Der aktuelle Stellenwert der Geburtseinleitung geht aus den Perinatalstatistiken hervor,
nach denen in Deutschland 12 - 16 % aller Geburten eingeleitet werden, an Kliniken
mit hoher risikobezogener Zuweisungspraxis beträgt diese Rate bis zu 25 %. Trotz sinkender
Geburtenzahlen der letzten Jahre hat die Häufigkeit an Geburtseinleitungen stetig
zugenommen.
Demnach ist die Geburtseinleitung eine der häufigsten ärztlich indizierten Maßnahmen,
die vom Geburtshelfer Verantwortungsbewusstsein verlangt, im Spannungsfeld zwischen
dem medizinisch Notwendigen und von der Schwangeren Akzeptierten, darüber hinaus geburtshilfliche
Erfahrung in einem nicht selten zeitlichen Wettlauf zwischen der Dynamik der zugrunde
liegenden Schwangerschaftspathologie und der Dynamik einleitungsinduzierter Geburtsvorgänge
mit dem Ziel einer vaginalen Geburt und die schließlich das Selbstbestimmungsrecht
der Schwangeren zu berücksichtigen hat in einer Zeit zunehmender Einflussnahme der
Betroffenen auf die Wahl des Entbindungsmodus.
Die jüngste Diskussion um den Kaiserschnitt auf Verlangen hat eine neue Entwicklung
vorbereitet, bei der die Geburtseinleitung - entgegen traditioneller Auffassung -
nicht mehr nur eine rein medizinisch zu begründende Entscheidung des Arztes darstellt,
sondern durch die auch die Renaissance der „programmierten Geburt“ mit umgekehrten
Vorzeichen im Sinne der Geburtseinleitung auf Wunsch der Schwangeren möglich geworden
ist. Analysiert man die Indikationen zur Geburtseinleitung aus jüngsten Multizenterstudien,
so fällt auf, dass die klassischen Einleitungsindikationen wie Terminüberschreitung/Übertragung
und der vorzeitige Blasensprung anteilsmäßig zurückgegangen sind und zunehmend „gemischte“
Indikationen in den Vordergrund treten, bei denen neben einer „weichen“ medizinischen
Begründung individuelle persönliche Belange der Schwangeren berücksichtigt werden.
Eine vergleichbare Entwicklung ging auch dem Kaiserschnitt auf Verlangen voraus, da
sich schon vor dessen Einführung hinter so genannten Sammelindikationen oder subjektiv
formulierten Indikationen wie mangelnder Geburtsfortschritt eine Ausweitung der ursprünglich
strengen medizinischen Indikationen zum Kaiserschnitt verbarg, die häufig dem Wunsch
der Schwangeren und/oder ihres Geburtshelfers entsprachen.
Die Zunahme der Geburtseinleitungen spiegelt aber auch einen anderen Paradigmenwechsel
heutiger Geburtshilfe wider. Während sich die traditionelle Schwangerenvorsorge in
ihrer geburtshilflichen Entscheidungsfindung an aktuellen Krankheitssymptomen und
Schwangerschaftskomplikationen orientierte und darauf reagierte, steht heute die möglichst
frühzeitige Diagnostik von Risikofaktoren und das Antizipieren potenzieller Schwangerschaftskomplikationen
im Vordergrund mit dem Ziel, möglichst schon ab dem ersten (zweiten) Trimenon Schwangere
einer Low- oder High-risk-Gruppe zuzuordnen oder die Unbedenklichkeit des weiteren
Schwangerschaftsverlaufes zu attestieren. Auf diese Entwicklung hat vor kurzem P.
Husslein eindrucksvoll aufmerksam gemacht.
Die Konsequenz ist eine individualisierte und risikoadaptierte Überwachung der Schwangerschaft,
die im Fall einer High-risk-Konstellation schon vor dem Termin die Frage nach dem
Modus der Schwangerschaftsbeendigung aufkommen lässt, sei es im Sinne einer elektiven
Sectio, sei es durch die Terminierung der Schwangerschaft mittels Geburtseinleitung
und zwar zu einem für Mutter und Kind optimalen Zeitpunkt.
Das Ziel des Geburtshelfers ist es, durch dieses aktive Vorgehen ein besseres perinatales
Ergebnis für Mutter und Kind zu erreichen im Gegensatz zu einer abwartenden Haltung.
