Einleitung
Das Gesundheitswesen im wiedervereinigten Deutschland befindet sich derzeit sozusagen
in einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation, die einen tiefgreifenden Strukturwandel
nach sich ziehen könnte. Bei solchen Vorgaben bleibt für seltener gewordene Infektionskrankheiten,
die nicht oder insuffizient behandelt, zur Chronizität neigen - wie die Tuberkulose
- in der allgemeinen Berichterstattung nur wenig Raum. Dabei gibt es kaum eine Infektionskrankheit,
die so sehr von politischen, soziologisch-kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen
abhängig ist, wie gerade die Tuberkulose. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund
steigender HIV-Durchseuchung auch in manchen Ländern Osteuropas [1]
[2]
[3].
Statistisch ist die Tuberkulose in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten fast
permanent weiter zurückgegangen, so dass im Jahr 2000 die Inzidenz bei Männern hierzulande
bei 12,3 je 100 000 Einwohnern und bei Frauen bei 6,2 je 100 000 Einwohnern lag [4]. Die Tuberkulose ist daher als Erkrankung bei der deutschen Bevölkerung in den Hintergrund
getreten. Vor allem jüngere deutsche Ärzte sind mit dem Krankheitsbild meist nicht
mehr vertraut. Manchmal bedarf es folglich der Konsultation mehrerer Praxen oder sogar
Kliniken, bis erst nach ca. 6 - 9 Monaten die richtige Diagnose feststeht. So ist
auch davon auszugehen, dass in der Zeit, die verstreicht, bis eine exakte Diagnose
gestellt ist, gerade bei extrovertierten Erkrankten oder aber bei solchen, die in
publikumsintensiven Berufen tätig sind, mit zahlreicheren Ansteckungsmöglichkeiten
gerechnet werden muss [5].
Dies gewinnt besonders an Bedeutung vor dem Hintergrund der Globalisierung [2] - im weitesten Sinne des Wortes - insbesondere bei der Zuwanderung nach Westeuropa
und speziell nach Deutschland aus Ländern hoher Tuberkuloseprävalenz [4]
[6]. Auch in Deutschland ist bekanntlich eine langsame Zunahme mehrfach-resistenter
Tuberkulosebakterien festzustellen [4]
[6].
Im volkreichsten Regierungsbezirk Bayerns (Oberbayern) lag der Anteil der Tuberkuloseerkrankungen
bei Zuwanderern im Jahr 2001 - auf alle Tbc-Erkrankten bezogen - bei ca. 40 %. Im
Bereich der Landeshauptstadt München betrug die Tuberkuloseinzidenz in diesem Jahr
16,7 auf 100 000 Einwohner (im Jahr 2000 13,5 auf 100 000 Einwohner). [Mitteilung
Frau Dr. Buckmann, München]. Die Zuwanderungstuberkulose verteilte sich hier in den
oberbayerischen Landkreisen und kreisfreien Städten auf 29, in der Landeshauptstadt
München auf 39 verschiedene Nationen [Mitteilung Dr. Gronauer].
Von Seiten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) konnten im Regierungsbezirk
Oberbayern 2001 insgesamt 5 nennenswerte Tuberkulose-Klein-Epidemien gesichert werden,
von denen drei nachstehend dargestellt werden (s. Abb. [1]
[2]
[3]). Von Interesse ist auch eine weitere, vom ÖGD aufgedeckte Klein-Epidemie aus dem
Regierungsbezirk Oberpfalz, die ebenfalls aufgezeigt wird (s. Abb. [4]).
Abb. 1 Tbc-Cluster im oberbayerischen Lkrs. E. 2001. Kleinepidemie von M. tuberculosis: Ausgehend
von den Stammtischen dreier Gastwirtschaften (A, B, C) wurde der Erreger von den an
kavernöser Lungentuberkulose erkrankten Einheimischen im Großraumbüro einer Versicherung
weiterverbreitet.Zeichenerklärung für die Infektionsketten der Abb. [1]
[2]
[3]
[4]:-3- = nachgewiesene Tuberkulinkonversion.
