Über Jahrzehnte hinweg galten bzw. gelten noch heute in der Suchtarbeit das Leugnen
oder Bagatellisieren eigener Suchtprobleme und fehlende Veränderungsmotivation quasi
als Persönlichkeitsmerkmale Suchtmittelabhängiger. Bereits die verwendete Begrifflichkeit
(z. B. „fehlender Leidensdruck”, „fehlende Mitwirkungsbereitschaft” [compliance])
verweist auf diese Sichtweise.
Die daran anknüpfende Motivierungsdevise lautet nicht selten: Konfrontieren, „Druck
machen” oder Überzeugungs- und Überredungskünste walten lassen. Es folgen daraus Kraft
zehrende und frustrierende Interaktionssequenzen im Stile der „Konfrontations-Leugnungs-Falle”,
bei der der Therapeut immer mehr Argumente für eine Veränderung vorbringt und der
Klient sich immer geschickter gegen eine Veränderung sträubt („Reaktanz”; vgl. Tab.
[1]).
Tab. 1 Beispiel einer Gesprächssequenz im Sinne der „Konfrontations-Leugnungs-Falle” (mod.
nach [1, S. 57])
Therapeut: |
Sie haben offenbar ein schweres Alkoholproblem. |
Klient: |
Was meinen Sie damit? |
Therapeut: |
Sie hatten einen ‚Filmriss‘, verlieren leicht die Kontrolle über den Alkohol und bekommen
Entzugserscheinungen, wenn sie nichts trinken. |
Klient: |
Aber viele Leute, die ich kenne, trinken auch nicht weniger als ich. |
Therapeut: |
Das mag ja sein. Aber wir sprechen im Moment nicht über die anderen, sondern über
Sie. |
Klient: |
Ich denke nicht, dass alles so schlimm ist, wie Sie es darstellen. |
Therapeut: |
Nicht so schlimm?! Es ist purer Zufall, dass Sie noch niemanden zu Tode gefahren haben. |
Klient: |
Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ein sehr sicherer Fahrer bin. Ich habe
mit dem Autofahren keine Probleme. |
Therapeut: |
Und wie steht es mit Ihrer Familie? Ihre Frau hat mir doch gesagt, dass Sie viel zu
viel trinken und damit aufhören sollten! |
Klient: |
Ach, meine Frau stammt aus einer Familie, in der überhaupt kein Alkohol auf den Tisch
kommt. Die denken doch, dass jeder, der drei Bier getrunken hat, schon ein Alkoholiker
ist. |
Ähnliche Effekte zieht der Versuch, den Klienten auf eine Diagnose (z. B. „Alkoholiker”)
„festzunageln”, nach sich („Etikettierungs-Falle”).
Eine völlig andere Sichtweise von Motivation und Motivationsförderung wird in dem
von William R. Miller (Albuquerque, USA) und Steven Rollnick (Wales) entwickelten
Konzept des „Motivational Interviewing” (MI; meist als „Motivierende Gesprächsführung”
übersetzt) vertreten [1]
[2].
Rahmenmodell des MI
Rahmenmodell des MI
Abb. [1] gibt eine Übersicht über die Bestandteile, die in den MI-Ansatz einfließen.
Abb. 1 Komponenten des Motivational Interviewing-Ansatzes.
Der Abbildung ist zu entnehmen, dass mit MI zwei grundlegende Ziele verfolgt werden.
Zur Erreichung dieser Ziele kommen sieben Methoden (bzw. Methodengruppen), die auf
vier fundamentalen Prinzipien der Intervention beruhen und von einem bestimmten „Geist
beseelt” sind, zum Einsatz.
Diese Bestandteile des MI-Ansatzes werden im Folgenden genauer ausgeführt.
Definition und Ziele von MI
Definition und Ziele von MI
Miller und Rollnick definieren MI als „a client-centered, directive method for enhancing
intrinsic motivation to change by exploring and resolving ambivalence” [1, S. 25;
3]. Das heißt: Durch MI sollen zielgerichtet („directive”) die positiven und negativen
Seiten des Suchtmittelkonsums hinsichtlich einer potenziellen Konsumveränderung erkundet
werden, und zwar so, wie sie sich für den Klienten subjektiv darstellen („client-centered”).
