Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2003; 13(6): 330-338
DOI: 10.1055/s-2003-45432
Wissenschaft und Forschung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Stellschrauben” des Zugangs zur Rehabilitation: Lösungsmöglichkeiten für das prognostizierte Budgetproblem der Rehabilitation durch die Gesetzliche Rentenversicherung

„Set Screws” for the Access to Rehabilitation: Possible Solutions to the Forecast Budget Problem in Rehabilitation by the German Statutory Pension InsuranceN.  Gerdes1, 2 , D.  Blindow3 , P.  Follert2 , W.  H.  Jäckel1, 2 , E.-L.  Karl3 , W.  Wehowsky3
  • 1Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung, Bad Säckingen
  • 2Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • 3Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg
Further Information

Publication History

Eingegangen: 28. Mai 2003

Angenommen: 10. September 2003

Publication Date:
11 December 2003 (online)

Zusammenfassung

In den kommenden Jahren ist voraussichtlich einerseits mit einem deutlich steigenden Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen zu rechnen - vor allem deshalb, weil die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge ins „reha-bedürftige” Alter kommen und die Einführung der „Diagnosis Related Groups (DRG)” im akutmedizinischen Bereich zu einer Ausweitung der Leistungen führen wird. Andererseits wird die Finanzlage der Rentenversicherung und die „Deckelung” des Budgets für Rehabilitationsleistungen keine Erhöhung der Ausgaben für Rehabilitationsleistungen zulassen. Aufgrund dieser Entwicklungen wird es in den nächsten Jahren zunehmend zu einer „Schere” zwischen Bedarf und Finanzierungsmöglichkeiten im Bereich der Rehabilitation durch die Rentenversicherung kommen. Wir sehen zwei prinzipielle Lösungsstrategien mit mehreren Umsetzungsvarianten, die jeweils spezifische Probleme aufweisen. 1. Es könnte versucht werden, die Zahl der genehmigten Anträge an das verfügbare Budget anzupassen. Dazu könnten entweder die Bewilligungskriterien verschärft oder die bewilligten Anträge einer „Priorisierung” unterzogen werden. Aus mehreren Gründen halten wir diese Strategien für juristisch problematisch bzw. für nicht zielführend. 2. Deshalb müsste versucht werden, die durchschnittlichen Fallkosten zu senken, um kostenneutral eine größere Fallzahl bewältigen zu können. Dies könnte über einen Ausbau der Maßnahmen zur ambulanten Rehabilitation geschehen, bei der pro Fall ca. 30 - 40 % der Kosten eingespart werden könnten. Der Versuch, die steigenden Fallzahlen allein über einen Ausbau der ambulanten Rehabilitation aufzufangen, würde allerdings zu massiven strukturellen Veränderungen führen: Um einen Anstieg der Fallzahlen um 15 % auf diese Weise zu kompensieren, müsste die stationäre Rehabilitation um 30 % abgebaut und die ambulante Rehabilitation auf das 10fache (!) des gegenwärtigen Standes ausgebaut werden. Wir empfehlen deshalb, für diejenigen Antragsteller, bei denen nur singuläre (und nicht die sonst für die Rehabilitation typischen mehrdimensionalen) Therapieziele verfolgt werden müssen, neue Formen der Rehabilitation (sog. „Reha-Module”) zu entwickeln und zu erproben, die in niedriger Frequenz - dafür aber ggf. über mehrere Monate - berufsbegleitend ambulant durchgeführt werden. Chancen und Risiken dieser Empfehlung werden im Artikel ausführlich diskutiert.

