Depressive Störungen zählen mit einer Punktprävalenz von drei bis fünf Prozent [2] zu den weltweit häufigsten Erkrankungen; für die Major Depression, die typischerweise
durch Herabgestimmtheit, Angst, Schuld- und Suizidideen, Störungen von Antrieb, Aufmerksamkeit,
Schlaf, Appetit und sexueller Appetenz sowie eine psychomotorische Verlangsamung [14] bei zumeist episodischem Krankheitsverlauf gekennzeichnet ist, wird eine Lebenszeitprävalenz
von um 15 % angenommen [2].
Während kognitive Defizite bereits seit den Arbeiten Kraepelins um die Jahrhundertwende
als integraler Bestandteil schizophrener Störungen gelten, wurden solche bei affektiven
Erkrankungen bis in jüngster Zeit in ihrer Bedeutung erheblich geringer eingestuft,
wenngleich einige der in den letzten Jahren publizierten Arbeiten deren Vorhandensein
bei affektiven Störungen eindrucksvoll belegen konnten (u.a. [4]
[6]
[8]). Insgesamt scheint die Situation so zu sein, dass während akuter Krankheitsepisoden
die Schwere der kognitiven Störung mit der Schwere der Depression zunimmt (z.B. [3]
[7]
[23]). Weiterhin finden sich v.a. in der neueren Literatur Hinweise darauf, dass - entgegen
der bisher vorherrschenden Annahme, es handle sich bei affektiven Erkrankungen im
Gegensatz zu den Schizophrenien um phasenhaft verlaufende psychische Störungen (d.h.
solche mit regelhaft vollständiger Remission) - bei einigen der Kranken kognitive
Defizite nach Ablauf einer akuten Episode persistieren können [13]
[15]
[24]. Hiermit in Einklang stehend zeigten sich in einem von uns untersuchten Kollektiv
von 80 Probanden mit der ICD-10-Diagnose einer depressiven Störung (F31 - F33) bei
etwa der Hälfte der Remittierten neuropsychologische Störungen, wobei Patienten mit
Tranquilizern gegenüber solchen ohne eine derartige Medikation signifikant schlechter
in den durchgeführten Leistungstests abschnitten [10].
In weiteren Publikationen unserer Arbeitsgruppe konnte demonstriert werden, dass
-
die Patienten, die Neuroleptika einnahmen, schlechtere Ergebnisse erzielten, und zwar
umso mehr, je höher die Dosierung war [9],
-
die zusätzlich zur antidepressiven Pharmakotherapie mit dem Phasenprophylaktikum Carbamazepin
(CBZ) behandelten Patienten gegenüber jenen ohne CBZ signifikant schlechtere Ergebnisse
lieferten [17] und
-
eine Untergruppe von Patienten, die deutlich schwächer als das Gesamtkollektiv abschnitt,
nicht nur wesentlich depressiver als die Gesamtgruppe war, sondern auch eine signifikant
höhere Psychopharmaka-Gesamtdosis erhielt [16].
Zusammenfassend ließ sich also über das von uns untersuchte Kollektiv aussagen, dass
sowohl die Depression selbst als auch die zu deren Behandlung eingesetzte psychotrope
Medikation kognitive Funktionen verschlechterten. Bezüglich einer weiteren potenziellen
Einflussgröße auf die Kognition, nämlich ob sich die Patienten zum Untersuchungszeitpunkt
in ambulanter oder stationärer Behandlung befinden (Hypothese: stationäre Patienten
schneiden in kognitiven Leistungstests schlechter ab als ambulante), scheinen nur
Arbeiten mit an Schizophrenien Erkrankten vorzuliegen (z.B. 11), so dass wir uns von
einer entsprechenden Auswertung der an unseren Patienten ermittelten Daten weitere
Erkenntnisse über mögliche Moderatorvariablen neuropsychologischer Leistungen bei
Depressiven versprachen.
Material und Methoden
Material und Methoden
Im Rahmen einer offenen prospektiven Studie, die kognitive Leistungen bei Patienten
mit affektiven Störungen (ICD-10: F31 - F33) untersucht, wurden neben soziodemographischen
Parametern und Merkmalen des Krankheitsverlaufs der Schweregrad der Depressivität
mittels der hinsichtlich Valididät und Reliabilität gut belegten [12] Hamilton Depression Rating Scale HAMD-21 und die aktuelle psychiatrische Pharmakotherapie
erfasst.
