PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 317-318
DOI: 10.1055/s-2003-45308
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Krisen und Suizidalität

Steffen  Fliegel, Arist  v. Schlippe
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. Dezember 2003 (online)

Krisen gehören zum menschlichen Leben und zeigen, dass Menschen in Not sind. Die chinesischen Schriftzeichen für Krise bestehen aus zwei Teilen: ‚Untergang’ und ‚Chance’. Das Bewältigen von Krisen, selbst oder im Erleben anderer hilft, die eigenen Kompetenzen zu stärken und gewappneter für die nächste Herausforderung zu sein. Das Kennzeichen von Krisen ist es, dass sie mit Grenzen konfrontieren und dass sie Prämissen infrage stellen, die bislang unhinterfragt für das Leben als gültig erlebt wurden. Die damit häufig verbundene mehr oder weniger starke existenzielle Erschütterung geht mit heftigen Gefühlen einher.

Je nach

Art der Krisensituation psychischer Verfassung dem Vorhandensein persönlicher Ressourcen und Eingebundenheit in das persönliche soziale Netz

sind betroffene Menschen in der Lage zur Krisenbewältigung. Ist die Krise zu massiv, zu traumatisch, zu lang anhaltend und reichen die persönlichen oder sozialen Bewältigungshilfen nicht aus, ist professionelle Krisenintervention notwendig. „Krisenintervention erscheint zunächst als ein Interventionsangebot, dem ein gemeinsames Verständnis zugrunde liegt, das durch eine präventive Orientierung mit der Betonung auf Bewältigung und Ressourcenaktivierung, sofortige Hilfe, niedrigschwelliges und zeitlich begrenztes Angebot, Einbeziehung relevanter Beziehungspersonen sowie multiprofessionelle Zusammenarbeit gekennzeichnet ist.” [1]

So ist Krisenintervention anzusiedeln zwischen Prävention (Krisenbewältigung zur Vorbeugung), Beratung (konkrete Unterstützungsangebote, Anleitung zur Selbsthilfe) und Psychotherapie (Behandlung psychischer Probleme zur Bewältigung der Krise).

Nach Simmich und Reimer[2] ist es allerdings aufgrund der übergreifenden Fachzuständigkeit und der uneinheitlichen Verwendung der Begriffe Krise und Krisenintervention schwer, den psychotherapeutischen Zugang zu definieren. Da Krisenintervention in der Psychiatrie sich überwiegend auf Unterstützung in akuten Notfällen konzentrierte, haben sich differenzierte psychotherapeutische Konzepte der Krisenintervention vor allem in der ambulanten und stationären psychotherapeutischen Praxis entwickelt: ein Grund für PiD, sich diesem Feld anzunehmen, zumal die Grenzen zwischen Krisenintervention und Psychotherapie fließend sind (genauso wie die Grenzen zwischen Beratung und Psychotherapie). Vielleicht sind die Konzepte und Strategien zwischen den benachbarten und in sich verzahnten Hilfsangeboten ja ähnlich. Wir meinen, dass jeder Psychotherapeut und jede Psychotherapeutin auch Kompetenzen in der Krisenhilfe haben sollte, sich insbesondere mit dem Thema Suizidalität und Suizid auf der therapeutischen Beziehungsebene und in der Selbsterfahrung auseinander gesetzt haben sollte.

Krisen gehören zum therapeutischen Alltag und fordern Therapeutinnen und Therapeuten heraus. Nicht selten sind diese von der Heftigkeit der Emotionen mit berührt und von der Gefährlichkeit der Situation auch existenziell mit betroffen - nicht zuletzt deshalb, weil der Suizid sich für viele Krisen als vermeintlich letzter Ausweg anbietet, den heftigen und schmerzlichen Gefühlen zu entgehen.

