Der in der Körpermedizin fest etablierte Präventionsgedanke stößt in den letzten Jahren
zunehmend auch in der Psychiatrie auf Interesse. Schizophrene Störungen stehen im
Vergleich zu anderen Psychosen im Mittelpunkt der Früherkennungsbemühungen, weil sie
selten ganz akut auftreten und häufig eine besonders ungünstige Prognose aufweisen.
Beginn im frühen Erwachsenenalter, langjähriger Verlauf und in mindestens einem Drittel
der Fälle chronische soziale Behinderung belasten die Betroffenen und deren Angehörige
erheblich. Die Solidargemeinschaft wendet allein an direkten Behandlungs- und Betreuungskosten
für chronisch Schizophreniekranke in Deutschland weit über 3 Mrd. € jährlich auf.
Neben den Belastungen durch die Krankheit waren weitere Entwicklungen für den „Frühling
der Früherkennung” bedeutsam: die aufgrund von Langzeitstudien wachsende Kritik am
fatalistischen Mythos der „Dementia praecox”, die verbesserte Definition des Krankheitsbeginns
durch Ersterkranktenstudien, die Verfügbarkeit wirksamer Behandlungsmöglichkeiten,
insbesondere vergleichsweise risikoarmer, verträglicher Neuroleptika, und die zunehmende
Erfahrung in der Rezidivprophylaxe.
Als „indizierte bzw. selektive” Prävention setzt Frühintervention jedoch Früherkennung
voraus. Diese muss auf gesicherten Kenntnissen über den Frühverlauf der Erkrankung
aufbauen. Optimal sind prospektive Studien, die Aussagen zur prognostischen Validität
bestimmter Befunde liefern, aber nur dann ausreichend große Stichproben liefern, wenn
sie Populationen beobachten, in denen das Krankheitsrisiko erhöht ist. Retrospektive
Studien erlauben zwar keine Aussagen zur Vorhersagekraft einzelner Befunde, können
prinzipiell aber nahezu beliebig große Stichproben untersuchen.
Als umfassendste, methodisch solideste retrospektive Studie zum Frühverlauf schizophrener
Erkrankungen gilt die „ABC-Schizophrenie-Studie” von Häfner u. Mitarb. aus Mannheim
[1]. Bei einer repräsentativen Stichprobe erster schizophrener Episoden gelang der Nachweis,
dass dem ersten Behandlungskontakt unter den gegenwärtigen Versorgungsbedingungen
mindestens ein Jahr psychotische Symptome und im Mittel 5 Jahre nichtpsychotische
Prodromalsymptome vorausgehen. In diesem Zeitraum beginnt bereits der soziale Abstieg
der erst später als schizophreniekrank diagnostizierten Menschen [2].
Prospektive Studien der einflussreichen Melbourner Arbeitsgruppe von McGorry erzielten
die notwendige Anreicherung des Psychoserisikos in der Untersuchungspopulation, indem
sie Zustände mit einem erhöhten Risiko für den Übergang in eine Psychose definierten,
ohne bereits die diagnostischen Kriterien für eine Schizophrenie zu erfüllen [3]
[4]:
-
spontan-remittierte psychotische Symptome kurzer Dauer,
-
schwach ausgeprägte psychotische Symptome,
-
Leistungseinbruch bei vorbestehendem Risiko (genetische Belastung oder anamnestische
Geburtskomplikationen).
Trotz der kurzen Nachbeobachtungszeit von zunächst 6 Monaten war das Psychoserisiko
bei Menschen, die mindestens eines dieser Kriterien erfüllten, so hoch, dass 40 %
von ihnen in diesem Zeitraum bereits manifest erkrankten.
Die erste langfristige prospektive Früherkennungsstudie von Klosterkötter et al. [5]
[6] erzielte die Risikoanreicherung durch den Einschluss von Patienten, die überwiegend
aus Facharztpraxen zur Abklärung eines Psychoseverdachts einer Universitäts-Poliklinik
zugewiesen worden waren und im Mittel 9,6 Jahre nach der initialen Erfassung der Prodromalsymptomatik
nachuntersucht wurden. Hier waren rund die Hälfte der initial eingeschlossenen 160
Patienten inzwischen an Schizophrenie erkrankt, im Mittel nach 5,6 Jahren.
Derzeit wird im Früherkennungsprogramm des Kompetenznetzes Schizophrenie auf zwei
Ebenen die frühe Erkennung (Diagnose) und Vorhersage der Psychose (Stadium des Frühverlaufs)
angestrebt: mittels eines 17-Item-Screening-Instruments, der aus den Ergebnissen der
Mannheimer und Kölner Studien entwickelten „Checkliste”, und eines 110 Items umfassenden
Interviews (ERIRAOS) zur weiteren Risikoabklärung. Der Ergebnisse sind ebenso abzuwarten
wie die Resultate einer prospektiven multizentrischen europäischen Früherkennungsstudie
unter Kölner Federführung („EPOS”), die psychopathologische, soziale und neurobiologische
Untersuchungsebenen einschließt.
