Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2004-825249
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Multiple Sklerose - Aktuelle Diagnostik, Schubtherapie und Sekundärprophylaxe
Multiple Sclerosis - Current Strategies for Diagnosis, Therapy and ProphylaxisAnschrift für die Verfasser
Prof. Dr. P. Rieckmann
Neurologische Universitätsklinik Würzburg
Josef-Schneider-Str. 11
97080 Würzburg
Publication History
Publication Date:
30 April 2004 (online)
- Zusammenfassung
- Summary
- Diagnosekriterien
- Aktuelle Therapie
- Behandlung des akuten MS-Schubes
- Immunmodulatorische Basistherapie
- Fazit
- Literatur
Zusammenfassung
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Aufgrund der bevorzugten Erstmanifestation im jungen Erwachsenenalter verläuft die Erkrankung in vielen Fällen chronisch über Jahre und führt nicht selten zu körperlicher Behinderung, die weit reichende Folgen für Individuum und Gesellschaft nach sich zieht. Während bis vor einigen Jahren kaum Möglichkeiten für eine verlaufsmodifizierende Therapie bestanden, ermöglichte die gezielte Entwicklung immunmodulatorischer bzw. immunsuppressiver Substanzen eine rationale Behandlung auf pathophysiologischer Grundlage. Zudem führte der in jüngster Zeit nachgewiesene positive Effekt einer frühzeitigen Therapie auf den späteren Krankheitsverlauf zu einer Modifikation des Behandlungsregimes sowie der geltenden Diagnosekriterien. Heute stehen für die Behandlung der Multiplen Sklerose, insbesondere des schubförmigen Verlaufstyps, mit den Interferonen, Glatirameracetat, Azathioprin, den so genannten IVIGs (intravenöse Immunoglobuline) und Mitoxantron mehrere, nachgewiesen wirksame Präparate zur Verfügung, die nach einem Stufenschema der Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) frühzeitig und abhängig von der Krankheitsaktivität eingesetzt werden sollten.
#Summary
Multiple sclerosis (MS) is one of the most common neurological disorders in young adults. Disease course is often chronic thus leading to physical impairment with significant implications for both, individuals and society. While previous therapeutic options were rare, the development of specific immune modulating and immune suppressive agents facilitated the application of rationale treatment strategies nowadays. Furthermore, the beneficial effects of an early treatment led to modifications of therapeutic regimes and diagnostic MS criteria. For therapy of multiple sclerosis - especially for relapsing-remitting MS - one can use interferones, glatiramer acetate, azathioprine, IVIG (intravenous immunoglobulins), and mitoxantrone nowadays. All of these pharmaceuticals have shown their effectiveness in multiple sclerosis and should be used early and depending on disease-activity - within a graduated therapeutic regime.
Bei einer derzeitigen Prävalenz von etwa 120000 Patienten ist die Multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr in Deutschland. Der Krankheitsverlauf ist höchst variabel und die Prognose im Einzelfall noch immer zweifelhaft und schwer vorherzusagen. Da sich die Erkrankung bevorzugt zum ersten Mal im jungen Erwachsenenalter manifestiert und da sie chronisch verläuft, entstehen durch die Multiple Sklerose in Deutschland Krankheitskosten von ungefähr vier Milliarden Euro jährlich [7]. Der Hauptanteil entfällt dabei mit zirka 43 % auf so genannte indirekte Kosten wie Fehlzeiten durch Arbeitsunfähigkeit bzw. frühzeitige Berentung, während die Ausgaben für Krankenhausversorgung und medikamentöse Therapie lediglich rund 17 % der Gesamtsumme ausmachen (Stand 2001).
Die Ätiologie der Erkrankung ist bis heute unklar. Zu beobachten ist ein (auto)immunologisch vermittelter, entzündlich-demyelinisierender Prozess im zentralen Nervensystem (ZNS), der teilweise früh von einer axonalen Schädigung begleitet wird ([Abb. 2], [3], [4], [5]). Neuere histologische Untersuchungen an Autopsiegewebe belegen die ausgesprochene Heterogenität in den Entmarkungsmustern verschiedener Patienten und postulieren unterschiedliche pathologisch voneinander abgrenzbare MS-Unterformen [9].