Abstract

In the years to come, the demand for rehabilitation is expected to increase due to several reasons: first, the high-birthrate generation of the fifties will reach the age in which the need for rehabilitation arises. Secondly, the introduction of „diagnosis related groups” (DRG) will lead to a shortening of length of stay in acute hospitals and to an increasing demand for post-hospital rehabilitation. On the other hand, the fixed budget for rehabilitation by the German Statutory Pension Insurance (as well as its general financial situation) will not allow to increase the financial means available for rehabilitation. In consequence, a situation is expected in which the demand for rehabilitation will increasingly exceed the disposable financial means. There are two possible strategies to cope with this situation: 1.) The number of approved applications could be adjusted to the disposable budget. To this end, either the criteria for approval could be tightened or the approved applications could be ranked according to priority. For several reasons, however, these solutions are problematic in legal terms or not really promising in terms of the intended effects. 2.) Therefore, attempts should be made to reduce the mean costs per case in order to increase case numbers without raising overall expenditure. This could be achieved by increasing the number of patients treated in outpatient rehabilitation facilities (at present, less than 5 % in Germany), thereby saving about 30 - 40 % per case. If, however, an increase of case numbers in rehabilitation by 15 % should be coped with only by extending the use of less expensive outpatient rehabilitation, it would result in very severe structural changes of the whole system of rehabilitation: Inpatient rehabilitation facilities would have to be cut down by 30 %, and outpatient facilities would have to be extended to a capacity almost ten times (!) as large as today. In order to limit such structural consequences, we recommend a moderate extension of outpatient rehabilitation in combination with the introduction of new forms of rehabilitation („rehab modules”) for patients not needing the full amount of multi-dimensional therapies offered in comprehensive in- or outpatient rehabilitation facilities. Such outpatient rehab modules would consist of training therapies and/or health education programmes; they would be performed at low frequencies (2 hours once or twice per week) while patients continue to work and could be continued over longer periods (up to several months). Prospects and risks of this proposal are discussed in the article.

