DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2004; 2(02): 30
DOI: 10.1055/s-2004-818849
History
History
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co.KG Stuttgart

The spotted monster

Christian Hartmann
Ammerseestr. 52, 82396 Pähl
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 June 2004 (online)

Bereits vor über 3000 Jahren gab es Berichte in Ägypten, Indien und China über die verheerende Wirkung der Pockeninfektion (Syn.: Variola, Blattern, „The Spotted Monster“). In Europa finden sich erste Beschreibungen im Canon Medicinae des Avicennus (1135-1185).[1] Die Seuche wird dort bereits fast schon „ganzheitlich“ als ansteckende Krankheit beschrieben, die nur Menschen einer bestimmten Konstitution erfasst.[2]

Man schätzt, dass die Variola 1700-1880 allein in Europa und Amerika 40 Mio. Kinder dahinraffte. Auch Beschreibungen, sich vor Pocken zu schützen, datieren weit zurück. Vom Einblasen getrockneter Blatternpusteln im alten China bis hin zum Einbringen infizierten Materials in die Haut (Inokulation) im mittelalterlichen Arabien ist alles zu finden. Das Grundprinzip der Impfung schien den einfachen Menschen also bereits bekannt gewesen zu sein. So auch einigen englischen Milchbauern im 18. Jh. Um ihren Betrieb am Laufen zu halten, infizierten sie ihr Melkpersonal mit der milderen Kuhpockenform. Danach schienen sie immun gegen Menschenpocken zu sein. Dem englischen Landarzt Edward Jenner gebührt die Ehre, das medizinische Potenzial dieses "Bauerntricks" erkannt, in kontrollierten Versuchen nachgestellt und 1798 veröffentlicht zu haben.[3] Die Immunisierung durch die nun als "Vakzination" (vacca = Kuh) bezeichnete Methode erklärte er mit der Verwandtschaft beider Erreger, wobei die humane Form seiner Meinung nach beim Übergang vom Menschen auf die Kuh eine abschwächende Mutation durchmachte.

Zoom Image
Edward Jenner, 1749-1823[6]

Still’s Alternative

Die verheerenden Pockenepidemien führten zur raschen Verbreitung der Vakzination. Historische Fakten, wie etwa die Seuchenregister Londons, belegen allerdings ein komplettes Versagen der neuen Impfmethode. Zudem berichten zahlreiche zeitgenössische Ärzte von verheerenden Nebenwirkungen. So auch Andrew Taylor Still:

"Wenn man in Städte geht, wo die strengsten Regelungen herrschen, welche die Menschen zur Impfung zwingen, wird man feststellen, dass es dort ebenso viel Pocken oder mehr gibt als in den Städten, wo es überhaupt keine Impfung gibt… Die Furcht vor Krankheit und Tod durch Impfung lässt die Menschen zögern, einen Impfstoff durch militärische Gewalt in die Arme von Kindern oder älteren Leuten spritzen zu lassen." Und weiter: "Ich möchte nicht im Geringsten gegen die Bemühungen Jenners hetzen. Ich denke, sie waren gut, aber ich glaube wirklich, dass effektivere und ungefährlichere Substanzen verwendet werden können als die fauligen Verbindungen von Pocken." [4] Stills Alternative: "Ich glaube, wir befinden uns auf der sicheren Seite, wenn wir ausgedehntere Experimente mit Pocken und ihrer Bekämpfung durch Cantharidin [5] oder irgendeine andere Substanz, die ein ansteckendes Fieber verursacht, machen. Wenn wir ein ansteckendes Fieber haben, erfasst dieses Fieber den ganzen Körper und hält ihn unter Kontrolle, bis es sein Werk vollendet hat." [4]

Hier zog Still der Idee einer Kreuzimmunisierung also einen eher homöopathischen Denkansatz vor.


#

Moderne Virologie

Still hatte zudem eine genaue Vorstellung der Pathophysiologie. Sämtliche Erreger gelangen demnach über schlecht versorgte Lungen in das Blutsystem und von dort in die Zellen, in denen es nach Vermischung der Flüssigkeiten zu einer Art "Explosion" kommt. Dies führt zu einer Veränderung der Blutkörperchen und der krankhafte Prozess gelangt über das Lymphsystem in den Faszien schließlich zur Haut. Modern ausgedrückt: Einnistung des Pockenvirus in die Zellkern-DNA nach hämatogener Streuung, Virus-Replizierung bis zum Zerfall der Zellmembran, Immunantwort durch freigesetzte Zellbestandteile mit konsekutiver Hautreaktion. So erklärt sich auch Stills osteopathischer Behandlungsansatz: "Deshalb müssen wir zur Bekämpfung dieser Krankheit die Nerven auswählen, die mit der Reizwahrnehmung, Bewegung, Ernährung und den willentlichen und unwillentlichen Kräften der Lungen zu tun haben." Hier irrt Still in einem zentralen Punkt, denn bei Variola handelt es sich um keine Tröpfcheninfektion. Sein Behandlungsansatz muss daher durchaus kritisch bewertet werden. Damit teilt er ungewollt das Schicksal seines Kollegen Edward Jenner, denn heute weiß man: Kuh- und Menschenpocken sind jeweils eigenständige Virusstämme. Eine Kreuzimmunisierung ist somit ausgeschlossen.


#
 
  • 1 Wittmann J.. Pest, Pocken und Masern im Lateinischen Canon Medicinae des Avicennae. Diss. TU München, Eigenverlag 1994: 1-2
  • 2 Alpago Andrea. Canon Medicinae des Avicennae. Lib. 4, Fen. 1, Trac. 4, Cap. 6. Basel 1556: 807-807
  • 3 Jenner E.. An inquiry into the causes and effects of the Variolae vaccinae, a disease discovered in some of the western counties of England, particulary Gloucestshire, and known by the name Cowpox. Lond. 1798. Dtsch. Übers. v. Ballhorn. Hannover 1798
  • 4 Das große Still-Kompendium. JOLANDOS, Pähl 2002: 441