An Testverfahren kamen zwei Untertests des Computerisierten Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstests
(München) CGT-(M) [19] - der Visuelle Aufmerksamkeitstest VAT und der Kontinuierliche Wortwiedererkennenstest
WWT - und der Daueraufmerksamkeitstest DAUF, Bestandteil des Wiener Testsystems [26], zum Einsatz (detaillierte Beschreibung in [10]). Bei allen drei Verfahren handelt es sich um etablierte computergesteuerte kognitive
Leistungstests. Um die Belastung schwer Depressiver überschaubar zu halten, beschränkte
sich die vorliegende Untersuchung auf Aspekte insbesondere der selektiven Aufmerksamkeit,
der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit und des episodischen Gedächtnisses; angesichts
vorliegender Normwerte konnte auf gesunde Kontrollgruppen verzichtet werden.
Eingeschlossen in die Untersuchung wurden ambulante und stationäre erwachsene Patienten
unserer Klinik, bei denen eine Major Depression vorlag (Diagnosestellung nach den
ICD-10-Kriterien für eine bipolare affektive Störung, gegenwärtig depressiv (F31)/depressive
Episode (F32)/rezidivierende depressive Störung (F33) unabhängig voneinander durch
zwei erfahrene Kliniker). Ausschlusskriterien waren ein Lebensalter von 61 Jahren
oder älter und das Vorliegen einer schweren körperlichen oder anderen psychischen
Erkrankung sowie unzureichende Deutschkenntnisse.
Um nun den Einfluss des Parameters ambulant/stationär auf die kognitive Performance
zu untersuchen, wurden alters-, geschlechts- und HAMD-Summenscore-gematchte Paare
gebildet, von denen der eine Partner zum Untersuchungszeitpunkt jeweils in ambulanter
(amb), der andere in stationärer (stat) Behandlung war und die beiden resultierenden
Gruppen schließlich unter Verwendung des Mann-Whitney U-Tests statistisch miteinander
verglichen.
Ergebnisse
Ergebnisse
Aus dem Gesamtkollektiv von mittlerweile 100 Patienten ließen sich 17 matched pairs
bilden, die sich hinsichtlich des Alters (Durchschnittsalter 42,6 in der ambulanten
vs. 42,4 Jahre in der stationären Gruppe) und der Depressivität (durchschnittlicher
HAMD-Summensore 13,2 in der ambulanten vs. 14,6 Punkte in der stationären Gruppe („leicht
depressiv”)) nicht signifikant unterschieden; es handelte sich um jeweils zehn Frauen
und sieben Männer [Tab. 1].
Von den insgesamt 34 Patienten waren zum Untersuchungszeitpunkt acht remittiert, fünfzehn
leicht, acht mittelschwer und drei schwer depressiv. Hinsichtlich der Schul-/Berufsausbildung
waren die beiden Gruppen nicht signifikant different.
Keiner der Untersuchten erreichte durchweg unauffällige Ergebnisse (s. [Tab. 1]). Erstaunlicherweise konnte in keinem der drei verwendeten kognitiven Leistungstests
ein signifikant unterschiedliches Abschneiden der beiden Gruppen demonstriert werden,
sehr wohl unterschieden sich diese jedoch mit Blick auf die psychotrope Medikation:
Die stationäre Gruppe erhielt signifikant höhere Dosen konventioneller Neuroleptika,
umgerechnet in Chlorpromazin-Äquivalente (kumuliert 245 amb vs. 1019 stat; p<0,01).
Die stationäre Gruppe erhielt signifikant höhere Dosen trizyklischer Antidepressiva
(kumulierte Tagesdosis 585 mg amb vs. 1050 mg stat; p<0,05). In der stationären Gruppe
erhielten die Patienten signifikant häufiger Tranquilizer (5-mal amb vs. 12-mal stat;
p<0,05).
Hinsichtlich der übrigen psychotropen Medikation (neuere Antidepressiva aus der Gruppe
der selektiven Serotoninreuptake-Hemmer (SSRI), Phasenprophylaktika) ließen sich keine
weiteren signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sichern.
Diagnostischerseits waren in der ambulanten Gruppe fünfzehn Patienten an einer rezidivierenden
depressiven Störung und jeweils einer an einer bipolaren Störung/depressiven Episode
erkrankt, in der stationären Gruppe waren es demgegenüber sechs Patienten mit einer
rezidivierenden depressiven Störung, fünf mit einer bipolaren Störung und sechs mit
einer depressiven Episode.
