Hodenkrebs ist zwar insgesamt recht selten, bei jüngeren Männern jedoch eine der häufigsten
Neoplasien. Die wichtigsten Risikofaktoren wie etwa Kryptorchismus sind hinreichend
bekannt, doch gibt es bisher kaum Literatur darüber, welchen Einfluss die Ernährung
hat.
In Kanada gibt es das National Enhanced Cancer Surveillance System (NECSS), eine große,
bevölkerungsbasierte Fall-Kontroll-Studie für 19 Tumorarten mit insgesamt 20 755 Patienten
und 5039 Kontrollen. M. J. Garner et al. suchten die Fälle mit malignen Hodentumoren
(n = 686) aus und ordneten ihnen 744 Kontrollen zu (Int J Cancer 2003; 106: 934-941).
Die Teilnehmer bekamen zwischen 2 und 5 Monate nach Diagnosestellung einen Fragebogen
zugesandt, in dem neben allgemeinen Angaben auch 69 Fragen zur Ernährungsweise in
den vergangenen 2 Jahren gestellt wurden.
Käse, Kekse und Kuchen zeigen negativen Einfluss
Je mehr Molkereiprodukte die Studien- teilnehmer gegessen hatten, desto höher war
das Risiko, an einem malignen Hodentumor zu erkranken. Käse zeigte hier die stärkste
Assoziation. Auch der Verzehr von Frühstücksfleisch, also etwa Würstchen oder Speck,
ging mit einem erhöhten Risiko einher, nicht dagegen der Konsum anderer Fleischsorten.
Backwaren wie Kuchen oder Kekse zeigten ebenfalls einen negativen Einfluss. Der Trend,
dass bestimmte Nahrungsmittel das Krebsrisiko beeinflussten, war bei den nichtseminomatösen
Tumoren besonders ausgeprägt. Keinen Effekt auf das Risiko für Hodentumoren zeigte
das Rauchen.
Die Autoren folgern, dass der vermehrte Verzehr bestimmter Gruppen von Nahrungsmitteln
mit einem erhöhten Risiko für maligne Hodentumoren einhergeht. Eine signifikante Assoziation
zeigten in dieser Studie Molkereiprodukte, Frühstücksfleisch und Backwaren.
Dr. Johannes Weiß, Bad Kissingen
Kommentar
Das Auftreten von Hodenkrebs wird möglicherweise durch vermehrten Käsekonsum gefördert.
Außerdem ist wohl der vermehrte Verzehr von Tafelfleisch und Backwaren sowie eine
insgesamt erhöhte Kalorienzufuhr mit erhöhtem Hodenkrebs-Risiko verbunden.
Diese spektakulären Ergebnisse kann man der Arbeit von Garner et al. entnehmen. Die
Daten sind faszinierend, weil sie zumindest partiell ein bisher unerklärtes Phänomen
erklären könnten: das Nord- Süd-Gefälle der Hodentumor-Inzidenz. Die Länder Dänemark,
Deutschland und die Schweiz weisen im Unterschied zu den südeuropäischen und anderen
Ländern die höchste Inzidenz dieser Tumorentität auf. Interessanterweise weisen eben
diese Nord-Länder einen sehr hohen Pro-Kopf-Konsum von Käse auf. Die Daten der Garner-Arbeit
bestätigen auch die Ergebnisse früherer Autoren, die ebenfalls einen Zusammenhang
zwischen Molkereiprodukten und Hodenkrebs-Risiko postuliert hatten.
Leider zeigt aber die genauere Lektüre der Arbeit, dass die Schlussfolgerungen doch
mit großer Vorsicht interpretiert werden müssen. Die Assoziation mit Tafelfleisch
ist nur sehr schwach signifikant (OR 1,49; 95 % Konfidenzintervall 1,01 - 2,19) und
darüber hinaus uneinheitlich für die Tumorsubtypen Seminom und Nichtseminom. Ähnliches
gilt für die Assoziation mit Backwaren. Die Garner-Arbeit bietet auch keine biologische
Erklärung für den Zusammenhang mit Fleischwaren und Backprodukten. Aufgrund der Vielzahl
der in der Arbeit geprüften Verknüpfungen erhebt sich hier also die Frage, ob die
Assoziationen nicht doch zufällige Ergebnisse aufgrund eines vielfachen Suchansatzes
sind ("multiple testing").
Die Idee, dass die Ernährung bei der Hodenkrebs-Pathogenese mitwirkt, bleibt vorerst
ein interessanter aber spekulativer Gedanke.