Mit der medikamentösen Geburtseinleitung hat man in diesem Zusammenhang die Chance
Schwangeren, die dieses Vorgehen favorisieren, eine vaginale Geburtsbeendigung zu
ermöglichen und sie nicht mit dem möglichen Trauma eines Kaiserschnittes und dessen
Folgen zu belasten, was diese Schwangeren eigentlich vermeiden möchten.
Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass eine lang dauernde, frustrane Geburtseinleitung
mit Wehentätigkeit über viele Stunden, in denen die Schwangere auf eine vaginale Geburt
hofft, die dann aber doch in einer notfallmäßigen Sectio endet, die psychisch belastendste
und komplikationsreichste Variante jeder Geburt darstellt. Die Frustration der Schwangeren
kann eine nicht zu unterschätzende „Komplikation“ der Geburtseinleitung darstellen,
insbesondere dann, wenn die Schwangere - unzureichend über die mögliche Dauer der
Geburtseinleitung aufgeklärt - durch die medikamentösen Maßnahmen einen „raschen Behandlungserfolg“
erwartet. Wenn dieser aber nach wiederholten Applikationen für die Patientin erkennbar
ausbleibt, verlangt sie infolge physischer und psychischer Erschöpfung - nicht selten
auch beeinflusst durch die Erwartungshaltung und durch die Sorgen des Partners um
Mutter und Kind - oft relativ früh nach einer sekundären Sectio. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass bei bis zu 50 % der Geburtseinleitungen eine unreife Zervix vorliegt, aber auch,
dass es in diesen Fällen z. B. nach vaginaler PGE2-Anwendung durch die erste Applikation
„nur“ in 50 - 55 % der Fälle zu geburtsauslösenden Wehen kommt.
Daher ist und bleibt die Geburtseinleitung eine auf die individuelle Situation der
Schwangeren bezogene Entscheidung, die neben Geduld und Einfühlungsvermögen vom Geburtshelfer
zumindest schwerpunktmäßige Kenntnisse der themenbezogenen Literatur verlangt (siehe
unten), vor allem aber die Fähigkeit, im Hinblick auf die Schwangerschaftspathologie
und deren Dynamik den Nutzen der Geburtseinleitung richtig einzuschätzen!
Daher ist vor jeder Geburtseinleitung eine individuelle Risiko-Nutzen-Analyse unerlässlich,
die der Schwangeren in einem ausführlichen Gespräch transparent gemacht werden sollte,
und die den Schweregrad der Erkrankung, die Dynamik des Krankheitsverlaufes sowie
die uteroplazentare Leistungsreserve in adäquater Weise berücksichtigen muss, aber
auch die einleitungsspezifischen Probleme, die bestehenden Kontraindikationen, iatrogene
Pathologie durch medikamentös induzierte uterine Überstimulierungen und konkomitierende
Herztondezelerationen sowie den Einleitungserfolg nicht außer Acht lassen darf.
Am Ende des gemeinsamen Entscheidungsprozesses sollte immer eine klar definierte und
im Krankenblatt protokollierte Indikation zur Geburtseinleitung stehen, wobei die
Dringlichkeit der Schwangerschaftsbeendigung das geburtshilfliche Vorgehen bestimmt.
Vor allem bei unreifer Zervix, Nulliparität, terminferner Schwangerschaft und progredient
erscheinendem Krankheitsverlauf ist immer kritisch zu prüfen, ob nicht die Schwangerschaftsbeendigung
durch Sectio caesarea der oft hinsichtlich des Erfolges schwer abschätzbaren und lang
dauernden Geburtseinleitung vorzuziehen ist. Bei Geburtseinleitungen vor dem Termin
müssen die Reife des Kindes, die Dringlichkeit der Einleitungsindikation, die Therapierbarkeit
der Grunderkrankung (z. B. Präeklampsie), das Befinden des Kindes in utero und darüber
hinaus die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Ansprechbarkeit von Uterus und
Zervix auf Prostaglandine und Oxytocin und damit der Einleitungserfolg entscheidend
vom Gestationsalter (Reife der Zervix, Sensitivität des Myometriums auf Uterotonika)
abhängen.