#Diagnosekriterien
Die ursprüngliche conditio sine qua non zur Diagnosestellung einer gesicherten Multiplen Sklerose war deren klinisch nachweisbare, örtliche und zeitliche Dissemination. Die Diagnose wurde demzufolge erst dann gestellt, wenn mindestens zwei schubförmige Ereignisse in neuroanatomisch unterschiedlicher Lokalisation im zentralen Nervensystem aufgetreten waren, die sich auf einen entzündlichen Prozess zurückführen ließen und mindestens vier Wochen auseinander lagen.
Zu Beginn der 80er Jahre gewann die differenzierte Liquoruntersuchung zunehmend an Bedeutung, und die Ergebnisse der Zusatzdiagnostik wurden als so genannte „paraklinische Befunde” in die Diagnosestellung mit einbezogen und als Poser-Kriterien formuliert [13]. Auch diese ermöglichten es allerdings nicht, bereits nach dem ersten Krankheitsschub eine Multiple Sklerose sicher zu diagnostizieren. Allerdings konnte die Eingrenzung über die Begriffe einer „laborunterstützt sicheren” bzw. „laborunterstützt wahrscheinlichen” Multiplen Sklerose die diagnostische Treffsicherheit hinsichtlich einer sich später entwickelnden definitiven MS bereits deutlich verbessern.
Dieses Konzept wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Erst vor gut zwei Jahren wurden die „Neuen Diagnostischen MS-Kriterien” nach McDonald formuliert und veröffentlicht [10], die auch den prädiktiven Wert früher MRT-Veränderungen berücksichtigen [Tab. 1]. Dies änderte allerdings nichts daran, dass die oben genannten „konservativen” Kriterien grundsätzlich noch gelten. Nach wie vor kann also die Diagnose einer Multiplen Sklerose rein klinisch gestellt werden, wenn eine örtliche und zeitliche Dissemination nachgewiesen ist. Eine wesentliche Neuerung ist jedoch, dass paraklinische Befunde aus dem Magnetresonanztomogramm und der Elektrophysiologie klinische Ereignisse ersetzen können [Tab. 1].
Neben der exakten Definition pathologischer MRT-Kriterien bei der Multiplen Sklerose ist nun der Nachweis einer zeitlichen Dissemination alleine mithilfe wiederholter MRT-Untersuchungen im Abstand von mindestens drei Monaten möglich, wenn in dem besagten Zeitraum neue Herdläsionen im T2-gewichteten Bild bzw. zusätzliche Gadolinium anreichernde Herde in den T1-Bildern nachzuweisen sind. Demnach erlauben die aktuellen McDonald-Diagnosekriterien unter bestimmten Voraussetzungen eine definitive Sicherung der Diagnose nach nur einem Schub, wodurch die Zeitspanne bis zum Einleiten einer immunmodulatorischen Sekundärprophylaxe verkürzt und dem Patienten frühzeitig eine verlässliche Diagnose mitgeteilt werden kann.
Ein weiterer wichtiger prognostischer Parameter scheint sich mit der Bestimmung von Antikörpern gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Protein (MOG) bzw. gegen das basische Myelin-Protein (MBP) zu eröffnen. So ist zum Beispiel das Risiko für Patienten nach einem ersten MS-verdächtigen Symptom an einer definitiven Multiplen Sklerose zu erkranken, deutlich höher, wenn Anti-MOG-Antikörper nachgewiesen werden können. Im Vergleich zu seronegativen Patienten erhöht sich ihr Risiko um das 32-Fache. Sind die Patienten nicht nur Anti-MOG- sondern auch Anti-MBP-positiv steigt das Risiko sogar auf das 76-Fache [2]. Das Zeitintervall bis zum Auftreten des zweiten Schubes war bei antikörpernegativen Patienten signifikant verlängert bei einer insgesamt geringeren Läsionslast in der Magnetresonanztomografie.
#Aktuelle Therapie
Das therapeutische Vorgehen bei der Multiplen Sklerose unterscheidet prinzipiell die Akuttherapie des MS-Schubes sowie eine immunmodulatorische bzw. immunsuppressive Langzeitprophylaxe mit dem Ziel, die Progression der Erkrankung zu verzögern. Hinzu kommt die symptomatische Behandlung der mannigfaltigen Krankheitssymptome (z.B. Spastik, Blasenstörung, Ataxie).
