Suchttherapie 2004; 5(4): 172-173
DOI: 10.1055/s-2004-813764
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Selbstverletzendes Verhalten und Medikamentenabhängigkeit

Eine FalldarstellungSelf-injuring and Drug DependenceA Case ReportC. Mischnick1 , S. Brauer1 , U. Schneider1
  • 1Abt. Klin. Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
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Prof. Dr. med. U. Schneider

Abt. Klin. Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: schneider.udo@mh-hannover.de

Publication History

Publication Date:
14 December 2004 (online)

Table of Contents

Diese Kasuistik beschreibt eine medikamentenabhängige Patientin, bei der Piercing als Form des selbstverletzenden Verhaltens zu interpretieren ist. Die Aufnahme (4/2003) der Patientin (hier N. H. genannt) erfolgte aufgrund eines eigenständigen Entgiftungswunsches bei Medikamentenabhängigkeit. N. H. litt insbesondere in den letzten Tagen vor Aufnahme unter rezidivierenden Panikattacken und vermehrtem Ess- und Brechdruck. Sie berichtete bereits 2002 in der Psychiatrie und darauf in einer psychosomatischen Abteilung in Behandlung gewesen zu sein. Kurze Zeit nach der letzten Entlassung sei es erneut zu einem Rückfall gekommen. Die Patientin habe aufgrund ihrer starken generalisierten Angstsymptome erneut Benzodiazepine eingenommen. Die aufkommenden Hungergefühle habe sie weiterhin mit Tramadoltropfen zu unterdrücken versucht. Aktuell habe sie etwa 20 mg Diazepam und 160 Tropfen (= 400 mg) Tramadol täglich eingenommen.

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Vorgeschichte

Aus der Sozialanamnese geht hervor, dass N. H. 1965 als Tochter eines Griechen und einer Deutschen in Hannover geboren wurde. Die Scheidung der Eltern erlebte N. H. 10-jährig als sehr schmerzhaft. Sie hat einen 2 Jahre jüngeren Bruder, mit dem sie gemeinsam bei der Mutter aufwuchs. Zu ihrem Bruder und der Mutter bestehe bis heute ein gutes Verhältnis. Nach ihrem Hauptschulabschluss absolvierte N. H. eine Lehre zur Friseurin. Sie habe jedoch nur 2 Jahre als Friseurin gearbeitet und dann den Beruf gewechselt. Sie war als Kassiererin, in der Altenpflege und als Arbeiterin tätig.

N. H. berichtete über ihre letzte Partnerschaft zu einem Mann, mit dem sie sehr unglücklich gewesen sei. Er habe sie immer wieder sexuell gedemütigt. Zudem habe sie für ihn im „Rotlichtmilieu” arbeiten müssen. Seit dem lebe sie in keiner Partnerschaft mehr. Sie habe keine Kinder und sei nie verheiratet gewesen.

Ende der 80er-Jahre kam es erstmalig zu selbstverletzendem Verhalten mit Schnitten an beiden Unterarmen. Als Grund für die Schnittverletzungen nennt N. H. die Reduktion unerträglicher Spannungszustände. Die letzten Schnitte am Unterarm habe sie sich 1990 zugefügt.

Das erste Mal bewusst erbrochen habe N. H. im Alter von 14 Jahren. Gründe dafür führte sie nicht an. Das niedrigste Gewicht der Patientin habe 39 kg (04/2002) und das höchste 69 kg (1994) betragen. N. H. berichtete, das erste Mal 1994 Tramadol gegen aufkommende Hungergefühle eingenommen zu haben. Sie bemerkte, dass sie sich danach gut und schlank fühlte und begann das Medikament regelmäßig einzunehmen. Gegen die immer häufiger wieder kehrenden Angstgefühle und Panikattacken, nahm die Patientin Benzodiazepine ein. Bis 1996 habe sie zudem gelegentlich Alkohol getrunken. In der Vergangenheit habe sie auch Kokain und THC ausprobiert, zu einem regelmäßigen Konsum sei es jedoch nicht gekommen.

Seit 1996 leide sie unter Asthma bronchiale. Im gleichen Jahr habe sie sich mit einer Hepatitis B infiziert. Immer wieder habe sie Magenschmerzen, insbesondere wenn sie unter Druck stehe. Zudem habe sie einen arteriellen Hypotonus.

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Körperlicher Befund

Das äußere Erscheinungsbild der Patientin war durch zahlreiche Piercings (Augenbraue, Nasenwurzel, Unterlippe und Ohren beiderseits), die über den ganzen Körper verteilt waren, geprägt. Die Anzahl der Piercings habe sich, innerhalb der letzten Monate auf insgesamt 10, deutlich erhöht. Sie berichtete, dass sie sich erst kurz vor Aufnahme ein weiteres Piercing im Bereich des Jugulums/Sternums habe stechen lassen. Zudem wies N. H. ca. 5 große Tätowierungen, insbesondere im Bereich des Rückens, der Brust und des Bauches auf. Zudem habe sie sich in der Vergangenheit die Oberlippe durch eine Lippenplastik und beide Brüste durch eine Mammaplastik vergrößern lassen.