Die heute im Allgemeinen gut informierte Schwangere verlangt von ihrem Geburtshelfer
aber nicht nur eine nachvollziehbare und sorgfältige Risiko-Nutzen-Analyse, sondern
auch auf ihre individuelle Situation/Indikation bezogene gesicherte Erkenntnisse aus
der Literatur im Sinne der Evidence-based Medicine. Trotz unüberschaubarer Literatur
zum Thema Prostaglandine und Geburtseinleitung sind bis heute auf validierten Daten
bestehende Leitlinien zur Geburtseinleitung hinsichtlich Indikationen und Methoden
nicht publiziert. So bestehen einerseits die Empfehlungen der ACOG, bei unkomplizierter
Terminüberschreitung bis zur 43. SSW abzuwarten, andererseits müssen die Analyse von
Rand et al. (2000) sowie die vergleichenden Untersuchungen von Cotzias und Tregger
(2000) berücksichtigt werden, nach denen aufgrund der steigenden Zahl perinataler
Todesfälle (u. a. 4 - 7/1000 bis zur 42. SSW, 2 - 3/1000 bis zur 40. SSW, IUFT-Rate
bei Terminüberschreitung um das 6fache erhöht) die Geburt in der 41. SSW eingeleitet
werden sollte. Diese Auffassung wird allerdings vom National Institute of Child Health
and Human Development Network for Maternal Fetal Medicine Units (1994) nicht geteilt.
Insgesamt 4 randomisierte kontrollierte Studien bei Terminüberschreitung zeigten zwischen
einer PG-induzierten Geburtseinleitung und einem expektativem Vorgehen Vorteile zugunsten
des aktiven Vorgehens hinsichtlich der Geburtsdauer, der Sectiofrequenz und der Rate
operativer Entbindungen aufgrund eines pathologischen CTGs sowie hinsichtlich der
Behandlungskosten, nicht aber hinsichtlich des „neonatal outcome“.
Bei vorzeitigem Blasensprung, dessen Management hinsichtlich der Geburtseinleitung
von Klinik zu Klinik stark variiert (Einleitung 6 - 8 - 12 - 24 Stunden nach Blasensprung)
ergab sich aus 4 randomisierten Studien bei aktivem Vorgehen nur eine Verminderung
des Blasensprung-Entbindungsintervalls und eine Reduzierung der Geburtsdauer, allerdings
keine Beeinflussung der mütterlichen und kindlichen Morbidität oder der Rate an abdominalen
Schnittentbindungen.
Auch die Geburtseinleitung bei fetaler Makrosomie (sonographisch geschätztes Geburtsgewicht
> 4000 g) zeigte in 3 randomisierten Studien keine Vorteile der Geburtseinleitung
im Vergleich zu einem expektativen Vorgehen hinsichtlich der Rate an Schulterdystokien
und Plexusläsionen sowie neonataler Morbidität, wohl aber eine Erhöhung der Sectiorate
nach Geburtseinleitung.
Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, wie problematisch der Effizienznachweis der
Geburtseinleitung im Hinblick auf Evidence-based Medicine-validierte Daten ist. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass die randomisierte Analyse von 150 000 Frauen mit Terminüberschreitung
notwendig ist, um tatsächliche Unterschiede z. B. hinsichtlich der perinatalen Mortalität
zwischen Geburtseinleitung und abwartendem Verhalten aufzuzeigen, Studien, die in
praxi wohl kaum durchführbar sind. Ähnlich sind die Zahlen bei vorzeitigem Blasensprung,
um tatsächlich den Vorteil einer Geburtseinleitung im Vergleich zu einem abwartenden
Verhalten hinsichtlich der Vermeidung eines Amnioninfektionssyndroms und nachfolgender
mütterlicher und neonataler Komplikationen (z. B. febrile Morbidität) beweiskräftig
zu belegen.
Auch die Vorteile der Geburtseinleitung bei chronischer Plazentainsuffizienz mit intrauteriner
Wachstumsrestriktion oder bei hypertensiven Schwangerschaftskomplikationen sind nicht
durch ausreichend umfangreiche, randomisierte Studien bestätigt. In diesen Fällen
folgt der Geburtshelfer i. A. seinen klinischen Erfahrungen, dass durch eine rechtzeitig
indizierte Geburtseinleitung unter optimalen Überwachungsbedingungen der zeitliche
Wettlauf zwischen Schwangerschaftspathologie und Einleitungserfolg zugunsten einer
vaginalen Geburt mit gutem „perinatal outcome“ für Mutter und Kind zu gewinnen ist,
eine Entscheidung, die ebenfalls einer kritischen Einzelfallanalyse bedarf. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass sich die Hypothese aus den 60er-Jahren, die Geburt sei
bei Präeklampsie infolge erhöhter Uterussensitivität leichter einzuleiten, durch neuere
Studien nicht bestätigen ließ. Im Gegenteil, die Geburtseinleitung bei Präeklampsie
zeigte im Vergleich zu einem abwartenden Verhalten eine vierfach höhere Rate an Einleitungsversagern
und eine zweifach höhere Kaiserschnittfrequenz (Xenakis et al., Obstet Gynecol 1997;
89: 600 - 603).