Diskussion
Diskussion
Die auch von uns gefundene weite Verbreitung dyskognitiver Symptome bei affektiv Erkrankten
wird in der Literatur weithin bestätigt (z.B. [6]
[25]).
Bei den aus jeweils 17 Patienten bestehenden alters-, geschlechts- und HAMD-gematchten
Gruppen, von denen die eine zum Untersuchungszeitpunkt ambulant, die andere stationär
war, ließ sich kein statistisch bedeutsam unterschiedliches Abschneiden in den von
uns verwendeten kognitiven Leistungstests zeigen, obwohl die stationäre Gruppe zum
Untersuchungszeitpunkt signifikant mehr konventionelle Neuroleptika, trizyklische
Antidepressiva und signifikant häufiger Tranquilizer (überwiegend Benzodiazepine)
erhielt - also genau die Pharmaka, denen nachteilige Effekte auf neuropsychologische
Funktionen nachgesagt werden (u.a. infolge des anticholinergen Wirkprofils von trizyklischen
Neuroleptika/Antidepressiva und der Beeinträchtigung der Wachheit durch Benzodiazepine).
Auf dem Boden dieser Untersuchungsergebnisse kann die Hypothese formuliert werden,
dass es möglicherweise eine Untergruppe depressiver Patienten gibt, bei denen die
isolierte Moderatorvariable psychotrope Medikation kognitive Leistungen zumindest
nicht wesentlich verschlechtert und es andere Faktoren als der Status „ambulant oder
stationär”, z.B. die Schwere der Erkrankung sein könnten, die kognitive Minderleistung
determinieren.
Zur Überprüfung einer solchen Hypothese bedarf es natürlich weiterer Studien mit größeren
Patientenzahlen an diagnostisch homogeneren Patientenkollektiven - die beiden von
uns gebildeten Gruppen unterschieden sich beispielsweise dahingehend, dass bei den
ambulanten Patienten im Gegensatz zur stationären Gruppe (hier fand sich ein ausgewogenes
Verhältnis aller drei diagnostischen Untereinheiten) rezidivierende Depressionen stark
vorherrschten.
Möglicherweise schneiden mehrfach im Laufe ihres Lebens depressiv Erkrankte schlechter
ab als Patienten mit einer depressiven Erstepisode, wobei die Literatur diese Frage
uneinheitlich beantwortet [18]
[24] - bei unseren Patienten (n=80) fand sich weder ein signifikanter Zusammenhang zwischen
Phasenanzahl und kognitiver Leistungsfähigkeit noch nahmen kognitive Defizite mit
der Erkrankungsdauer zu; außerdem schnitten die genannten drei diagnostischen Unterkategorien
in den Tests nicht signifikant unterschiedlich ab [5].
Im Übrigen mag der Umstand, dass in Institutsambulanzen psychiatrischer Fachkrankenhäuser
in der Regel überwiegend schwerer Kranke mit komplizierten/chronifizierten Verläufen
und z.T. erheblicher sozialer Behinderung behandelt werden, zum im Vergleich zur stationären
Gruppe nicht differenten schlechten kognitiven Abschneiden beigetragen haben.
Zur Frage der Beeinflussung neuropsychologischer Leistungen durch Psychopharmaka liefert
unsere Untersuchung in Übereinstimmung mit der Literatur widersprüchliche Ergebnisse;
die sich daraus ergebende kontroverse Diskussion, z.B. über typische vs. atypische
Neuroleptika [21] oder ältere vs. neuere Antidepressiva [1] ist hochaktuell.
Fazit
Fazit
Kognitive Defizite sind bei affektiven Störungen weit verbreitet, sowohl während akuter
Krankheitsepisoden als auch im Stadium der psychopathologischen Remission, was angesichts
der in vielen Untersuchungen gezeigten Aktivitäts-/ Strukturveränderungen frontaler
und limbischer Strukturen (z.B. [14]
[22]) nicht überrascht. Der Einfluss der Variablen ambulant/stationär oder der diesbezüglich
in Verdacht stehenden konventionellen Neuroleptika, trizyklischen Antidepressiva und
Tranquilizer auf kognitive Funktionen ist in künftigen Untersuchungen auf diesem Gebiet
systematisch zu kontrollieren.