In den letzten Jahren hat sich das therapeutische Vorgehen gewandelt: Heute setzt man auf eine frühzeitigere, den Krankheitsverlauf günstig beeinflussende Immunmodulation. Dies beruht nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass organisch bedingte Minderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit und ein unter Umständen bereits zu Beginn der Erkrankung einsetzender axonaler Schaden die voranschreitende und dauerhafte Behinderung des Patienten entscheidend bestimmen.
Dieser Entwicklung tragen die Ausführungen der Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) Rechnung [11], welche der Durchführung einer immunmodulatorischen Stufentherapie mit entsprechenden Eskalations- und Deeskalationsschritten eine zentrale Rolle zuweisen [Abb. 1].
#Behandlung des akuten MS-Schubes
Definitionsgemäß umfasst ein „Schub” das plötzliche Auftreten neuer bzw. eine Verschlechterung bestehender neurologischer Symptome über einen Zeitraum von mindestens 24 Stunden. Mehrere schubförmige Exazerbationen innerhalb von vier Wochen gelten als ein Ereignis. Zuvor müssen kurzzeitige Fluktuationen im Krankheitsverlauf bzw. transiente Ausfälle - beispielsweise durch eine Erhöhung der Umgebungstemperatur (Uhthoff-Phänomen) - als Ursache ebenso ausgeschlossen worden sein, wie infektassoziierte Verschlechterungen bzw. Fieber.
Als Standard der Schubbehandlung gilt heute die intravenös zu verabreichende, hoch dosierte Glukokortikoidtherapie (bevorzugt Methylprednisolon), die sich in einer Studie zur Optikusneuritis gegenüber der oralen Gabe signifikant überlegen gezeigt hat [1]. Das Methylprednisolon wird dabei nach Ausschluss eines Infekts als morgendliche Kurzinfusion in einer Dosis von 1000 mg über drei bis fünf Tage gegeben.
Besonders zu beachten sind Nebenwirkungen am Magen-Darm-Trakt, mögliche psychotrope Effekte, eine gesteigerte Thromboseneigung und Blutzuckerentgleisungen (Cave: Diabetiker!), weshalb eine initiale Kortison-Stoßtherapie unter stationären Bedingungen sinnvoll erscheint. Für eine orale Ausschleichphase spricht vor allem die Tatsache, dass einige Patienten nach Beendigung der Pulstherapie ohne orale Weiterbehandlung einen Rückfall erleiden. Eine iatrogene Suppression der Nebennierenrindenfunktion dagegen spielt aufgrund des kurzen Anwendungszeitraumes (bis zu zwei Wochen) keine Rolle.
Vorrangige Therapieziele sind die zeitliche Verkürzung und die Verminderung der Schwere des aktuellen Schubes. Ob repetitive Anwendungen auch die Krankheitsprogression verzögern können, ist derzeit noch nicht eindeutig geklärt. Sprechen die Patienten auch auf die zweimalige Steroid-Pulstherapie nicht an und zeigen sie schwere residuale Ausfallerscheinungen, kann eine Plasmapheresebehandlung in etwa 40-50 % der Fälle eine Besserung erzielen, falls die Therapie innerhalb von vier bis sechs Wochen nach Schubbeginn erfolgt [16].
#Immunmodulatorische Basistherapie
Beim schubförmigen Verlaufstyp oder auch bereits nach dem ersten MS-verdächtigen Symptom mit entsprechender paraklinischer Krankheitsaktivität sind als Mittel der ersten Wahl rekombinante Beta-Interferone bzw. Glatirameracetat anzuwenden [Abb. 1], so die Empfehlung der MSTKG - der Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe [11].
#Interferone
Interferone (IFN) sind körpereigene Glykoproteine mit antiproliferativen und immunmodulatorischen Eigenschaften. In der Behandlung der schubförmigen bzw. sekundär chronisch-progrdienten Multiplen Sklerose kommen gentechnisch in Bakterien (IFNbeta-1b) bzw. Säugetierzellen (IFNbeta-1a) hergestellte Interferone zur Anwendung. Allen gemeinsam ist die Applikation via intramuskulärer bzw. subkutaner Injektion.
Mögliche Wirkmechanismen der Beta-Interferone beruhen auf einer Antagonisierung des proinflammatorischen und schubfördernden Zytokins IFN-gamma, einer „Abdichtung” der Blut-Hirn-Schranke für autoreaktive T-Lymphozyten sowie einer Modulation der Immunantwort in Richtung Entzündungshemmung. Die häufigsten Nebenwirkungen sind grippeartige Symptome mit subfebriler Körpertemperatur und lokale Reaktionen an der Injektionsstelle. Durch eine frühzeitige, unter Umständen prophylaktische Gabe von fiebersenkenden Medikamenten sowie eine saubere Injektionstechnik mit wechselnden Injektionsstellen und ausreichender Kühlung kann diesen unerwünschten Reaktionen meist begegnet werden.