Beim gegenwärtigen Kenntnisstand sind ausgewählte Symptombereiche und weitere Informationsquellen
hinsichtlich ihres Beitrags zur Früherkennung schizophrener Störungen vorläufig folgendermaßen
zu bewerten:
Frühe affektive Auffälligkeiten und Leistungseinbußen: Nervosität, Depressivität, Ängste, Energielosigkeit, Selbstzweifel, Leistungseinbruch
und sozialer Rückzug werden von Menschen mit Schizophrenie am häufigsten als erste
Symptome erinnert. Sie führen bei den Betroffenen zu einem hohen Leidensdruck und
sollten (auch zur Stärkung von Behandlungsmotivation und therapeutischer Beziehung)
sorgfältig erfragt und bearbeitet werden. Diese frühesten Symptome einer psychotischen
Entwicklung sind allerdings unspezifisch. Sie stellen z. B. die Kernsymptomatik von
depressiven und Angststörungen dar und können deshalb nicht zu einer Vorhersage herangezogen
werden. Diese Beschwerden sind auch in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet. So
gaben bei einer Repräsentativbefragung unter Studierenden in Deutschland 27 % psychische
Probleme an - mit am häufigsten genau jene von später schizophren Erkrankten.
Absonderliches Verhalten und „Negativsymptomatik”: Im US-amerikanischen Diagnosemanual DSM-III-R werden als Prodromalsymptome für Schizophrenie
absonderliches Verhalten, Denken oder Erscheinungsbild, abgestumpfter, verflachter
oder inadäquater Affekt und andere Symptome aufgelistet, die im Nachhinein nach Psychoseausbruch
überwiegend der „Negativsymptomatik” der Schizophrenie zugerechnet werden. Sie besitzen
jedoch eine so geringe diagnostische Spezifität und Sensitivität, dass sie in bis
zu 30 % der Fälle zu falsch positiven und in bis zu 23 % der Fälle zu falsch negativen
diagnostischen Zuordnungen führen [7]. Dennoch sind sie bei der Frühdiagnostik nicht ohne Bedeutung, da sie einerseits
soziale Defizite und zwischenmenschliche Konflikte nach sich ziehen und andererseits
für das (kaum operationalisierbare) „praecox”-Gefühl (Rümke 1942 [8]) des erfahrenen Diagnostikers verantwortlich sein dürften.
Selbst wahrgenommene Denk- und Wahrnehmungsstörungen: Als „Basissymptome” beschrieb Gerd Huber von Schizophreniepatienten selbst beobachtete
Defizite vor allem des Denkens und Wahrnehmens, aber auch im Fühlen und Handeln, die
mit einem strukturierten Interview, der Bonner Skala für die Erfassung von Basisstörungen,
BSABS, sehr subtil zu erfassen sind [9]. In der prospektiven Studie von Klosterkötter et al. [5]
[6] erwiesen sich in erster Linie bei sich selbst erlebte kognitive Defizite und Auffälligkeiten
der Wahrnehmung als prädiktiv. So lagen etwa bei Gedankeninterferenzen, Perseverieren
von Gedanken, Gedankendrängen, gestörter Diskrimination von Vorstellung und Wahrnehmung,
Störungen der rezeptiven Sprache, Derealisationserleben, optischen und akustischen
Wahrnehmungsstörungen die einzelnen Raten an falsch positiven Vorhersagen deutlich
unter 10 %. Allerdings waren die hochprädiktiven kognitiven Einzelsymptome jeweils
nur von knapp einem Drittel der Patienten schon zu Beginn der Verlaufsbeobachtung
geboten worden. Alleine hierauf lässt sich also eine breit angelegte Früherkennung
nicht stützen, sonst würden zu viele Schizophrenieentwicklungen übersehen.
Schwach ausgeprägte oder kurz dauernde psychotische Symptome: Mild ausgeprägte psychotische Symptome, beispielsweise wiederkehrende Beziehungsideen
und Misstrauen ohne Wahngewissheit, weisen nach der Melbourner Studie in über einem
Drittel der Fälle auf einen baldigen Übergang in eine manifeste Psychose hin [3]. Gleiches gilt für selbständig remittierte psychotische Symptome von kurzer Dauer,
beispielsweise für wenige Stunden bestehende akustische Halluzinationen oder Verfolgungswahn,
sofern sie nicht durch Drogenkonsum hervorgerufen wurden. Wenn derartige Symptome
aber schon seit Jahren immer wieder bestanden und somit eher der Persönlichkeit des
Betroffenen zuzuordnen sind, tragen sie nicht zur Psychoseprädiktion bei.