111 = aktive Tuberkulose der Atmungsorgane mit mikroskopischem Direktnachweis von
Tuberkulosebakterien im Sputumausstrich
112 = aktive Tuberkulose der Atmungsorgane mit Nachweis von Tuberkulosebakterien in
sonstigem Material oder mit anderen Methoden (positives Kulturergebnis)
122 = Pleuritis tuberculosa
128 = aktive Tuberkulose der Atmungsorgane ohne Nachweis von Tuberkulosebakterien
220 = Tuberkulose des Urogenitaltrakts
Abb. 2 Tuberkulosekleinepidemie 2001 Lkrs. D/M (Obb). Bei Einheimischen mit Kontakt am Arbeitsplatz
bzw. in der Skihütte (M. tuberculosis - Volle Sensibilität auf alle First-Line-Antituberculotica).
Abb. 3 Nicht nach § 36 (4) IfSG untersuchte, an unerkannter cavernöser Lungentuberkulose
erkrankte aus Kasachstan stammende Frau (38 J.) verursacht bei Kindern Tbc-Infektionen
und Tbc-Erkrankung bei Putztätigkeit in Reha-Klinik.
Abb. 4 Tuberkulose-Kleinepidemie im Reg. Bezirk Oberpfalz bei lange unentdeckt gebliebener
cavernöser Lungentuberkulose bei Kindergärtnerin 2001/2002 Landkreis N.
Ergebnisse
Tbc-Kleinepidemie ausgehend von Stammtischen in Gastwirtschaften und dem Großraumbüro
einer Versicherung
Besonders hervorstechend war 2001 in Oberbayern eine Infektionskette im Landkreis
E. (Abb. [1]), ausgehend von einem 55-jährigen Frührentner (2), bei dem sich - bei bekannter
Alkoholkrankheit in früheren Jahrzehnten - eine Psychose eingestellt hatte. Er war
im Februar 2001 u. a. mit einer kavernösen Lungentuberkulose mit Bakterienausscheidung
im Rahmen einer Tuberkulose-Screening-Untersuchung dem pneumologischen Consiliarius
einer psychiatrischen Fachklinik aufgefallen. Bakterienausscheidung war schon seit
ca. 6 Monaten anzunehmen. Wegen fortgesetzter Uneinsichtigkeit (bei Unverträglichkeit
einiger Antituberkulotika, erheblicher hepatischer Pathologie mit Blutungsneigung)
war die Unterbringung in einem geschlossenen Bezirkskrankenhaus richterlich angeordnet
worden.
Bereits im Dezember des Jahres 2000 war der Verwaltungsangestellte einer Versicherung
(1) ebenfalls aus dem oberbayerischen Landkreis E. mit einer spez. Pleuritis aufgefallen,
im Januar 2001 ließ sich bei ihm eine Lungentuberkulose, ausgelöst von M. tuberculosis
kulturell sichern. Zunächst hatten sich noch keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang
dieser beiden Tuberkulosefälle ergeben.
Im Rahmen der zunehmend umfangreicher werdenden Umgebungsuntersuchungen bei den Patienten
zeigte sich dem zuständigen Gesundheitsamt jedoch bis zum Oktober 2001 ein epidemiologisch
recht aufschlussreicher Zusammenhang.
Die Recherchen waren dadurch erschwert, dass der massiv Bakterien ausscheidende Ersterkrankte
(2) zahlreiche Gastwirtschaften frequentiert hatte, sodass zunächst eine umfangreiche
Befragung des Gaststättenpersonals nötig war: Insgesamt war er in 7 Lokalen gewesen,
wobei sich aber wohl nur in 3 Gaststätten engere Kontaktmöglichkeiten ergeben hatten
(A, B, C in der Abb. [1]). Als passionierter Kartenspieler saß er bevorzugt in der Gastwirtschaft A. am Stammtisch
und hatte dort auch - wie sich herausstellte - mehr Kontakte, als primär angegeben
wurden. Unmittelbare Kontaktpersonen waren zwei Mitspieler (7, 8) in der Gastwirtschaft
A (ein Angehöriger einer Firma und ein Rentner), die selbst im Oktober des Jahres
an einer ansteckenden kavernösen Lungentuberkulose erkrankt sind. Beide hatten dort,
(wie erst später bekannt wurde) außerdem Karten gespielt mit zwei Verwaltungsangestellten
(4 und 5), die im Großraumbüro derselben Versicherung tätig waren, wie der ursprünglich
an Lungentuberkulose erkrankte Kollege (1).