Nicht zuletzt besteht für den Geburtshelfer im klinischen Alltag oft ein nicht unerhebliches
paramedizinisches Spannungsfeld, einerseits verursacht durch die steigende Ungeduld
der Schwangeren und ihres Partners, vor allem bei belästigenden Beschwerden, oder
geprägt durch die vom Arzt nicht zu kompensierende Angst vor einer Schädigung des
Kindes bei dessen Verbleiben in utero, andererseits hervorgerufen durch die Sorge
des Geburtshelfers um eine evtl. Gefährdung des Kindes und möglicher rechtlicher Konsequenzen
im Schadensfall. In diesem Zusammenhang ist unübersehbar, dass unterlassene, fehlindizierte,
verspätete oder mit Komplikationen behaftete Geburtseinleitungen in jüngster Zeit
zunehmend zu medikolegalen Auseinandersetzungen geführt haben.
Dies betrifft auch die medikamentöse Geburtseinleitung bei Zustand nach Sectio. Dabei
gilt vor allem die Anwendung von Prostaglandinen wegen der Gefahr der Uterusruptur
als relative Kontraindikation (3 mg Prostaglandin-E2-Vaginaltablette), als Anwendungsbeschränkung
(1 mg und 2 mg PGE2-Vaginalgel, 0,5 mg PGE2-Intrazervikalgel) oder sogar als Kontraindikation
(Propess®, 10 mg PGE2-Vaginalinsert); andererseits liegen aber umfangreiche klinische
Erfahrungen vor, dass unter Einhaltung optimaler Überwachungsmodalitäten die Uterusrupturrate
nach PGE2-Geburtseinleitung nicht signifikant höher liegt als ohne Geburtseinleitung,
zuletzt publiziert von Flamm et al. (1997) in einer Multizenterstudie (Uterusrupturrate
1,3 % mit PGE2, 0,7 % ohne Geburtseinleitung). Auch in unseren Kliniken wurde über
viele Jahre bei Zustand nach Sectio erfolgreich mit Prostaglandinen eingeleitet, ohne
dass wir eine erhöhte Uterusrupturrate verzeichnen mussten. Den statistisch unanfechtbaren
Beweis müssen wir aber weiterhin schuldig bleiben.
Eine viel beachtete, aber kritisch beurteilte, retrospektive Kohortenanalyse von M.
Lydon-Rochelle et al. (N Engl J Med 2001; 345: 3 - 8) hat die Diskussion zum Thema
neu entfacht, da die Rate an Uterusrupturen nach prostaglandininduzierter Geburtseinleitung
mit 24,5/1000 Entbindungen deutlich höher lag als nach erneuter Sectio mit 1,6/1000
und nach Abwarten spontaner Wehen mit 5,2/1000. Die Kritik an dieser Studie richtete
sich vor allem auf die Tatsache, dass die Diagnose Uterusruptur nicht über Einzelfallanalysen
der Krankenakten vorgenommen wurde. Auch eine vergleichende Analyse von Ravasia et
al., publiziert im Am J Obstet Gynecol 2000; 182: 176 - 179, kam zu dem Ergebnis erhöhter
Uterusrupturraten nach prostaglandininduzierter Geburtseinleitung. Deshalb warnt eine
nachfolgende Publikation des ACOG Committee on Obstetric Practice 2002 vor einer Erhöhung
der Uterusrupturrate nach PG-induzierter Geburtseinleitung und verlangt deshalb eine
eindeutig definierte Indikation zur Geburtseinleitung mit Prostaglandinen, wobei die
Patientinnen auf das erhöhte Rupturrisiko nach Prostaglandineinleitung aufmerksam
gemacht werden und dieser Sachverhalt auch in der Krankenakte dokumentiert werden
sollte!