Substanzmissbrauch: Schädlicher Konsum von Alkohol und Cannabis, in geringerem Maße auch von anderen
illegalen Drogen, findet sich vor schizophrenen Psychosen doppelt so häufig wie bei
gleichaltrigen Vergleichspersonen [10]. Da Substanzmissbrauch die Prognose eindeutig verschlechtert und besondere Behandlungskonzepte
erfordert, muss Drogen- und Alkoholkonsum bei der Frühdiagnostik immer angesprochen,
erfasst und problematisiert werden, auch wenn sich daraus keine Vorhersage für eine
drohende schizophrene Ersterkrankung ableiten lässt. Da Cannabis Psychosen auslösen
kann, muss dieser zusätzliche Risikofaktor jedoch mitberücksichtigt werden.
Genetische Belastung und Geburtskomplikationen: Familienstudien haben sehr gut belegt, dass mit zunehmender genetischer Übereinstimmung
von Familienangehörigen auch die Konkordanzrate für Schizophrenie steigt - bei eineiigen
Zwillingen bis auf 50 %. Bei anderen Verwandten 1. Grades liegen die Konkordanzraten
allerdings unter 10 %, so dass die genetische Belastung alleine noch keine Psychoseprädiktion
erlaubt, in Kombination mit anderen Auffälligkeiten aber hellhörig macht.
Ähnliches gilt für Geburtskomplikationen, die ebenfalls weniger als 10 % der schizophren
Erkrankten in der Anamnese aufweisen. Wegen möglicher Erinnerungsverzerrungen sind
elterliche Informationen hierzu nur unter Vorbehalt zu verwerten, wenn sie nicht durch
Originaldokumente belegt sind [11].
Neurobiologische Befunde: Neurophysiologische und neuropsychologische Verfahren zeigen bei Menschen mit manifester
schizophrener Erkrankung Störungen der Informationsverarbeitung von der Reizaufnahme
bis hin zu komplexen kognitiven Leistungen. In der Früherkennung sind diese Befunde
aber bisher nicht direkt anwendbar, da die bisherigen Studien nur gruppenstatistische
Unterschiede herausgearbeitet haben, während prospektive Untersuchungen bei potenziellen
Schizophreniepatienten noch im Gang sind. Aus dem gleichen Grund konnten bildgebende
Verfahren (z. B. strukturelles oder funktionelles MRT) für die individuelle Risikoabschätzung
bislang nicht etabliert werden.
Zusammenfassend kann der Übergang in eine schizophrene Psychose heute nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
abgeschätzt werden. Derzeit bilden Psychopathologie und Familienanamnese die wichtigsten
Informationsquellen. Die häufigsten Prodromalsymptome sind allerdings unspezifisch
oder schon psychosenah. Die spezifischeren Prodromalsymptome, nämlich bestimmte Basissymptome,
sind seltener und schwerer zu erfassen.
Eine Verbesserung der Prädiktion wird von einer Kombination mehrerer Untersuchungsebenen
erwartet: Psychopathologie (v. a. Basissymptome und deren Verlaufsdynamik), Familienanamnese,
sorgfältig erfasste Geburtskomplikationen, Lebensereignisse, Leistungsentwicklung,
bildgebende Verfahren (Volumetrie; funktionelles MRT), Neurophysiologie (z. B. evozierte
Potenziale) und Neuropsychologie (z. B. Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeitsleistung).
In der Praxis wird man immer dann hellhörig werden, wenn Jugendliche und junge Erwachsene sich
unerwartet und ohne erkennbare Ursache zurückziehen oder einen Leistungseinbruch erleiden.
Auffällig sind in jedem Fall Klagen über bis dahin unbekannte Denk- und Konzentrationsstörungen
ohne äußeren Anlass. Besteht zudem eine positive Familienanamnese, sollten nicht erst
psychotische Symptome abgewartet werden, bevor eine vertiefte Diagnostik erfolgt.
Zur Vorsicht mahnen ethische Bedenken, vor allem gegen voreilige Behandlungsmaßnahmen.
Eine differenzierte Früherkennungsdiagnostik ist derzeit noch spezialisierten Zentren
vorbehalten, z. B. im Kompetenznetz Schizophrenie oder an den Universitätskliniken
Basel (Psychiatrische Poliklinik) und Heidelberg. Wegen des hohen Aufwandes konnten
Spezialsprechstunden bisher nur durch Forschungsmittel finanziert an Universitäten
eingerichtet werden. Bei Verdacht auf das Prodrom einer Schizophrenie lohnt sich hier
immer ein Kontaktaufnahme. Bei unklaren Fällen darf man allerdings von einem einmaligen
Gespräch in einem Früherkennungszentrum keine sichere Einschätzung erwarten. Der diagnostische
Prozess (und erst recht eine Frühintervention) erstreckt sich u. U. über viele Sitzungen
und ist deshalb in der Regel nur Hilfesuchenden aus der jeweiligen Region zugänglich.
Gesundheitspolitisches Ziel muss sein, anhand überzeugender empirischer Belege der
Validität und Effektivität von Früherkennung und Frühbehandlung mit den Kostenträgern
Sonderbudgets zu vereinbaren.