Im August des Jahres 2001 erkrankte auch noch die 16-jährige Tochter eines anderen
Mitarbeiters der Versicherung an kavernöser Lungentuberkulose (3). Diese hatte häufig
ihren Vater im Büro abgeholt und sich, bis dieser mit seiner Arbeit fertig war, oft
an den Schreibtisch gesetzt gegenüber dem Verwaltungsangestellten (4), der im Rahmen
der Umgebungsuntersuchung im September 2001 mit kavernöser Lungentuberkulose (111)
auffiel. Auch mit dem Verwaltungsangestellten (1) - (112) - hatte sie sich des öfteren
unterhalten.
Ferner war in demselben Großraumbüro noch ein weiterer Verwaltungsangestellter (5)
ebenfalls im Jahr 2001 an kavernöser Lungentuberkulose erkrankt (111), der sich wohl
seine Erkrankung, wie der andere Kollege (4) auch, am Stammtisch der Gastwirtschaft
A. geholt hatte. Die Umgebungsuntersuchung ergab bei einer weiteren Verwaltungsangestellten
der Versicherung (6), die ebenfalls im Großraumbüro tätig war, wie die bisherigen
Erkrankten, im September 2001 eine noch nicht ansteckende Lungentuberkulose - (128).
In der Realschule, die von der Erkrankten (3) damals besucht wurde, fanden sich im
Rahmen der Umgebungsuntersuchung noch zwei Tuberkulinkonversionen bei einer 16-jährigen
Mitschülerin und einem 17-jährigen Mitschüler.
Bei der Umgebungsuntersuchung mussten insgesamt 565 Personen untersucht werden, wobei
sich im Großraumbüro der Versicherung, außer den 4 Erkrankten, unter Einbeziehung
der Teeküchenkontakte, insgesamt 12 Tuberkulinkonversionen ergeben hatten.
Die Tbc-Kranken wurden sämtlich einer umgehenden antituberkulotischen Behandlung zugeführt,
die in den meisten Fällen zunächst stationär begonnen hatte. Glücklicherweise fand
sich in den Kulturen jeweils M. tuberculosis mit voller Sensibilität auf alle gängigen
Antituberkulotika.
Die mit den vorhandenen positiven Kulturen durchgeführte RFLP zeigte im Institut für
medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität Regensburg insgesamt 5 identische
RFLP-Muster gegenüber dem Indexfall (2). Eine weitere Tbc-Kultur aus dieser Umgebung
war aus labor-technischen Gründen leider für RFLP-Zwecke nicht mehr verwendbar, da
sie sich weder in flüssigem noch auf festem Medium weiter anzüchten ließ [9]
[10].
Tuberkulose-Kleinepidemie am Arbeitsplatz und in der Skihütte: Landkreise D/M
Im März des Jahres 2001 wurde dem zuständigen Gesundheitsamt eine Erkrankung an linksseitiger
Oberlappen-Tuberkulose mit Einschmelzung von einer Fachklinik gemeldet [s. Abb. [2]]. Der einheimische 51-jährige Erkrankte hatte eine Manager-Funktion im Rahmen einer
größeren Firma inne, seit mehreren Monaten litt er unter einem asthmoiden Krankheitsbild,
klagte über Husten, schließlich auch über Temperaturerhöhung. In der Klinik kam es
schließlich zu Hämoptysen bei allgemeiner Blutungsneigung, auch im Rahmen der bronchoskopischen
Untersuchung. Im Sputumausstrich fanden sich säurefeste Stäbchen, die Sputumkultur
erbrachte das Wachstum von M. tuberculosis mit voller Sensibilität auf alle gängigen
Antituberkulotika. Es war unklar, wie sich der Patient infiziert hatte, da ein alter
Befund bei ihm nicht vorlag, der auf Reaktivierung hingedeutet hätte. Nachdem auch
viele Flugreisen stattgefunden hatten, war eine Ansteckung im Flugzeug oder auch auf
einem Flughafen z. B. in Südamerika zu diskutieren [3].