Literatur

  • 1 Buschmann-Steinhage R. Evidenz-basierte Rehabilitation als Basis für Planung. Referat bei der 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Rehabilitation bei Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (GRVS). Mölln; 13. - 15. Juni 2002, http://www.grvs.de/download/gastro2002.pdf
  • 2 Spyra K, Müller-Fahrnow W, Hansmeier T, Bentz J, Tittel B. Demographische und kurative Bedingungsfaktoren des Reha-Bedarfs - Möglichkeiten und Grenzen von einfachen Zeitreihenmodellen.  Die Rehabilitation. 1999;  38 (Suppl 2) S80-S85
  • 3 SVR Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen .Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Gutachten 2003. Kurzfassung.  http://www.svr-gesundheit.de
  • 4 Neubauer G, Nowy R. Das DRG-System erfordert Fallpauschalen in der Rehabilitation.  f&w. 2002;  19 179-181
  • 5 SVR Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen .Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Gutachten 2003. Langfassung.  http://www.svr-gesundheit.de
  • 6 VDR Statistik .Statistik - Rehabilitation - Zeitreihen - Bewilligte Anträge auf Leistungen zur Rehabilitation bzw. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. http://www.vdr.de
  • 7 Clade H. Von der Versorgung zum „Empowerment”. Bundesversicherungsanstalt für Angestellte betont den Wandel in der Leistungsgewährung.  Deutsches Ärzteblatt. 2003;  100 C658-660
  • 8 BfA Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Hrsg) .Leitlinien zur Rehabilitationsbedürftigkeit. Berlin; 1999
  • 9 BfA Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Hrsg.) .Rehabilitationsbedürftigkeit und übergreifende Problembereiche - Leitlinien für den Beratungsärztlichen Dienst der BfA (2. Fassung). Berlin; Februar 2002
  • 10 Cibis W. Die Indikationsstellung zur medizinischen Rehabilitation und die Probleme einer Rationierung bei der Bewilligung aus sozialmedizinischer Sicht. Deutsche Rentenversicherung 1997: 345-354
  • 11 VDR Statistik Rehabilitation des Jahres 2001 .Statistik - Rehabilitation - Statistikbände - VDR-Statistik Rehabilitation des Jahres 2001. http://www.vdr.de
  • 12 Maier-Riehle B, Schliehe F. Der Ausbau der ambulanten Rehabilitation.  Die Rehabilitation. 2002;  41 (Heft 2/3) 76-80
  • 13 Maier-Riehle B, Schliehe F. Aktuelle Entwicklungen in der ambulanten Rehabilitation.  Die Rehabilitation. 1999;  38, Suppl 1 S3-S11
  • 14 Bührlen B, Jäckel W H. Teilstationäre orthopädische Rehabilitation: Therapeutische Leistungen, Behandlungsergebnis und Kosten im Vergleich zur stationären Rehabilitation.  Die Rehabilitation. 2002;  41 148-159
  • 15 Dietsche S, Bürger W, Morfeld M, Koch U. Struktur- und Prozessqualität im Vergleich verschiedener Versorgungsformen in der orthopädischen Rehabilitation.  Die Rehabilitation. 2002;  41 103-111
  • 16 Bürger W, Dietsche S, Morfeld M, Koch U. Ambulante und stationäre orthopädische Rehabilitation - Ergebnisse einer Studie zum Vergleich der Behandlungsergebnisse und Kosten.  Die Rehabilitation. 2002;  41 92-102
  • 17 Orde A vom, Schott T, Iseringhausen O. Behandlungsergebnisse der kardiologischen Rehabilitation und Kosten-Wirksamkeits-Relationen. Ein Vergleich stationärer und ambulanter Versorgungsformen.  Die Rehabilitation. 2002;  41 119-129
  • 18 Bölsche F, Hasenbein U, Reißberg H, Lotz-Rambaldi W, Wallesch C-W. Kurzfristige Ergebnisse ambulanter vs. stationärer Phase-D-Rehabilitation nach Schlaganfall.  Die Rehabilitation. 2002;  41 175-182
  • 19 Schönle P W. Ambulante und stationäre neurologische Rehabilitation - ein katamnestischer Vergleich.  Die Rehabilitation. 2002;  41 183-188
  • 20 Lotz-Rambaldi W, Buhk H, Busche W, Fischer J, Bloemeke U, Koch U. Ambulante Rehabilitation alkoholabhängiger Patienten in einer Tagesklinik: Erste Ergebnisse einer vergleichenden katamnestischen Untersuchung von tagesklinischer und stationärer Behandlung.  Die Rehabilitation. 2002;  41 192-200
  • 21 Rüddel H, Jürgensen R, Terporten G, Mans E. Vergleich von Behandlungsergebnissen aus einer psychosomatischen Fachklinik mit integriertem vollstationären und teilstationären Behandlungskonzept.  Die Rehabilitation. 2002;  41 189-191
  • 22 Klingelhöfer H E, Lätzsch A. Wirtschaftliche Aspekte der ambulanten Rehabilitation - Methodische Ansätze und Zwischenergebnisse aus einem Projekt zur Wirtschaftlichkeit ambulanter Rehabilitation in Mecklenburg-Vorpommern.  Die Rehabilitation. 2002;  41 1201-1208
  • 23 Riehemann W, Muthny F A. Einstellungen orthopädischer Rehabilitationspatienten zu verschiedenen Rehabilitationsformen. Münster; LIT Verlag 1996
  • 24 Rische H, Löffler H E. Rehabilitationsbedarf höher als die Inanspruchnahme.  Die Angestelltenversicherung. 1998;  10 394-404
  • 25 Karoff M, Müller-Fahrnow W, Kittel J, Vetter H O, Gülker H, Spyra C. Teilstationäre kardiologische Rehabilitation - Akzeptanz und Bedingungskonfigurationen für die Settingentscheidung.  Die Rehabilitation. 2002;  41 167-174
  • 26 Raspe H, Héon-Klin V. (1999): Zur empirischen Ermittlung von Rehabilitationsbedarf.  Die Rehabilitation. 1999;  38 (Suppl 2) S76-S79
  • 27 Raspe A, Hèon-Klin V, Hüppe A, Matthis C, Raspe H. Chronische Rückenschmerzen: Sind sie das gesundheitliche Hauptproblem? Ergebnisse eines gestuften Surveys unter LVA-Versicherten. 11. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Frankfurt/M; DRV-Schriften Band 33 VDR 2002: 101-103
  • 28 Dodt B, Peters A, Héon-Klin V, Matthis C, Raspe A, Raspe H. Reha-Score für Typ 2 Diabetes mellitus: Ein Instrument zur Abschätzung des Rehabilitationsbedarfs.  Die Rehabilitation. 2002;  41 237-248
  • 29 Gerdes N, Weis J. Zur Theorie der Rehabilitation. In: Bengel J, Koch U (Hrsg) Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften. Berlin; Springer Verlag 2000: 41-68
  • 30 Tiedt G. Rechtliche Grundlagen der Rehabilitation. In: Dellbrück H, Haupt E (Hrsg) Rehabilitationsmedizin. München, Wien, Baltimore; Urban & Schwarzenberg 1996: 27-50
  • 31 Fliedner T M, Gerdes N. Wissenschaftliche Grundlagen der Rehabilitation bei chronischen Krankheiten. Situationsanalyse und Zukunftsperspektive. Deutsche Rentenversicherung 1988: 227-237

Dr. med. Nikolaus Gerdes

Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung e. V. · Department für Epidemiologie und Sozialmedizin

Postfach 1052

79701 Bad Säckingen

Email: gerdes@hri.de

    >