Der Geburtshelfer ist daher gut beraten, dieser Auffassung nachzukommen. In praxi
bedeutet dies, die Schwangere mit dem erhöhten Risiko einer Uterusruptur nach PG-Einleitung
zu konfrontieren und ihr konsequenterweise und, wie von namhaften Protagonisten der
Geburtshilfe gefordert, eine Resectio als Alternative anzubieten. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass der Zustand nach Sectio heute in ca. 30 % der Fälle, Haupt- oder Zusatzindikation
für einen erneuten Kaiserschnitt darstellt. Damit erlebt das Anfang der 20er-Jahre
von dem Amerikaner Cragin (1916) aufgestellte Postulat „Once a cesarean, always a
cesarean“, das die geburtshilfliche Praxis nahezu 70 Jahre geprägt hat und das noch
bis vor kurzem im Rahmen von „Sectiosparprogrammen“ als überholt galt, eine nicht
geahnte Renaissance. Dies trifft dann vor allem für Patientinnen zu, bei denen der
Geburtshelfer bei Zustand nach Sectio eine Geburtseinleitung für indiziert hält, gilt
aber wohl auch im Rahmen der Diskussion um den Kaiserschnitt auf Wunsch generell,
wie die tägliche Praxis zeigt.
Keineswegs konfliktärmer ist die gegenwärtige Diskussion um die Methoden zur Geburtseinleitung,
auch wenn die Anwendungsmöglichkeiten für Prostaglandine zur Geburtseinleitung durch
die Zulassungsrichtlinien des Bundesamtes für Arzneimittelsicherheit in Deutschland
klar vorgegeben sind. Diese Diskussion betrifft nicht die zugelassenen Anwendungsformen,
sondern vor allem den Einsatz von Misoprostol, ein oral wirksames PGE1-Analogon, das
seit 1986 unter dem Namen Cytotec® zur Prophylaxe und Therapie von Gastroduodenalulzera
zugelassen, in der Schwangerschaft aber offiziell kontraindiziert ist; relevante Nebenwirkungen
- wie gelegentlich bei der Anwendung nativer Prostaglandine - auf Bronchien und Gefäße
sollen bei Misoprostol nicht bestehen. Seit 1992 wurde in über 130 Publikationen auf
die gute Wirksamkeit oral und vaginal applizierten Misoprostols bei der Geburtseinleitung
hingewiesen (z. B. 25 µg alle 4 Stunden vaginal), die zum Teil den konventionellen
PGE2-Präparaten signifikant überlegen ist (Übersicht bei Blanchard et al., Obstet
Gynecol 2002; 99: 316 - 322). Weitere Vorteile des Misoprostols sind die geringe Thermoempfindlichkeit
(keine Kühlkette erforderlich), die Stabilität bei Licht und vor allem die niedrigen
Kosten (z. B. eine 200-µg-Tablette Misoprostol kostet 0,30 Euro, eine Fertigspritze
PGE2-Intrazervikalgel 26 Euro). Vor dem Hintergrund immer knapper werdender finanzieller
Ressourcen dürfte es vor allem die Kostenersparnis beim Einsatz von Misoprostol sein,
die dieses PGE-Analogon für den gynäkologisch-geburtshilflichen Einsatz so interessant
macht. Immerhin berechnete J. M. Wenderlein vor kurzem (Frauenarzt 2003; 44: 1124)
für die Ulmer Universitäts-Frauenklinik mit jährlich ca. 2200 Geburten durch den Wechsel
von PGE2-Vaginalgel auf Misoprostol in der Geburtsmedizin eine Kostenreduktion von
mehr als 20 000 Euro und bezeichnete dies als zeitgemäßen Beitrag des Frauenarztes
zur Senkung der Arzneimittelkosten. Inzwischen befürworten auch zahlreiche internationale
Gesellschaften (u. a. ACOG, British Medical Association, WHO) den Einsatz von Misoprostol
in der Schwangerschaft, insbesondere auch zur Geburtseinleitung bei begründeten Indikationen
und unter adäquater Anwendung. Aufgrund des günstigen Kosten-Nutzen-Profils wird auch
in Deutschland Misoprostol in vielen geburtshilflichen Kliniken eingesetzt. Eine ausführliche
Übersicht zum Thema findet sich unter anderem im Frauenarzt 2003; 44: 154 ff. und
882 ff. Einigkeit besteht darin, dass Misoprostol bei Zustand nach Sectio aufgrund
der deutlich erhöhten Rate an Uterusrupturen kontraindiziert ist. Uneinigkeit aber
besteht darüber, ob nun Misoprostol unter Berücksichtigung arzneimittelrechtlicher
Gesichtspunkte zur Geburtseinleitung eingesetzt werden darf oder nicht, ein Dilemma,
welches in anderen Ländern offenbar unkonventioneller gelöst wird, in unserem Land
aber - „deutschen Tugenden entsprechend“ - akribischer, gründlicher und langwieriger
diskutiert wird, ohne dass derzeit eine Lösung in greifbarer Nähe wäre. Grundsätzlich
obliegt es der Herstellerfirma gemäß Arzneimittelgesetz die Zulassung von Misoprostol
zur Anwendung in der Schwangerschaft nach Durchführung aller pharmakologisch-toxikologischer
und klinischer Untersuchungen in einem ordentlichen Zulassungsverfahren zu beantragen.