Die Umgebungsuntersuchung erfasste zunächst die eigene Familie [11]
[12], wobei ein 11-jähriges Mädchen (s. Abb. [2]), mit einem deutlich positiven Tuberkulintest präventive Chemotherapie mit INH erhielt
- ein früheres TT-Ergebnis war allerdings nicht bekannt.
Ein weiteres Mädchen (12 J.) reagierte nicht auf Tuberkulin, hier wurde jedoch Chemoprophylaxe
mit INH betrieben.
Bei der Umgebungsuntersuchung (s. Abb. [2]) fiel ein Mitarbeiter am Arbeitsplatz (3) im August des Jahres 2001 mit aktiver
pulmonaler Tuberkulose auf, das Kulturergebnis bestätigte ein Wachstum von M. tuberculosis.
Auch bei der früheren Sekretärin des Erkrankten (2) konnte im September 2001 M. tuberculosis
in der Sputumkultur nachgewiesen werden, dessen Muster sich mit der Finger-Printing-Methode
im Nationalen Referenz-Zentrum für Mykobakterien in Borstel mit dem Ergebnis des Bakteriums
beim Ersterkrankten (1) vernetzen ließ.
Die Umgebungsuntersuchung ergab ferner, dass der Erkrankte (1) sich mit einigen Kontaktpersonen
im März 2001 auf einer Skihütte aufgehalten hatte, wobei auch sein später erkrankter
Mitarbeiter (3) anwesend war. Dessen Sohn (5), wie auch der Sohn (4) einer Skiurlauberin
(6), die mit die Hütte besucht hatten, fielen im Mai des Jahres 2001 als Tuberkulin-Konvertoren
auf und erhielten daher präventive Chemotherapie mit INH. Im September des Jahres
2001 fand sich auch bei der besagten Skiurlauberin (6) eine aktive Lungentuberkulose,
in der Kultur war M. tuberculosis nachzuweisen. Die Vernetzung der restlichen Kulturen
mit der Kultur des Ersterkrankten (Fingerprinting) war leider nicht mehr möglich,
da die eingeschalteten Labors ihre Kulturen bereits vernichtet hatten.
Die Kontaktpersonen des Erkrankten hatten kaum Beschwerden, das Ergebnis der wiederholt
durchgeführten Umgebungsuntersuchung beweist daher den Wert der Einbeziehung möglichst
aller direkten Kontakte für die Fallfindung.
Nicht nach § 36 IfSG untersuchte Spätaussiedlerin verursacht Tbc-Erkrankung und -Infektionen
bei Kindern durch Tätigkeit in Reha-Klinik
In Ausführung des Infektionsschutzgesetzes [7] werden Asylbewerber, wenn sie einen entsprechenden Antrag gestellt haben, sowie
Spätaussiedler z. B. aus den GUS-Staaten einem Tuberkulose-Screening unterzogen, da
die Herkunftsländer häufig eine sehr hohe Tuberkuloseprävalenz aufweisen. Leider gibt
es auch hierbei immer wieder Untersuchungslücken, wenn solche Zuwanderer z. B. nicht
über reguläre Verteilungsstellen wie Friedland oder Nürnberg ankommen, u. U. einer
anderen Regelung unterfallen und somit ohne jegliches Tuberkulose-Screening ihre Bestimmungsorte
erreichen.
Wie schon in früheren Jahren - bei nicht untersuchten Bosnien-Flüchtlingen - kann
es dann sein, dass Träger einer vorhandenen, aber unentdeckten Lungentuberkulose,
in den Arbeitsprozess eingegliedert werden und in sehr sensiblen Bereichen mit entsprechenden
epidemiologischen Folgen zum Einsatz kommen [13]
[2].