Es wird davon ausgegangen, dass durch die respektvolle, nicht wertende Erkundung auch
der sinnhaften Seiten des derzeitigen Konsumverhaltens eine Öffnung für die Nachteile
des bisherigen Konsums erfolgt: Der Klient wird bereit, selbst über die in ihm bereits
„schlummernden” Beweggründe für eine Veränderung zu sprechen („intrinsic motivation”),
und er wird zunehmend offener für eine Konsumveränderung, wenn er erlebt, dass sein
Konsum mit wichtigen Zielen oder Werten in seinem Leben nicht vereinbar ist. MI bedeutet
in diesem Sinne die Freisetzung von im Klienten bereits angelegten Veränderungsimpulsen
(Eigenmotivation) und nicht die Anwendung einer Trickkiste von Motivationsgags à la
Höller & Co.
Das erste Ziel von MI besteht somit darin, mit dem Klienten seine Ambivalenzen im
Hinblick auf den Suchtmittelkonsum zu erkunden („Soll ich etwas ändern oder nicht?”)
und auf diesem Weg die Bereitschaft zu einer änderung zu stärken (Phase 1 des MI).
MI eignet sich dementsprechend in idealer Weise für Klienten, die sich gemäß dem „Stadien-der-Veränderung-Modell”
im Prozess des Nachdenkens über eine Verhaltensänderung („contemplation”) befinden
(vgl. [4]; Beitrag Hoyer, in diesem Heft).
Ist der Klient zu einer Veränderung bereit, stellt sich in Phase 2 die Aufgabe, Veränderungsziele,
den Veränderungsweg sowie einen konkreten Veränderungsplan zu erarbeiten („decision”
im Sinne des „Stadien-der-Veränderung-Modells”). Erfahrungsgemäß ist Phase 1 der schwierigere
und zeitaufwändigere Teil der Wegstrecke.
Die Umsetzung der geplanten Veränderungen (z. B. im Rahmen einer ambulanten oder stationären
Behandlung; „action” im „Stadien-der-Veränderung-Modell”) ist nicht mehr Gegenstand
von MI.
„Geist” des MI
„Geist” des MI
MI ist ganz wesentlich durch einen der Humanistischen Psychologie nahe stehenden „Geist”
(„spirit”) bzw. eine innere Haltung (Menschenbildannahmen, Ethik), mit der man Menschen
gegenübertritt („a way of being with people” [1, S. 34]), geprägt: Respekt und Achtung
für den Klienten sowie das Bestreben, die Autonomie des Klienten zu wahren, sind fundamental.
MI ist somit keinesfalls auf die technisch geschickte Abwicklung eines Gesprächs zu
reduzieren („It is not a bag of tricks for getting people to do what they don’t want
to do” [1, S. 35]).
Auch wenn der „Geist” des MI bisher in keine explizite, kohärente Systematik gebracht
worden ist, lassen sich die folgenden wesentlichen Komponenten eines solchen „MI-Geistes”
aus vorliegenden Veröffentlichungen und Trainerseminaren extrahieren.
Ambivalenzmodell
Dem MI liegt die (Menschenbild-)Annahme zugrunde, dass Menschen mit Suchtproblemen
nicht unmotiviert, sondern ambivalent sind (zwiespältig: „einerseits möchte ich etwas ändern, andererseits aber auch nicht”)
und bei ihnen „zwei Seelen in einer Brust schlagen”. Das Wippe-Modell (Abb. [2]) verdeutlicht diesen Gedanken: Es gibt aus Sicht des Konsumenten jeweils gute Gründe
für und gegen eine Änderung.
Abb. 2 Wippe-Modell: Abwägen zwischen Nutzen und Kosten einer Veränderung bzw. Nichtveränderung
(modifiziert aus [1, S. 15]). Der linken Seite („pro Veränderung”) soll durch MI mehr
Gewicht verliehen werden.
Einerseits hat die abhängige Person einiges davon, ihren Suchtmittelkonsum zu ändern
(z. B. Erhalt des Arbeitsplatzes, Wiedererlangung des Führerscheins, Verbesserung
der Beziehung zur Partnerin usw.). Andererseits setzt sie bei einer Veränderung einiges
aufs Spiel: Ängste, Depressionen und andere Affekte können bedrohlicher werden, suizidale
Tendenzen zunehmen, es kann der Verlust des „nassen Freundeskreises” drohen usw. Aus
Sicht des MI ist überhöhter bzw. abhängiger Substanzkonsum somit nicht auf eine biologische
Erkrankung, Willensschwäche oder Uneinsichtigkeit zu reduzieren, sondern er ist psychodynamisch
zu verstehen als Ausdruck einer begründeten inneren Zwiespältigkeit. Diese Ambivalenz
ist aus Sicht des MI ein normaler Teil menschlichen Erlebens und Verhaltens und kein
Ausdruck von Pathologie: „Passing through ambivalence is a natural phase in the process
of change” [1, S. 14].