Alle drei auf dem Markt befindlichen IFN-beta-Substanzen konnten in großen kontrollierten Therapiestudien (Evidenzgrad I) ihre Wirksamkeit bei der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose dokumentieren. Alle Präparate reduzierten in diesen Studien die Schubrate signifikant (um bis zu 35 %). Gleichzeitig wurde kernspintomografisch - in Form von Gadolinium aufnehmenden Herden - eine Abnahme der nachweisbaren Krankheitsaktivität um bis zu 80 % dokumentiert. Hierbei ist von Bedeutung, dass die MRT-Effekte bereits innerhalb eines Monats nach Therapiebeginn nachzuweisen sind.
In Hinblick auf die geeignete Interferondosis, Applikationsform und Injektionsfrequenz konnten zwei kürzlich veröffentliche direkte Vergleichsstudien eine gewisse Überlegenheit höher frequenter und höher dosierter Interferon-Injektionen aufzeigen [5] [12]. Dabei ist jedoch kritisch anzumerken, dass bei der EVIDENCE[1]-Studie der untersuchte Zeitraum für den primären Endpunkt (Auftreten neuer Schübe) mit 24 Wochen sehr kurz war. Zudem ließ sich in den weiteren Verlaufsbeobachtungen (48 und 72 Wochen) keine weitere Zunahme des Effektes durch Rebif® (dreimal 44 μg/Woche) beobachten. In einer weiteren Studie, die Betaseron/Betaferon® und Avonex® verglich (INCOMIN[2]), zeigte sich dagegen erst nach sechs Monaten ein signifikanter Unterschied in der Schubfrequenz zugunsten der Interferon-beta-1b-Formulierung. Problematisch an dieser Studie war zudem die fehlende Verblindung von Arzt und Patient.
Die Entscheidung für ein bestimmtes Präparat sollte deshalb neben seinen klinischen Effekten auch die für den Patienten wichtigen Aspekte der Handhabung (Kühlung der Substanzen, Fertigspritzen), Injektionstechnik (intramuskulär oder subkutan) und mögliche Nebenwirkungen berücksichtigen. Dies ist gerade im Hinblick auf die Therapietreue der Patienten innerhalb des ersten Jahres nach Therapiebeginn wichtig. Denn diese hängt in besonderem Maße von der initialen Patienteninformation, dem Management der Nebenwirkungen und engmaschigen Kontrolluntersuchungen ab.
In der Behandlung der sekundär chronisch-progredient verlaufenden Multiplen Sklerose scheinen Interferone besonders bei noch vorhandener Entzündungs- und Schubaktivität wirksam zu sein. Die Ansprechraten scheinen bei dieser Verlaufsform jedoch insgesamt niedriger zu liegen, daher muss in vielen Fällen eine frühzeitige Therapieeskalation auf Mitoxantron erwogen werden.
#Glatirameracetat
Glatirameracetat (GLAT) ist ein synthetisches Polymerisat aus vier Aminosäuren - L-Glutaminsäure, L-Lysin, L-Alanin und L-Thyrosin -, welche im fertigen Präparat in einem zufälligen molekularen Mischungsverhältnis vorhanden sind. Seine Wirksamkeit scheint unter anderem auf der Induktion glatirameracetatspezifischer, protektiver T-Zellen zu beruhen, die vermehrt antiinflammatorische Zytokine produzieren. Dies wiederum führt zu einer Abschwächung des Entzündungsprozesses. Die Applikation erfolgt mittels täglicher s.c.-Injektionen in einer Dosis von 20 mg.
Systemische Nebenwirkungen mit grippeartigen Symptomen und Fieber sind im Gegensatz zu den Interferonen nicht relevant. Allerdings kommt es bei ungefähr 90 % der Patienten zu milden lokalen Injektionsreaktionen mit Rötung, Schwellung und Gewebsinduration, die im Verlauf der Therapie jedoch in den allermeisten Fällen nachlassen.