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Psychopathologischer Befund bei Aufnahme

Frau N. H. war wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten voll orientiert. N. H. erschien als eine sehr introvertierte und zurückhaltende Patientin. Sie sprach leise und hatte im Gespräch den Blick häufig gesenkt. Die Stimmung erschien leicht gedrückt bei erhaltener affektiver Schwingungsfähigkeit. Die Psychomotorik war leicht gesteigert. Sie wirkte unruhig und unkonzentriert. Formale oder inhaltliche Denkstörungen waren nicht erkennbar. Halluzinatorisches oder wahnhaftes Erleben lagen nicht vor. Sie war von Suizidalität distanziert.

Im stationären Aufenthalt dominierten deutlich körperliche Symptome im Sinne einer Somatisierungsstörung. Sie klagte fast täglich über Kopf-, Bein- und Rückenschmerzen. Zudem berichtete sie über Unterleibsbeschwerden bei bestehender sekundärer Amenorrhoe.

Konflikten mit Mitpatienten/Innen ging sie bewusst aus dem Weg und stellte eigene Wünsche in den Hintergrund. Ziele zu formulieren viel ihr schwer. Ihr Wunsch für die nahe Zukunft war eine stationäre Langzeittherapie, um weiter intensiv an ihrer Ess-Brechproblematik arbeiten zu können. Nach den Gründen für das vermehrte Piercing in den letzten Monaten vor der stationären Aufnahme befragt, berichtete die Patientin, dass das Stechen von Körperschmuck und die damit verbundenen Schmerzen zu einer deutlichen Reduktion innerer Spannungszustände beitragen würden.

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Diskussion

Bei Frau N. H. handelt es sich um eine Patientin mit Traumatisierungserlebnissen zum einen durch die Scheidung der Eltern und zum anderen durch den Missbrauch in der partnerschaftlichen Beziehung. In ihrer weiteren Entwicklung schaffte es die Patientin nicht, ein kohärentes Bild von sich und ihren wichtigsten Bezugspersonen entwickeln zu können. Im Verlauf zeigten sich bei N. H. eine kombinierte, abhängig-emotional-instabile Persönlichkeitsstörung mit selbstverletzenden Verhalten und Ess- und Brechsucht sowie eine frei flottierende Angst- und Panikstörung mit Somatisierungsstörung und auch eine Abhängigkeit vom Morphin- und Benzodiazepin-Typ.

Im Rahmen der therapeutischen Angebote wie einer multiprofessionellen-qualifizierten stationären Entgiftung und weiteren Behandlungen kam es zu einer Verschiebung der Symptome. Üblicherweise lassen sich Jugendliche und junge Erwachsene Körperpiercings nicht wegen „der Lust am Schmerz” stechen, sondern um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu signalisieren und um modisch zu sein [1]. Hinsichtlich des Piercens erscheint Frau N. H. in einer abhängigen, aber auch fordernden Rolle zu sein. Sie erlebt den Schmerz und die „Gewalt” während des Piercing-Stechens erneut, jedoch in einem von ihr gewollten und kontrollierten Settings. Während des Bodypiercens ist eine Identifikation des vorherigen Opfers N. H. mit dem „Täter”, dem Aggressor, möglich. Somit schafft es die Patientin auf diese Weise, Teile ihres verletzten Körpers für sich zurückzugewinnen. Für sie ist es möglich, das selbstverletzende Verhalten durch eine selbstbestimmte Verschiebung hin zum bewussten Schmerzerleben beim Piercing zu entkommen.

Das Piercing war nicht im Focus der therapeutischen Beziehung, da es sich in diesem Fall um eine sozial akzeptierte Form des selbstverletzenden Verhaltens handelt und es der Patientin gelang, sich nach der stationären Entgiftungsbehandlung über einen längeren Zeitraum (bisher 6 Monate) zu stabilisieren. Die Patientin wurde nach der stationären Entgiftungsbehandlung regelmäßig (d. h. mindestens 1 × wöchentlich) ambulant betreut. Ein erneuter Konsum von Opiaten und Benzodiazepinen wurde von der Patientin negiert und konnte in regelmäßigen Drogenscreenings im Urin nicht nachgewiesen werden. Bei Krisensituationen wurde Frau N. H. die Möglichkeit eingeräumt, sich ohne vorherige Terminabsprache an ihre ambulante Behandlerin zu wenden. Diese Möglichkeit wurde von der Patientin sehr positiv bewertet, wenn gleich sie diese Option im bisherigen Verlauf nicht nutzte. Die ambulante Therapie fokussierte auf einen lösungs- und ressourcen-orientierten Ansatz [2]. Das Stechen von Piercings und Tätowierungen wurde von der Patientin, wenn auch in geringerem Umfang, weiter praktiziert und auch die Essstörung besteht nach wie vor. Mittelfristig plant Frau N. H. die stationäre Behandlung in einer Klinik für Essgestörte.

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Literatur

  • 1 Wright J. Modifying the body: Piercing and tattoos.  Nurs Stand. 1995;  1011 27-30
  • 2 Baltin B, Häring B. Manual für eine qualifizierte Entzugsbehandlung. Lengerich; Pabst Science Publishers 2003

Prof. Dr. med. U. Schneider

Abt. Klin. Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: schneider.udo@mh-hannover.de

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Literatur

  • 1 Wright J. Modifying the body: Piercing and tattoos.  Nurs Stand. 1995;  1011 27-30
  • 2 Baltin B, Häring B. Manual für eine qualifizierte Entzugsbehandlung. Lengerich; Pabst Science Publishers 2003

Prof. Dr. med. U. Schneider

Abt. Klin. Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

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