Ein solches Beispiel ergab sich im Jahr 2001 im oberbayerischen Landkreis B.T., wobei
eine in Kasachstan gebürtige Russland-Deutsche (1) Anlass zu einer bundesweiten -
sehr großen - Umgebungsuntersuchung (s. Abb. [3]) gab.
Im Jahr 2002 wurde dem zuständigen Gesundheitsamt die Tuberkuloseerkrankung einer
38-jährigen Frau gemeldet, deren Vater vor 32 Jahren in Kasachstan eine Tuberkulose
durchgemacht hatte. Im Jahr 2000 war die Erkrankte von Kasachstan direkt eingereist
und in ein oberbayerisches Übergangswohnheim für Spätaussiedler eingewiesen worden.
Auf eine Tuberkulose war sie nicht untersucht worden, sie habe zunächst auch keinerlei
Beschwerden bemerkt. Wissentlich habe sie erst seit Dezember 2001 gehustet und etwa
38 °C. Temperatur gemessen. Der im März 2002 aufgesuchte Hausarzt habe „Darmgrippe”
diagnostiziert, bronchitische Beschwerden aber nicht weiter abgeklärt.
Nachdem keinerlei Besserung eingetreten war, wurde eine internistische Praxis im Mai
2002 konsultiert, wobei erstmals eine Röntgen-Thoraxuntersuchung veranlasst worden
sei. Anschließend erfolgte die Einweisung in eine pneumologische Fachklinik wegen
hochgradigen Verdachts auf kavernöse Lungentuberkulose. Im Sputumausstrich fanden
sich säurefeste Stäbchen, die Kultur zeigte ein Wachstum von M. tuberculosis mit voller
Sensibilität auf alle gängigen Antituberkulotika.
Beruflich gehörte die Frau einer externen Putzkolonne an, die auch zur Desinfektion
von außerhalb in Kliniken zum Einsatz kam, u. a. in einer, auf die Rehabilitation
von Kindern und Jugendlichen spezialisierten Fachklinik.
Ein 3-jähriges Mädchen (2) aus dem Regierungsbezirk Niederbayern, das bekanntermaßen
an infektassoziiertem frühkindlichen Asthma bronchiale litt, war wegen therapieresistenten
Hustens im November 2001 für 13 Tage stationär in die besagte Reha-Klinik aufgenommen
worden. Neben erhöhter BKS und Leukozytose waren erhöhte Temperaturen und ein Virusexanthem
aufgefallen. Nach weiterer Befindensverschlechterung zu Hause hatten sich seit Mitte
Dezember 2001 Fieber bis 40 °C., Müdigkeit und Inappetenz eingestellt, es bestand
Therapieresistenz bei unspezifischer Antibiotikagabe. MM-Test (GT 10) am 27.12.2001
war negativ, der GT 100 am 3.1.2002 zeigte Induration von 14 mm mit Blasenbildung.
Es fand sich ein Erythema nodosum an den Beinen. Nach Aufenthalt in zwei weiteren
Kinderkliniken und schließlichem Wachstum von M. tuberculosis aus einer Magensaftkultur
wurde das Mädchen in eine Kinderklinik für Atemwegskrankheiten und Allergien in Baden-Württemberg
verlegt. Hier ergab sich eine komplizierte Hiluslymphknotentuberkulose, wobei unter
Gabe einer antituberkulotischen Dreier-Kombination (INH, RMP und PZA, vorübergehend
auch Streptomycin) unter hohen Temperaturen nach Prednisolon-Gabe erst allmählich
eine Besserung eintrat.
Im Bereich des niederbayerischen Heimatlandkreises war vom Gesundheitsamt zunächst
eine Quellensuche bei 26 Personen der unmittelbaren Umgebung ergebnislos geblieben.
Nach Bekanntwerden des Tuberkulosefalles in der Putzkolonne, die in der Reha-Klinik
tätig war, wurde die RFLP aus den Kulturen der Putzfrau und des 3-jährigen Mädchens
in den Asklepios-Fachkliniken M.-Gauting erstellt, wobei Übereinstimmung der Banden
festzustellen war.