Die europäische MRT-Studie aus dem Jahr 1999 erbrachte eine 35 %ige Reduktion neuer gadoliniumpositiver Herde sowie 33 % weniger Schübe über einen Zeitraum von neun Monaten [3]. Zudem war die Umwandlung neuer kernspintomografischer Läsionen in so genannte „black holes”, die als bildmorphologisches Korrelat einer irreversiblen axonalen Schädigung zu werten sind, signifikant vermindert.
#Azathioprin
Das Purinanalogon Azathioprin (Imurek®) wirkt schwach zytostatisch und wird schon seit langem zur Behandlung autoimmunologisch vermittelter Erkrankungen eingesetzt. Mehrere kleinere Doppelblindstudien mit zum Teil heterogenen Patientenpopulationen, unterschiedlichem Design und Ergebnis wurden in einer großen Metaanalyse zusammengefasst, die einen gewissen Wert für die Schubreduktion nach längeren Behandlungszeiträumen zeigen konnte [17].
Daher kommt Azathioprin als Mittel der zweiten Wahl vor allem bei den Patienten infrage, die eine Dauertherapie mit Interferonen aufgrund von Nebenwirkungen bzw. den notwendigen Selbstinjektionen nicht tolerieren, oder bei denen die Differenzialdiagnose einer Vaskulitis bzw. Neurosarkoidose nicht eindeutig geklärt werden konnte bzw. wenn begleitende Autoimmunerkrankungen vorliegen. Patienten, die unter einer Therapie über viele Jahre stabil sind, müssen nicht ohne zwingenden Grund auf ein anderes Präparat umgestellt werden [11].
Häufigste Nebenwirkungen der Azathioprintherapie sind gastrointestinale Beschwerden, eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte sowie Veränderungen des Blutbildes und der Leberenzyme. Aufgrund des nach mehr als zehnjähriger Therapiedauer statistisch leicht erhöhten Lymphomrisikos [4] sollte nach Überschreiten dieses Zeitraumes eine Umstellung der Therapie erwogen werden. Zumindest aber sind engmaschige internistisch-hämatologische Kontrolluntersuchungen zu veranlassen, zudem muss der Patient entsprechend aufgeklärt werden. Außerdem muss unter der Therapie aufgrund der möglichen Teratogenität eine sichere Kontrazeption gewährleistet sein.
#Immunglobuline
Aufgrund ihrer immunmodulatorischen Eigenschaften bei Autoimmunerkrankungen und systemischen Entzündungen werden polyvalente 7S-Immunglobuline erfolgreich eingesetzt, sie werden intravenös verabreicht (IVIG). Potenzielle Wirkmechanismen sind die Blockade von Komplement und Fc-Rezeptoren - also den Rezeptoren, welche die konstante Region (Fc) der Antikörper mitsamt den daran gebundenen Antigenen binden - sowie eine Verminderung der Produktion proinflammatorischer Zytokine.
Die derzeitige Studienlage hinsichtlich einer generellen Wirksamkeit dieser Substanzen bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose ist jedoch uneinheitlich. Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass sich die in den einzelnen Protokollen verabreichten Dosierungen bzw. die Applikationsintervalle zum Teil erheblich unterscheiden [6] [14]. Eine kürzlich erschienene Meta-Analyse bisheriger IVIG-Studien kommt zu dem Ergebnis, dass in allen Untersuchungen gleichsinnig signifikante Therapieeffekte (Reduktion von Schubrate und MRT-Veränderungen) erreicht werden konnten [15]. Im Gegensatz dazu steht jedoch eine neuere IVIG-Studie, die in allen primären Endpunkten (Krankheitsprogression, Schubrate und MRT-Parameter) negativ verlaufen ist und zur Verunsicherung beim Einsatz von IVIG beigetragen hat.
Derzeit läuft eine große Dosisvergleichsstudie, bei der Patienten mit schubförmig verlaufender Multipler Sklerose intravenöse Immunglobuline erhalten. Noch gelten diese Substanzen - aufgrund der noch eingeschränkten Datenlage - als Mittel der zweiten Wahl bei schubförmiger Multipler Sklerose oder bei Unverträglichkeit bzw. Kontraindikationen der zu injizierenden Präparate [11].
