches beigetragen und steht weiterhin,
ihren Part vertretend, an der Front, ausgerichtet auf Wundheilung, Organersatz in
allen Formen, Lebenserhaltung durch Substitution oder Transplantation, Regelung der
Immunkontrolle und Toleranz, Krebsbehandlung und Prävention. Zurückgegriffen wird
auch in großem Umfang auf die Phytopharmakologie und deren Schatz an wunderbaren Heilkräutern.
Forschungserfolge verzeichnen natürlich alle naturwissenschaftlichen und medizinischen
Gebiete, so auch die Frauenheilkunde, wo medizinische und pharmakologische Fortschritte,
gemeinsam mit gesellschaftlichem Wandel, dazu geführt haben, dass der antike Eros
sich heute kaum mehr zurechtfände.
Abb. 1 Geist aus der Flasche (Quelle: Isabelle Berndt, Thieme Verlag, Stuttgart)