Da während des mutmaßlichen infektiösen Stadiums der erkrankten Frau in der Reha-Klinik
von ihr in den Zimmern, wo sie geputzt hatte, viele Patienten - vorwiegend Kinder
und Jugendliche - kontaktiert werden konnten, mussten ca. 800 Personen in die Umgebung
mit einbezogen werden, verteilt über das ganze Bundesgebiet, die sich von September
2001 bis Mai 2002 für mindestens drei Wochen in der besagten Klinik befunden hatten.
Die Recherchen ergaben z. B. in Unterfranken, wo 50 Kontaktpersonen benannt worden
waren, unter Einbeziehung dreier weiterer Eltern, dass von 43 getesteten Kindern und
Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen unter 20, ein Kind mit einer MM-Reaktion von
GT 10 bei 7 mm und zwei Kinder mit einer Reaktion über 15 mm reagierten. Hier wurde
dann präventive Chemotherapie mit INH verabfolgt, da man eine Infektion annahm. Bei
einer jugendlichen Reagentin aus Kasachstan war u. a. deshalb Kontakt mit der Erkrankten
zu vermuten, weil sie sich in ihrer Muttersprache länger mit dem Putzpersonal unterhalten
hatte. Auch aus Mecklenburg-Vorpommern wurde ein 15-jähriges Mädchen mit einer Tuberkulinkonversion
nach Mendel-Mantoux-Testung gemeldet, das in der fraglichen Zeit in der Klinik Kontakt
gehabt hatte. Hier wurde präventive Chemotherapie mit INH über 6 Monate durchgeführt.
Tuberkulose-Kleinepidemie 2001 nach lange unentdeckt gebliebener kavernöser Lungentuberkulose
bei Kindergärtnerin in der Oberpfalz
Ein einheimischer 42-jähriger Beamter (2), der viel beruflichen Kontakt mit Zuwandererkollektiven
hatte, hatte bislang alle zwei Jahre aus eigenem Interesse seinen Tuberkulinstatus
überprüfen lassen: Im August 2001 hatte sich erstmals eine Tuberkulinkonversion ergeben.
Die angefertigte Röntgen-Thoraxaufnahme war ohne Befund. So nahm er an, dass die Ansteckung
wohl aus dem beruflichen Bereich herrühre: aktuelle Tuberkulosefälle waren hier jedoch
in diesem Zeitraum nicht bekannt.
Im November 2001 berichtete er dem zuständigen Gesundheitsamt dann von dem mittlerweile
schlechten Befinden seiner Ehefrau (1), die als Kindergärtnerin tätig war und bereits
im Januar 2001 einen Allgemeinmediziner konsultiert hatte. Dieser hatte die Beschwerden
als im Wesentlichen „psychisch ausgelöst” betrachtet. Nachdem bei mehrmaliger Konsultation
des Hausarztes keine Besserung eingetreten war, hatte sie im März des Jahres einen
HNO-Arzt aufgesucht, der für den angegebenen permanenten Hustenreiz in erster Linie
die trockenen Schleimhäute verantwortlich gemacht hatte. Die Konsultation eines zweiten
HNO-Arztes hatte ein ähnliches Ergebnis erbracht.
Weitere Abklärung oder Überweisung zu einem Lungenarzt, Internisten oder Radiologen
ist nicht erfolgt. Die Patientin war am Ende nach vielen frustranen Arztkonsultationen
so deprimiert, dass sie schließlich einen Heilpraktiker aufgesucht hatte. Dieser war
der Meinung gewesen, es liege hier eine massive Pilzerkrankung vor und hatte eine
strenge Diät verordnet. Hierauf hatte sich der Zustand der Patientin weiter verschlechtert.
Letztlich führten der Leidensdruck und der therapieresistente Husten die Patientin
(1) dazu, sich am 7. November 2001 schließlich im Gesundheitsamt vorzustellen, worauf
dort eine Röntgen-Thoraxaufnahme angefertigt wurde, die das Vorliegen einer multikavernösen
pulmonalen Tuberkulose ergab. Es erfolgte Einweisung in eine pneumologische Fachklinik,
nachdem bereits im Sputumausstrich massenhaft säurefeste Stäbchen nachzuweisen waren.
