Einleitung
Einleitung
In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung schwerer Traumatisierungen bei der Entstehung
vieler psychischer Störungen dargelegt worden. Besonders hoch ist die Komorbidität
einer PTBS bei Männern mit einer Suchterkrankung [1]. Verschiedene Studien belegen, dass die Therapieerfolge bei allen Achse-I-Störungen
(Zwangsstörung, Panikstörung, Depression, Sucht) schlechter sind, wenn eine Komorbidität
mit Persönlichkeitsstörungen besteht [2]. Die Kasuistik dieses Patienten zeigt Möglichkeiten und Grenzen einer integrativen
Therapie. Exemplarisch haben wir einen Patienten ausgewählt, der ein typisches Symptombild
miteinander verflochtener Störungen (Mehrfachabhängigkeit, Borderline-Persönlichkeitsstörung,
Posttraumatische Belastungsstörung) zeigte.
Aufnahmebefund
Aufnahmebefund
Der 30-jährige Herr A. hat mit großem Druck bei Berater und Kostenträger für seine
Aufnahme in einer „Alkohol-Klinik” gesorgt, da er „weg von der Drogenszene und endlich
ein normales Leben führen wolle!” Er kommt entgiftet, jedoch voller Angst und Anspannung
zur Aufnahme. Er leide unter diversen psychischen Beschwerden, wiederkehrenden Beziehungsproblemen
sowie seiner desolaten sozialen Situation (Schulden, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit,
fehlende Perspektive). Die ausführliche Diagnostik ergibt zunächst eine Mehrfachabhängigkeit
von Heroin, Kokain und Alkohol mit zusätzlichem Missbrauch von weiteren Drogen und
Medikamenten aller Art. Daneben bestehen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie
eine langjährige Posttraumatische Belastungsstörung.
Familienanamnese
Familienanamnese
Herr A. wuchs die ersten beiden Lebensjahre beim gewalttätigen, alkoholkranken Vater
und der spielsüchtigen Mutter auf, die zeitweise der Prostitution nachging. Wegen
schwerer Misshandlungen und Verwahrlosung wurde er über das Jugendamt bis zum 16.
Lebensjahr in einem Heim untergebracht. Es bestand jedoch weiter unregelmäßiger Kontakt
zu den Eltern. Der mehrfach inhaftierte Vater verstarb später bei einer Kneipenschlägerei,
die Mutter habe wieder geheiratet, neben dieser fassadär bürgerlichen Ehe jedoch immer
wieder Nebenbeziehungen zu alkoholkranken und gewalttätigen Männern unterhalten. Drei
Halbgeschwister seien teils zur Adoption freigegeben worden, teils bei der Großmutter
aufgewachsen. Mit 15 Jahren sei er zu Mutter und Stiefvater gezogen, nach heftigen
Konflikten jedoch bereits nach einem Jahr rausgeflogen; seitdem lebte er in der Drogenszene
und entwickelte schnell eine Alkohol- und Heroinabhängigkeit. Zusätzlich zu den frühen
Gewalt- und Verlusttraumata sei er hier weiter mit Gewalt- und Todeserfahrungen konfrontiert
gewesen. Seit der Kindheit leidet er unter schwerer PTBS-Symptomatik (Alpträume, Schlafstörungen,
Hyperarousal, Flashbacks, Dissoziation). Alle engen Beziehungen seien schwierig verlaufen,
nach Trennungen hatte er zwei Suizidversuche unternommen.
Therapieverlauf
Therapieverlauf
In der Anfangsphase leidet Herr A unter ständigen Stimmungsschwankungen, Rückfall-
und Abbruchgedanken. Deshalb wird eine Modifikation des Settings hinsichtlich Pharmakotherapie,
Einzeltherapie und Kriseninterventionen notwendig. Aufgrund starker Unruhe und Schlafstörungen
erhält er phasenweise Atosil. Statt eines 45-minütigen Einzelgesprächs wöchentlich
erhält er zwei 30-minütige Gespräche sowie die Möglichkeit, bei Krisen kurzfristig
pragmatische therapeutische Hilfe zu erhalten, was er in den ersten Wochen fast täglich
in Anspruch nimmt, um Alltagsprobleme, Ängste und Sorgen zu besprechen. Fokus der
kurzen Kriseninterventionen ist nach den Methoden der DBT die lösungsorientierte Vermittlung
von Fertigkeiten zur Stressbewältigung, Emotionsregulation und Beziehungsverbesserung
unter Betonung seiner Ressourcen und Eigenverantwortung. Entsprechend der DBT-Therapieziel-Hierarchisierung
[3] erhält das Durchhalten der Therapie oberste Priorität, wobei die hier vermittelten
Fertigkeiten gleichzeitig die Abstinenzfähigkeit von Herrn A. allmählich erhöhen.