#Mitoxantron
Schreitet eine Multiple Sklerose unter den genannten Basistherapeutika weiter voran, kommt als eskalierende Therapie vermehrt das Zytostatikum Mitoxantron zum Einsatz [Abb. 1]. Ihre Wirksamkeit bei schubförmiger und sekundär chronisch-progredienter Multipler Sklerose hat die Substanz in einer großen randomisierten, plazebokontrollierten und untersuchergeblindeten Studie belegt [8]. Dabei sollte eine Mitoxantrontherapie insbesondere bei Patienten mit einem hoch aktiven Krankheitsverlauf (mehr als zwei Schübe pro Jahr) bzw. rascher Progression (mehr als einen EDSS[3]-Punkt pro Jahr) erwogen werden. Seine Wirkung entfaltet das synthetisch hergestellte Anthracendion unter anderem über eine vermehrte Apoptose autoreaktiver T-Zellen sowie über eine verminderte Produktion von Autoantikörpern.
Die Therapie erfolgt als intravenöse Kurzinfusion in dreimonatigen Abständen. Die initiale Dosierung von 12 mg/m2 Körperoberfläche kann dabei nach zwölf Monaten bei nachgewiesener Stabilisierung auf 5 mg/m2 reduziert werden [11]. Bei guter Verträglichkeit der Erstinfusion unter stationären Bedingungen kann die Behandlung im Allgemeinen ambulant in den Händen eines in der Chemotherapie erfahrenen Arztes weitergeführt werden.
Limitierendes Element der Therapie ist die aufgrund einer möglichen dilatativen Kardiomyopathie zu beachtende kumulative Gesamtdosis von 140 mg/m2 Körperoberfläche. Daher sind der Ausschluss kardialer Vorerkrankungen sowie ein sorgfältiges kardiologisches Monitoring einschließlich regelmäßiger Echokardiografien in mindestens jährlichen Abständen obligat. Die gastrointestinale Verträglichkeit des Medikaments ist im Vergleich zu anderen Chemotherapeutika gut. Mögliche Nebenwirkungen lassen sich mit einer begleitenden antiemetischen Therapie weitest gehend vermeiden.
Die Blutbildveränderungen (Abfall der Leukozyten), die unter der Therapie mit Mitoxantron zu beobachten sind, sind reversibel und therapeutisch gewünscht. Zielwert sind 2000-3000 Leukozyten/μl 10-14 Tage nach der Infusion. Ansonsten müssen in den ersten vier Wochen nach der Infusion regelmäßige Kontrollen der Leber- und Nierenretentionswerte erfolgen. Zudem sollten - nicht zuletzt aus forensischen Gesichtspunkten - männliche MS-Kranke auf die Möglichkeit einer Samenspende vor Therapiebeginn hingewiesen werden, da die Therapie unter Umständen die Spermienmotilität beeinträchtigen kann. Eine suffiziente Kontrazeption unter der Behandlung ist unbedingt erforderlich.
#Fazit
Zusammenfassend stehen für die Behandlung der Multiplen Sklerose, insbesondere des schubförmigen Verlaufstyps, derzeit mehrere nachgewiesen wirksame Präparate zur Verfügung. Diese sollten frühzeitig und abhängig von der Krankheitsaktivität nach dem erwähnten Stufenschema der MSTKG eingesetzt werden. Die zukünftigen Herausforderungen liegen insbesondere in der Weiterentwicklung der gängigen Therapieschemata zum Beispiel in Form von Kombinationstherapien auf pathophysiologisch rationaler Grundlage, Erhöhung des Patientenkomforts durch möglicherweise oral zu verabreichende Formulierungen sowie in der Überwindung der noch immer eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten des primär chronisch-progredienten Verlauftyps.