Hierbei handelte es sich um M. tuberculosis mit voller Sensibilität auf alle üblichen
Antituberkulotika.
Die sich jetzt anschließende Umgebungsuntersuchung des zuständigen Gesundheitsamtes
(s. Abb. [4]) betraf neben dem privaten Umfeld (drei minderjährige Kinder in der eigenen Familie),
29 Verwandte und Bekannte des engeren Kreises, die zu untersuchen waren, hiervon 10
Kinder. Bei einem 14-jährigen Jungen (4) fand sich - nach drei Monaten Beobachtung
- eine Tuberkulinkonversion.
Beruflich war die Erkrankte erst im September 2001 wieder als teilzeitbeschäftigte
Erzieherin in einem Kindergarten tätig geworden und hatte hierbei eine Kindergruppe
von 3- bis 4-Jährigen betreut. Von den 15 Kindern der eigenen Gruppe zeigten sich
bei 4 Kindern Tuberkulinkonversionen, wonach präventiv mit INH behandelt wurde. Bei
6 weiteren Kindern ohne Tuberkulinreaktion wurde die Chemoprophylaxe mit INH durchgeführt.
Ein dreijähriges Mädchen (3) war im Dezember 2001 auffällig, im Rahmen der Magensaftuntersuchung
fand sich eine positive Magensaftkultur (M. tuberculosis). Dieses Kind wurde anschließend
zunächst mit einer 3er-Kombination, dann mit einer 2er-Kombination antituberkulotisch
behandelt. Die RFLP-Bestimmung aus dieser Magensaftkultur zeigte schließlich im Institut
für medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität Regensburg eine Übereinstimmung
mit den Banden aus der Bakterienkultur der Erzieherin.
Aufgrund dieser Situation kam das Gesundheitsamt nicht umhin, die Umgebungsuntersuchung
noch weiter auszudehnen. Es wurden auch noch andere Kinder des Kindergartens untersucht.
Von 72 Kindern fielen bei 30 Tuberkulinkonversionen im Rahmen der Testung mit dem
Tuberkulintest auf. Die Röntgenaufnahmen waren in diesen Fällen ohne Befund. Ferner
wurden noch 14 Personen (Geschwisterkinder) und besorgte Mütter untersucht, allerdings
ohne Auffälligkeiten. Auch die Röntgenuntersuchungen des Kindergartenpersonals im
Rahmen der Umgebungsuntersuchung zeigten keine pathologischen Ergebnisse. Bei 11 weiteren
Personen, die als Kindergartenpersonal im September mit der Erkrankten zusammen eine
Fortbildung besucht hatten, ergaben sich jeweils negative Tuberkulintests. Auch beim
Praxispersonal der konsultierten Arztpraxen (18 Personen) fanden sich keine auffälligen
Befunde. Untersucht werden musste auch eine Gymnastikgruppe von 108 Personen, wobei
zwei Tuberkulinkonversionen resultierten. Der Röntgenbefund war unauffällig.
Insgesamt waren 294 Personen direkt in die Umgebungsuntersuchung miteinbezogen, davon
126 Kinder.
Bei den Kindergartenkindern resultierten insgesamt 35 Tuberkulinkonversionen. In 10
Fällen wurde präventiv mit INH behandelt, in einem Erkrankungsfall war der Einsatz
einer antituberkulotischen 3er-Kombination erforderlich. Das weitere Umfeld war unauffällig.
Diskussion
Die aufgeführten 4 oberbayerisch/oberpfälzischen Tuberkulose-Kleinepidemien des Jahres
2001, ins Jahr 2002 hinein, zeigen einerseits, welch weitverzweigte Folgen ansteckende
Tuberkuloseerkrankungen haben können, wenn sie über längere Zeit unentdeckt bleiben.