Die anfänglich kindlich-abhängige, jedoch fragile Beziehungsaufnahme zur Therapeutin
verbessert sich deutlich in Richtung eines stabilen Arbeitsbündnisses über die Besprechung
seiner Traumagenese mithilfe eines Traumatogramms [4]. Psychoedukativ wird er zusätzlich über die Entstehung, Symptomatik und Therapie
der PTBS und BPS aufgeklärt. Dies hilft ihm, seine vielfältigen psychischen Beschwerden
in einen verstehbaren Kontext einzuordnen und Angst abzubauen. In Krisen kann nun
auf diese gemeinsam erarbeitete Basis zurückgegriffen werden. Herr A. lernt aktuelle
Konflikte und seine impulsiven Reaktionen darauf in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang
einzuordnen, zu verstehen und alternative Verhaltensweisen einzuüben (z. B.: Bedürfnisse
und Gefühle äußern statt Flucht in das Suchtmittel). Darüber stabilisiert er sich
allmählich, Kriseninterventionen werden seltener notwendig.
Zusätzlich zur Gruppentherapie erlernt er in der Indikativgruppe „Emotionale Stabilisierung”
traumaspezifische Imaginationstechniken [5] zur inneren Stabilisierung und Ressourcenmobilisation. In der Indikativgruppe „Bewerbungstraining”
finden eine berufliche Standortbestimmung, Vorstellungstraining sowie die Erstellung
persönlicher Bewerbungsunterlagen statt. Herr A. sieht erste Erfolge, beantragt eine
Verlängerung der 16-wöchigen Behandlung um weitere acht Wochen und interessiert sich
für eine „Betreute Nachsorge-WG”.
Vor seiner Vorstellung dort hat Herr A. einen schweren Alkoholrückfall. In der Rückfallanalyse
wird seine Angst vor dem Abschied von der Therapeutin und der neuen „Heimunterbringung”
deutlich. Herr A überwindet die Krise und beendet die Therapie regulär nach Verlängerung.
In seiner Abschlussbewertung gibt er als wichtigste Therapieergebnisse mehr Lebensmut,
Ausgeglichenheit und Selbst-Verantwortung an. Unter Betonung seiner Autonomie lehnt
er jedoch jede professionelle Nachsorge ab und zieht zunächst zur Halbschwester. Es
gelingt ihm, nach einigen Wochen erstmals eine legale Arbeit sowie eine eigene Wohnung
zu finden. Er hält weiter lockeren Kontakt zur Therapeutin. Nach einjähriger Abstinenz
kommt es nach einer Beziehungsenttäuschung zu einem Rückfall mit Alkohol und Kokain.
Herr A. beantragt sofort eine Auffangbehandlung. Neben Rückfallanalyse und Abstinenzbilanz
unter Betonung der erreichten Erfolge fokussiert Herr A. diesmal auf die Ablösung
von der Therapeutin. Er wirkt deutlich gereifter und frustrationstoleranter als in
der Vortherapie, Kriseninterventionen sind nicht mehr nötig. Er schließt die Behandlung
nach acht Wochen regulär ab. Zwanzig Monate später ist er weiter abstinent, in Arbeit,
hat den Führerschein erworben und seit Monaten eine feste Partnerin, mit der er zusammenlebt
und eine Familie gründen will. Den losen Kontakt zur Therapeutin hat er beibehalten.
„Ich hab Ordnung in mein Leben gebracht, das meiste läuft gut, nur manchmal hab ich
noch diese Sehnsucht, ich weiß nicht richtig, wonach?!”
Diskussion
Diskussion
In der Kindheit traumatisierte Menschen entwickeln häufig frühe psychosoziale Auffälligkeiten,
viele lernen ihren erheblichen Leidensdruck im Sinne einer Selbstmedikation mit Alkohol
oder Drogen zu regulieren. Eine eigene Untersuchung unserer Patienten [6] mit dem < IES-R > [7] und < PDS-d-1 > [8] zeigte hohe Traumatisierungsraten (95,8 %) sowie Prävalenz einer PTBS (87,5 %) bei
der Untergruppe der BPS-Patienten. In unserem Therapiekonzept bieten wir daher spezifische
Therapiebausteine für Patienten mit BPS und PTBS an:
-
Traumadiagnostik und Trauma-Anamnese;
-
Psychoedukation zur BPS und PTBS-Behandlung;
-
Indikativgruppe „DBT-Stresstoleranz”;
-
Indikativgruppe „DBT-Emotionsregulation”;
-
Indikativgruppe „Trauma-Imaginationstechniken”;
-
Indikativgruppe „Umgang mit Ärger und Aggression”.
Wie der exemplarische Verlauf von Herrn A. zeigt, wirkt dieses Vorgehen günstig auf
Commitment, Abbruch- und Rückfallgefährdung auch bei dieser Gruppe traumatisierter
Suchtpatienten mit komorbider BPS und bestätigt neuere Behandlungsansätze:
-
gleichzeitige integrative Behandlung von Sucht, Trauma und komorbider Störung;
-
flexible, aber klare Therapiestrukturen;
-
Therapieziel-Hierarchisierung ausgehend von der bedrohlichsten Symptomatik unter Beachtung
der anderen Bereiche;
-
Zusatzangebote für spezielle Problembereiche;
-
Ressourcenorientiertheit.