Aber auch viele andere Berufsgruppen sind direkt oder indirekt mit Krisen konfrontiert, denn Krisen zeigen sich schließlich sehr unterschiedlich und vielfältig wie die Menschen, die sie erleben. Sie werden erkennbar im Polizeialltag auf dem Kiez oder auf dem Führerstand eines ICE der Deutschen Bahn, auf deren Schienen sich täglich im Schnitt drei Menschen suizidieren, vielen bekannt durch die lapidare Zugansage „Personenschaden”. Lokführer, Polizisten, Feuerwehrleute, Seelsorger, Helfer der Heilsarmee, aber auch Gastwirte und Friseure sind immer wieder mit menschlichen Krisen konfrontiert, obwohl sie für die persönliche und zwischenmenschliche Auseinandersetzung in der Regel nicht geschult sind. Dennoch sind sie - falls eine Hilfe noch möglich ist - wichtige Zuhörer und Zuhörerinnen oder Bindeglieder zu anderen Profis. Zu denen gehören insbesondere die Telefonseelsorge und die spezifischen Krisenzentren, die sich mit explizit Kurzzeit-orientierten Kriseninterventionskonzepten als Ansprechpartner verstehen. Ebenso existieren Versuche, integrierte Krisenversorgungskonzepte für eine ganze Region bereitzustellen.

Krisenintervention eignet sich besonders gut für den Dialog, denn der therapeutische Alltag unterscheidet sich mehr durch die Konfliktlage und die jeweiligen Settings als durch die Besonderheiten der jeweiligen „Schule”. So ist es ein großer Unterschied, ob eine Krise im Rahmen einer stabilen therapeutischen Beziehung reflektiert werden kann, oder ob Beratungskontakt und -kontrakt bestimmt werden durch die ständige Sorge, ob der Patient oder die Patientin in der nächsten Sitzung wohl wiederkommen oder ob er/sie sich suizidiert haben wird. Wieder ganz anders sieht es aus, wenn man in einer akuten Krisensituation neben dem „Menschen auf dem Dach” steht, der droht, sich hinunterzustürzen, oder wenn man mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, die am Rande des Suizids stehen, wenn man Krisenintervention in der Gruppe betreibt oder reflektiert, welche Dynamik die Suizidalität von Patienten in Teams auslösen kann. Wie kann unterstützt werden in der suizidalen Krise? Wie sieht die rechtliche Sicht aus?

Wie lässt sich dieser Facettenreichtum angemessen in einem Heft von PiD unterbringen? Wir haben ein spannendes und vielfältiges Heft für Sie, liebe Leserinnen und Leser, zusammengestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wir sind von der Idee ausgegangen, dass gerade bei der Arbeit mit Menschen in Krisen die Beiträge der einzelnen Therapieschulen sich durchdringen, dass es aber durchaus reizvoll ist, wie gewohnt die Orientierung an den drei großen Richtungen aufrechtzuerhalten, durch die PiD repräsentiert ist. Wir haben weiterhin versucht, verschiedene therapeutische Instrumentarien vorzustellen, die für den therapeutischen Alltag hilfreich sein können und darüber hinaus der Beschreibung von Strukturen Raum gegeben, die speziell für die Krisenversorgung entwickelt wurden.

Wie immer dienen auch diesmal die Interviews der Abrundung des Themas mit der Beschreibung des konkreten Erlebens. Wir haben Personen befragt, die nicht nur mit Krisen arbeiten, sondern die nachvollziehbar werden lassen, was es heißt, mitten „drinzustecken”, wirklich betroffen zu sein.

Wir möchten Sie einladen, liebe Leserinnen und Leser, all diese Facetten „in den Dialog” zu bringen - in Ihrer persönlichen Resonanz und in der persönlichen Akzentsetzung, die Sie selbst vornehmen. Wir Herausgeber werden anschließend versuchen, diesen Dialog im Resümee zu vertiefen.

In eigener Sache möchten wir an dieser Stelle hinweisen auf die 2. PiD-Fachtagung „Psychotherapie im Dialog” im Frühsommer 2004, vom 24. bis 26. Juni 2004, diesmal in Baden-Baden. Neben dem bewährten Konzept wollen wir Sie einladen, in Laboratorien mit uns an der Gestaltung des psychotherapeutischen Dialogs weiter zu arbeiten, u. a. auch die Konzeptdiskussion zu Krise und Krisenintervention weiterzuführen. Notieren Sie sich schon mal den Termin, vielleicht treffen wir uns ja in einem halben Jahr persönlich ….

1 Bergold J, Schürmann I. Krisenintervention - Neue Entwicklungen? Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 2001; 33(1): 5f.

2 Simmich T, Reimer, Ch. Psychotherapeutische Aspekte von Krisenintervention. Psychotherapeut 1998; 43: 143.

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