Hier erweist sich die aktive Fallsuche des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Rahmen
des Infektionsschutzgesetzes („Umgebungsuntersuchung bzw. Quellensuche”) [7] nach wie vor als unverzichtbar und Erfolg versprechend (s. Abb. [1] u. [2]). Schnelles und konsequentes Handeln erscheint besonders wichtig bei gefährdeten
Kollektiven, wie Kindern (s. Abb. [3] u. [4]) und Immungeschwächten.
Die mikrobiologische Aufarbeitung mit der „Fingerprint-Methode” („RFLP”) stellt ein
zusätzliches Mittel der Beweissicherung dar, welche Kontakte jeweils zur Erkrankung
geführt haben [8]
[11]
[12]. Sie erscheint auch geeignet, bei der Umgebungsuntersuchung nicht erwähnte Kontaktpersonen,
die als „an Tuberkulose erkrankt” gemeldet werden, selbst nachträglich noch einer
Infektionsquelle zuzuordnen. Dies ist möglich, wenn Vergleichskulturen noch verfügbar
sind.
Wie wichtig die konsequente Durchführung der nach § 36 des Infektionsschutzgesetzes
erforderlichen Tbc-Screening-Untersuchungen bei deutschstämmigen Spätaussiedlern [7]
[14] ist (analog den Untersuchungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) zeigt die Infektionskette
in Abb. [3].
Nachdem durch die „Globalisierung” eine Bevölkerungsdurchmischung auch hierzulande
stattfindet, muss dem ärztlicherseits Rechnung getragen werden: Im Falle des Einsatzes
von nicht ausreichend untersuchtem Personal aus Ländern sehr hoher Tuberkuloseprävalenz
in sensiblen beruflichen Bereichen (Klinik, Kindergarten u. a. m., s. Abb. [3]), wächst diesbezüglich auch den Betriebsärzten eine hohe Verantwortung zu [4]
[1].
Besonders evident ist, dass infolge des konsequenten Tuberkuloserückgangs der vergangenen
Jahrzehnte, in Deutschland zahlreiche Ärzte das Krankheitsbild heute offenbar nicht
mehr kennen und daher diese Infektionskrankheit differenzialdiagnostisch gar nicht
mehr ins Kalkül ziehen: Dies stellt eine Herausforderung für die ärztliche Fortbildung
dar, damit die viel zu langen Latenzzeiten (wie aufgezeigt) zwischen erster Arztkonsultation,
Stellen der richtigen Diagnose und Therapiebeginn, auf einen vertretbaren Zeitraum
reduziert werden. Dies erfordert zudem enge Kooperation zwischen Hausarzt, fachärztlichen
Praxen, Krankenhaus/Fachklinik und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst.
Angesichts offener Grenzen ist Deutschland heute Durchgangsland für Arbeitskräfte
aus zahlreichen Ländern hoher Tuberkuloseprävalenz, von denen ein Teil hier integriert
wird. Gerade bei der oft uncharakteristischen Symptomatik der Tuberkuloseerkrankungen
sind bei mehrwöchigem Husten in der Anamnese bei Tbc-Hochprävalenzgruppen die drei
Komponenten: Tuberkulintest, rechtzeitige Röntgenthoraxaufnahme und exakte mikrobiologische
Aufarbeitung des Sputums unabdingbar. Im Hinblick auf den Therapieerfolg, wie auch
aus epidemiologischen Gründen, sind ferner Typendifferenzierung und Resistenztest
sehr wichtig.
All dies darf auch im Rahmen der geplanten Gesundheitsreform in Deutschland nicht
„unter die Räder kommen”: Die wohl kostensparendste Maßnahme bei der Tuberkulose ist
nach wie vor die rechtzeitige Auffindung der Bakterienquellen und mithilfe administrativer
und therapeutischer Eingriffe die schnelle Unterbrechung der Infektionsketten. Die
Tatsache der „Globalisierung” muss hierzulande künftig noch mehr berücksichtigt werden:
Anderenfalls bleibt diese Krankheit eine „Zeitbombe”, wie es Lee B. Reichman und Janice
Hopkins Tanne in ihrem gleichnamigen Buch [3] anschaulich beschrieben haben. Nichthandeln oder zu spätes Handeln wird bei Tuberkuloseerkrankungen
gefährlich und sehr teuer.