Herzlichen Dank Hern Dr. Stefan Bretschneider, Herrn PD Dr. Rainer Hess und Herrn
Dr. R. Wittek.
Tab. 1 Eingeschlossene Patienten und Testergebnisse
Gruppe I (ambulant)
|
Gruppe II (stationär)
|
n
|
Geschlecht
|
Alter
|
Diagnose
|
HAMD
|
VAT
|
|
WWT
|
DAUF
|
Alter
|
Diagnose
|
HAMD
|
VAT
|
|
WWT
|
DAUF
|
1 |
m |
34 |
F33 |
17 |
105 |
88 |
92 |
38 |
0,24 |
39 |
F32 |
20 |
98 |
90 |
85 |
37 |
0,21 |
2 |
w |
44 |
F33 |
5 |
102 |
96 |
96 |
40 |
0,23 |
38 |
F33 |
8 |
92 |
101 |
99 |
40 |
0,24 |
3 |
m |
47 |
F33 |
2 |
93 |
89 |
100 |
39 |
0,26 |
51 |
F32 |
7 |
107 |
97 |
108 |
38 |
0,23 |
4 |
w |
37 |
F33 |
20 |
89 |
74 |
102 |
25 |
0,52 |
40 |
F33 |
17 |
104 |
104 |
108 |
38 |
0,24 |
5 |
w |
31 |
F33 |
11 |
109 |
98 |
105 |
39 |
0,23 |
31 |
F33 |
14 |
103 |
103 |
100 |
39 |
0,25 |
6 |
m |
32 |
F33 |
23 |
100 |
93 |
92 |
37 |
0,24 |
39 |
F31 |
26 |
111 |
84 |
110 |
40 |
0,24 |
7 |
w |
39 |
F33 |
23 |
107 |
85 |
92 |
34 |
0,32 |
45 |
F32 |
24 |
99 |
101 |
91 |
40 |
0,12 |
8 |
w |
58 |
F33 |
13 |
72 |
39 |
77 |
13 |
0,51 |
51 |
F32 |
17 |
105 |
73 |
87 |
24 |
0,28 |
9 |
w |
38 |
F33q |
12 |
107 |
101 |
111 |
40 |
0,23 |
36 |
F31 |
15 |
103 |
91 |
120 |
40 |
0,14 |
10 |
w |
57 |
F33 |
14 |
94 |
90 |
110 |
26 |
0,41 |
60 |
F33 |
14 |
100 |
93 |
108 |
39 |
0,26 |
11 |
w |
48 |
F33 |
10 |
95 |
86 |
86 |
20 |
0,60 |
54 |
F32 |
11 |
99 |
92 |
95 |
33 |
0,37 |
12 |
w |
36 |
F31 |
9 |
103 |
90 |
97 |
40 |
0,27 |
30 |
F33 |
6 |
101 |
108 |
106 |
40 |
0,21 |
13 |
m |
31 |
F33 |
16 |
101 |
95 |
101 |
40 |
0,26 |
32 |
F31 |
16 |
107 |
80 |
96 |
40 |
0,23 |
14 |
m |
57 |
F33 |
28 |
89 |
98 |
87 |
40 |
0,33 |
55 |
F32 |
31 |
83 |
58 |
77 |
18 |
0,30 |
15 |
w |
36 |
F32 |
9 |
94 |
91 |
106 |
40 |
0,28 |
28 |
F33 |
10 |
106 |
100 |
102 |
39 |
0,16 |
16 |
m |
43 |
F33 |
3 |
108 |
97 |
100 |
40 |
0,20 |
35 |
F31 |
6 |
101 |
95 |
90 |
37 |
0,19 |
17 |
m |
56 |
F33 |
9 |
99 |
94 |
85 |
32 |
0,27 |
57 |
F31 |
6 |
81 |
87 |
89 |
30 |
0,43 |
n = laufende Nummer, w = weiblich, m = männlich, HAMD = Hamilton-Summenscore
VAT = visueller Aufmerksamkeitstest:
Standardwert richtige Lösungen (normal >94)
Standardwert Geschwindigkeit (normal >94)
WWT = Wortwiedererkennenstest: Standardwert richtige Lösungen (normal >94)
DAUF = Daueraufmerksamkeitstest:
Summe richtige Lösungen (maximal 40, normal ≥38)
Streuung der Reaktionszeiten in Sekunden (normal ≤0,2) |