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6
klinisch (Schübe) |
objektive Läsionen |
zusätzliche Bedingungen |
≥ 2 |
≥ 2 |
keine |
≥ 2 |
1 |
örtliche Dissemination im MRT oder positiver Liquor und mindestens zwei MS-charakteristische Läsionen im MRT oder ein weiterer klinischer Schub in anderer ZNS-Lokalisation |
1 |
≥ 2 |
zeitliche Dissemination im MRT oder zweiter klinischer Schub |
1 |
1 |
örtliche Dissemination im MRT oder positiver Liquor und mindestens zwei MS-charakteristische Läsionen im MRT + zeitliche Dissemination im MRT oder zweiter klinischer Schub |
0 (primär progredient) |
positiver Liquor + örtliche Dissemination belegt durch mindestens neun T2-Läsionen im kraniellen MRT oder mindestens zwei spinale Läsionen oder vier bis acht kranielle und eine spinale Läsion + zeitliche Dissemination im MRT oder kontinuierliche Progression länger als ein Jahr |
Literatur
- 1 Beck RW, Cleary PA, Anderson Jr MM. et al. . N Engl J Med. 1992; 326 581-588
- 2 Berger T, Rubner P, Schautzer F. et al. . N Engl J Med. 2003; 349 139-145
- 3 Comi G, Filippi M. et al. . Neurology. 1999; 52
- 4 Confavreux C, Saddier P, Grimaud J. et al. . Neurology. 1996; 46 1607-1612
- 5 Durelli L, Verdun E, Barbero P. et al. . Lancet. 2002; 359 1453-1460
- 6 Fazekas F, Deisenhammer F, Strasser-Fuchs S. et al. . Lancet. 1997; 349 589-593
- 7 Flachenecker P, Rieckmann P. Drugs. 2003; 63 1525-1533
- 8 Hartung HP, Gonsette R, Konig N. et al. . Lancet. 2002; 360 2018-2025
- 9 Lucchinetti C, Brück W, Parisi J. et al. . Ann Neurol. 2000; 47 707-717
- 10 McDonald WI, Compston A, Edan G. et al. . Ann Neurol. 2001; 50 121-127
- 11 Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG). . Nervenarzt. 2001; 72 150-157
- 12 Panitch H, Goodin DS. et al. . Neurology. 2002; 59 1496-1506
- 13 Poser C, Paty D, Scheinberg L. et al. . Ann Neurol. 1983; 13 227-231
- 14 Soerensen PS, Wanscher B, Jensen CV. et al. . Neurology. 1998; 50 1273-1281
- 15 Soerensen PS, Fazekas F, Lee M.. Eur J Neurol. 2002; 9 557-563
- 16 Weinshenker BG, O'Brien PC, Pettersen TM. et al. . Ann Neurol. 1999; 46 878-886
- 17 Yudkin PL, Ellison GW, Ghezzi A. et al. . Lancet. 1991; 338 1051-1055
1 evidence for interferon dose-effect: european-north american comparative efficacy study
2 independent comparison of interferons
3 expanded disability status score
#Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. P. Rieckmann
Neurologische Universitätsklinik Würzburg
Josef-Schneider-Str. 11
97080 Würzburg
Literatur
- 1 Beck RW, Cleary PA, Anderson Jr MM. et al. . N Engl J Med. 1992; 326 581-588
- 2 Berger T, Rubner P, Schautzer F. et al. . N Engl J Med. 2003; 349 139-145
- 3 Comi G, Filippi M. et al. . Neurology. 1999; 52
- 4 Confavreux C, Saddier P, Grimaud J. et al. . Neurology. 1996; 46 1607-1612
- 5 Durelli L, Verdun E, Barbero P. et al. . Lancet. 2002; 359 1453-1460
- 6 Fazekas F, Deisenhammer F, Strasser-Fuchs S. et al. . Lancet. 1997; 349 589-593
- 7 Flachenecker P, Rieckmann P. Drugs. 2003; 63 1525-1533
- 8 Hartung HP, Gonsette R, Konig N. et al. . Lancet. 2002; 360 2018-2025
- 9 Lucchinetti C, Brück W, Parisi J. et al. . Ann Neurol. 2000; 47 707-717
- 10 McDonald WI, Compston A, Edan G. et al. . Ann Neurol. 2001; 50 121-127
- 11 Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG). . Nervenarzt. 2001; 72 150-157
- 12 Panitch H, Goodin DS. et al. . Neurology. 2002; 59 1496-1506
- 13 Poser C, Paty D, Scheinberg L. et al. . Ann Neurol. 1983; 13 227-231
- 14 Soerensen PS, Wanscher B, Jensen CV. et al. . Neurology. 1998; 50 1273-1281
- 15 Soerensen PS, Fazekas F, Lee M.. Eur J Neurol. 2002; 9 557-563
- 16 Weinshenker BG, O'Brien PC, Pettersen TM. et al. . Ann Neurol. 1999; 46 878-886
- 17 Yudkin PL, Ellison GW, Ghezzi A. et al. . Lancet. 1991; 338 1051-1055
1 evidence for interferon dose-effect: european-north american comparative efficacy study
2 independent comparison of interferons
3 expanded disability status score
#Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. P. Rieckmann
Neurologische Universitätsklinik Würzburg
Josef-Schneider-Str. 11
97080 Würzburg

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6