DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2004; 2(02): 26
DOI: 10.1055/s-2004-818846
Focus
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Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co.KG Stuttgart

Osteopathie auf der Intensivstation

Roger Seider
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Publication Date:
01 July 2004 (online)

Die osteopathische Begleitung einer intensivmedizinischen Pflege ist allen Patienten zu wünschen. In der Praxis zeigen sich jedoch selbst unter optimalen Bedingungen Probleme, die man kennen sollte, bevor man sich als Therapeut auf dieses Abenteuer in einer anderen Welt einlässt.

Anna-Lena kam wegen einer Gastroschisis per Sektio zur Welt. Mit 19 Monaten war sie bereits 7 Mal operiert (u.a. Darmresektionen und Anlage und Rückverlagerung eines Anus praeternaturalis). Auch die Ileozäkalklappe war entfernt worden, weshalb sie unter dauerantibiotischer Therapie stand. Nach 13 Monaten Intensivstation war sie nun zu Hause. Die Nieren funktionierten nicht richtig und sie wurde per Magensonde ernährt. Häufig erbrach sie.

Nach Manipulation von L 4, Beginn eines schichtweisen Narbenrelease und Mobilisation der Leber musste sie nicht mehr erbrechen und konnte etwas Flüssigkeit zu sich nehmen. Zwei weitere Behandlungen folgten.

6 Wochen später erfolgte eine Cholezystektomie, nach der der Organismus mit Lungenödem, Darm-, Leber- und Nierenversagen, sowie einer schweren Hyperbilirubinämie entgleiste. Die intensivmedizinischen Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Auf Bitten der Eltern und Rat der Kinderärztin stimmten die Intensivmediziner einer osteopathischen Mitbehandlung zu.

Osteopathische Begleitung

Das vordringlichste Problem war, die allgemeine Flüssigkeitsstase zu beseitigen. Für die Oxygenierung des Körpers wurde erst der linke Lungen-Unterlappen entstaut. Um die zentral verbesserte Zirkulation in das Abdomen zu führen, folgte eine Lymphdrainage der Leber.

Die Konzentration auf wenige Techniken war wichtig, um den Körper nicht zu überfordern. Das Mädchen wurde fast täglich behandelt. Befunde und Behandlungsschwerpunkte wurden in der Kurve der Intensivstation vermerkt und mit Eltern, Pflegepersonal und Ärzten besprochen. Die Kommunikation war äußerst wichtig, auch um Vertrauen zu schaffen.

In der 2. Behandlung wurden neben der Fissura horizontalis der rechten Lunge und der Leber auch beide Nieren drainiert. Dann wurde das gesamte Darmpaket in Bezug zur Leber eingestellt, um das Portalsystem zu entspannen.

Am nächsten Morgen kam es zu einer für den Oberarzt paradoxen Reaktion: die bisher zu niedrigen Leukozyten stiegen steil an, während das CRP absank. Die niedrigen Thrombozyten normalisierten sich. Aus osteopathischer Sicht war dies die Antwort auf die bessere Durchblutung der schwer geschädigten Därme. Nach wenigen Tagen normalisierten sich die Werte.

Eine ähnliche Situation ergab sich später mit den Pankreaswerten, die dann wieder absanken. Bei allen Beteiligten kam Hoffnung auf.

Nach der 9. Behandlung kam es aber ohne ersichtlichen Grund zu einem weiteren Anstieg des Bilirubins auf Werte um 30mg/dl. Osteopathisch wurde versucht, das galleableitende System zu entspannen. In der Nacht fiel der Blutdruck dramatisch ab mit systolischen Werten um 50 mm Hg, was nur über intravenös verabreichte Katecholamine zu beherrschen war. Als Ursache favorisierten die Ärzte eine Pilzsepsis, während aus osteopathischer Sicht die vorherige Entspannung der Leber möglicherweise ein Toxindepot mobilisiert hatte. Nun liefen ständig Perfusoren und Transfusionen.

Eine gastrointestinale Blutung konnte nach zwei Tagen zum Stehen gebracht werden. Der Gesamtzustand von Anna-Lena erholte sich nach der Blutdruckkrise aber nicht mehr. Das Bilirubin stieg weiter an und die Funktion der Nieren wurde schlechter. Ihr Körper reagierte weiterhin auf osteopathische Behandlungen, aber der strukturelle Schaden der Organe war zu groß. Schließlich verstarb das Mädchen.


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Schlussfolgerungen

  • Der menschliche Körper beantwortet ganzheitliche therapeutische Stimuli, solange er lebt. Erfahren zu können, wie sehr dies trotz versagender Organe zutrifft, war ein sehr bewegendes Erlebnis.

  • Die Gedankenwelten von Intensivmedizinern und Osteopathen unterscheiden sich stark. Aussagen über die Palpierbarkeit von Vitalität und die Genauigkeit der Palpationsbefunde muten Klinikern fremd an. Hier kann nur eine technische Überprüfung überzeugen.

  • Die Kommunikation zwischen osteopathischer und herkömmlicher Medizin erfordert von osteopathischer Seite, sich auf technische Daten, Diskussionen über Physiologie und ggf. auch über Medikamente einzulassen. Zur Verantwortung, die man bei einer begleitenden Behandlung übernimmt, gehören regelmäßige Besuche, Erreichbarkeit für Rücksprachen und die Dokumentation von Befunden und Behandlungen.

  • Die osteopathische Mitbehandlung auf der Intensivstation ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Im Fall der kleinen Anna-Lena waren die Zusammenarbeit von gegenseitigem Respekt und Wohlwollen geprägt. So ist auch dies eine Möglichkeit, der Osteopathie im allgemeinen medizinischen Bewusstsein den Weg zu ebnen.>


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