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Bei der Detailbeschreibung der Methodik erfährt der Leser, dass die Befragung lediglich
die Ernährungsgewohnheiten der letzten 2 Jahre vor Einschluss in die Studie erfasst
hat. Diese Beschränkung ist erstaunlich im Hinblick auf die gegenwärtig favorisierte
Pathogenese-Theorie der Hodentumoren. In dieser aktuellen Theorie wird eine Bahnung
der Keimzelltumorgenese bereits während der Embryonalentwicklung postuliert. In dieser
Zeit sollen die Vorläuferzellen der Hodentumoren, die TIN-(testikuläre intraepitheliale
Neoplasie)Zellen aufgrund eines Östrogenübergewichtes aus den Urkeimzellen gebildet
werden. Für diese Theorie gibt es zahlreiche indirekte Beweise. Die in der Garner-Arbeit
analysierte Ernährung der letzten 2 Jahre vor Studieneinschluss wäre kaum oder nur
sehr mühevoll in diese Theorie einzubinden. Grundsätzlich erscheint es zwar durchaus
möglich, dass langjährige spezifische Ernährungsgewohnheiten einer Krebserkrankung
Vorschub leisten können. Jedoch ist es schwer vorstellbar, wie solche chronischen
und subtilen Nahrungseinflüsse bei einer Krebserkrankung des jungen Erwachsenenalters,
wie etwa bei Hodenkrebs, pathogenetisch in Funktion treten können.
Noch eine weitere Schwäche weist die Garner-Arbeit auf: Das Kontrollkollektiv ist
deutlich älter als das Tumorkollektiv. 18,7 % der Kontrollpersonen aber nur 4,7 %
der Tumorpatienten waren über 50 Jahre alt. Bekanntlich sind gerade Ernährungsgewohnheiten
stark altersabhängig. Somit muss eine erhebliche Verzerrung der Ergebnisse ("confounding")
durch diese Ungleichheit von Kontrollen und Patienten unterstellt werden. Dieser methodische
Makel wirft daher einen weiteren Schatten auf die Validität der Ergebnisse der Publikation.
Auch nach der Garner-Arbeit bleibt die Rolle der Ernährung für die Hodentumor-Pathogenese
im Dunkeln. Dabei wäre die Idee nahliegend, dass Essgewohnheiten, wie etwa die totale
Kalorienzufuhr doch pathogenetisch bedeutsam sein könnten. Für eine solche Annahme
spricht beispielsweise die weltweit ständig zunehmende Inzidenz der Erkrankung. Allerdings
wäre das Einwirken der Ernährung - wenn überhaupt - nicht erst in der Zeit kurz vor
der klinischen Tumormanifestation vorstellbar. Die sehr widersprüchlichen Ergebnisse
von Body-mass-Untersuchungen bei Hodentumor-Patienten belegen die fehlende Bedeutung
der aktuellen Ernährungssituation im zeitlichen Umfeld der Tumorerkrankung. Vorstellbar
wäre dagegen ein Einfluss von Nahrungsbesonderheiten in der Kindheit. In dieser Zeit
könnten die während der Embryonalzeit zuvor entstandenen Vorläuferzellen gewissermaßen
unter dem katalytischen Einfluss der Ernährung endgültig zur onkogenen Entwicklung
programmiert werden.
Allerdings stoßen wir an diesem Punkt auf wissenschaftlich-methodische Probleme, denn
retrospektiv - etwa in Fallkontroll-Studien - ist die Ernährung im Kindesalter kaum
untersuchbar. Hier ist man auf indirekte Hinweiszeichen, sog. Surrogat-Parameter angewiesen.
Ein solcher Parameter ist die endgültige Körpergröße, die einerseits von genetischen
Faktoren, aber auch sehr stark von der Kalorienzufuhr im Kindesalter abhängt. Vergleichende
Untersuchungen der Körpergröße bei Hodenkrebs-Patienten und gesunden Kontrollpersonen
gibt es bereits. Interessanterweise scheint sich dabei tatsächlich ein Zusammenhang
anzudeuten und zwar in dem Sinne, dass Hodenkrebs vornehmlich die großen ("langen")
Männer befällt. Zurzeit läuft eine bundesweite AUO-geförderte Untersuchung ("KM/HT-Studie"),
bei der ein Zusammenhang zwischen Körpergröße und Hodenkrebs-Risiko an einem sehr
großen Patientenkollektiv untersucht wird. Die Ergebnisse sind im Jahr 2005 zu erwarten.
Prof. Dr. Klaus-Peter Dieckmann