Aus unterschiedlichen Gründen ist aber davon auszugehen, dass dies nicht der Fall
sein wird, so dass der Einsatz von Misoprostol auch weiterhin mit dem „Stigma“ der
nicht zugelassenen Anwendung behaftet bleiben wird. Diese Off-label-use-Situation
hat zur Verunsicherung und zu einer Polarisierung der Meinungen geführt. Einerseits
kann Misoprostol unter Einhaltung der Standards und Berücksichtigung der gegenwärtigen
Forschungsergebnisse im Sinne der Therapiefreiheit des Arztes eingesetzt werden. Dies
wird gestützt durch ein Urteil des Bundessozialgerichtes vom März 2003, nach dem es
in der Verantwortung des Arztes liegt, auf dem Markt befindliche Arzneimittel zulassungsüberschreitend
(entgegen den Zulassungsempfehlungen?) therapeutisch zu nutzen. Andererseits besteht
die Auffassung, Misoprostol im Rahmen des Arzneimittelgesetzes außerhalb einer zugelassenen
Indikation nur im Rahmen eines therapeutischen Versuches bzw. einer probatorischen
Heilbehandlung oder im Sinne der klinischen Erprobung anzuwenden. Man könnte unserer
Meinung nach als therapeutischen Versuch geltend machen, wenn die Geburtseinleitung
mit hierfür zugelassenen Präparaten frustran verläuft.
Die klinische Erprobung im Sinne des Arzneimittelgesetzes bezieht sich auf die Anwendung
des Medikaments im Rahmen von klar definierten Studien.
Die Anwender von Misoprostol beziehen sich auf die ausgedehnten klinischen Erfahrungen
im Umgang mit Misoprostol, publiziert in zahlreichen, gut dokumentierten Studien.
Die für eine geburtshilflich-gynäkologische Indikationserweiterung geeigneten und
sonst üblichen Zulassungsstudien der entsprechenden Phasen fehlen allerdings für Misoprostol.
Es besteht also die eigenartige Situation, dass ein Medikament unter stiller Duldung
der sonst so akribisch agierenden Zulassungsbehörde angewandt wird, ohne den „offiziellen“
Nachweis der Wirkung und der allgemeinen sowie toxikologischen Unbedenklichkeit bei
dieser Indikation erbracht zu haben. Ganz abgesehen von der tatsächlichen Sorgfaltspflicht
im Umgang mit Medikamenten wirft dieser Vorgang die Frage auf, nach welchen Kriterien
Zulassungsvorschriften eingehalten oder umgangen werden können.
Diese Sachverhalte spiegeln die derzeit bestehende formale Rechtsunsicherheit wider,
mit der der Geburtshelfer gegenwärtig umzugehen hat. Unseres Erachtens reicht die
Stellungnahme von R. Ratzel (Frauenarzt 2003; 44: 884) nicht aus, um dem Geburtshelfer
die notwendige Rechtssicherheit zur Anwendung von Misoprostol zu verschaffen. Hier
besteht eindeutig Klärungsbedarf, z. B. durch die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht
der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe oder anderer namhafter
Institutionen. Im Einzelfall entscheidend für den betroffenen Geburtshelfer wird der
Standpunkt sachverständiger Gutachter und Gerichte sein, ob sich bei Eintritt des
Schadensfalls unter Misoprostol die Beweislast umkehrt oder nicht.
Solange dieses Medikament für diese Indikation nicht zugelassen ist, bleibt dem Geburtshelfer
als möglicher Ausweg aus dem anhaltenden Dilemma, die Schwangere vor einem Off-label-use
ausführlich über den Forschungsstand zu Misoprostol sowie über dessen Nutzen und mögliche,
aber ungenügend erforschte Risiken bei der geburtshilflichen Indikation im Vergleich
zu anderen Möglichkeiten der medikamentösen Geburtseinleitung aufzuklären. Dies muss
auch in der Patientenakte so dokumentiert werden. Es empfiehlt sich daher, eine schriftliche
Einwilligung der Schwangeren einzuholen.