Veränderungspotenzial des Klienten
Mit der Annahme der Ambivalenz geht die Sichtweise einher, dass jede abhängige Person
ein Veränderungspotenzial besitzt („natural change processes that are already inherent
in the individual” [1, S. 41]): Sie selbst trägt in Form der Pro-Veränderungsseite
bereits die Gründe für eine Veränderung in sich. Sie kann also selbst zum Fürsprecher
der eigenen Veränderung werden (intrinsische Motivation), wenn in ihr die Argumente
für eine Veränderung an Gewicht gewinnen - nur dann erscheint im Übrigen eine stabile
Verhaltensänderung überhaupt realistisch: „We believe that unless a current ‘problem’
behavior is in conflict with something that the person values more highly, there is
no basis for motivational interviewing to work” [1, S. 167].
Achtung vor dem Klienten
Die zuvor explizierte Sichtweise, dass der Klient sich durchaus sinnhaft verhält und
sich im Moment - gefangen in seiner inneren Ambivalenz - nicht einfach anders zu verhalten
vermag, erfordert aus Sicht des MI Achtung für den Klienten und Respekt vor seinem
Gewordensein.
Autonomie des Klienten
Beim Einsatz von MI ist eine Haltung eigener Bescheidenheit gefragt. Das eigene Expertentum
(z. B. hinsichtlich des Fachwissens über Sucht) endet bei ethischen Fragen („Soll-Fragen”):
Im Hinblick auf die Fragen, ob er sich letztlich verändern soll, welche Ziele angestrebt
werden sollen und welcher Weg zur Veränderung eingeschlagen werden soll, wird das
Selbstbestimmungsrecht (Autonomie) des Klienten respektiert: „Motivational interviewing
honors and respects the individuals’ autonomy to choose” [1, S. 41].
Widerstand als interaktionelles Phänomen
Widerstand gegen das Eingeständnis eigener Suchtprobleme bzw. die Bereitschaft der
Veränderung wird im MI nicht als Ausdruck eines Persönlichkeitsmerkmals des Klienten,
sondern als Folge von Übergriffigkeiten bzw. Autonomieverletzungen durch den Therapeuten
angesehen: Wenn er Klienten eigene Sichtweisen aufzudrängen versucht und sie nicht
„dort abholt, wo sie stehen”, stabilisieren sich hartnäckiges Leugnen oder Herunterspielen
von Suchtproblemen. Widerstand ist somit Ausdruck einer Dissonanz in der Beziehung:
„It requires at least two people to not cooperate” [1, S. 45]. Offenheit für die Sichtweisen,
Ziele und Handlungspräferenzen der Klienten minimieren dagegen Widerstand. Hilfreich
für MI ist es somit, den eigenen „Rechthaber-Reflex” („righting reflex”) zu bändigen.
„The true art of a counselor is tested in the recognition and handling of resistance”
[1, S. 110].
Partnerschaftliche Beziehung
Im MI wird eine gleichberechtigte, von einer positiven interpersonellen Atmosphäre
geprägte Beziehung zwischen Therapeut und Klient angestrebt, die den Klienten dazu
einlädt, Vor- und Nachteile seines Suchtmittelkonsums zu erkunden und eine Veränderung
zu wagen. In diesem Sinne ist auch der Begriff „MI” zu verstehen: „It is an inter-view,
a looking together at something” [1, S. 25]. Der Therapeut versteht sich in diesem
Dialog weniger als Experte (oder gar Richter), denn vielmehr als „Hebamme”, um intrinsische
Veränderungsmotivation freizusetzen: „[MI] is a collaborative, not a prescriptive,
approach” [1, S. 41].
Aus ethischer Perspektive wird die Anwendung von MI problematisch, wenn der Therapeut
den Klienten zu ganz bestimmten Entscheidungen „bringen” möchte (z. B. sich für eine
Therapie in der zur Beratungsstelle gehörigen Fachklinik zu entscheiden), weil sein
Arbeitsplatz oder Einkommen von diesen Klientenentscheidungen abhängt. Der Einsatz
von MI wird noch unethischer, wenn das Ergebnis der Entscheidung gegen die Interessen
des Klienten verstößt und der Therapeut die Macht besitzt, seine eigenen Interessen
durchzusetzen (z. B. indem er ein für den Klienten bedeutsames Gutachten anzufertigen
hat).
Die vorherigen Ausführungen zum „Geist” des MI legen nahe, dass Therapeuten vor einer
Umsetzung des MI-Ansatzes in einen Prozess der Selbstklärung treten und sich eigener
Werte, Überzeugungen und Absichten gewahr werden sollten.
Prinzipien des MI
Prinzipien des MI
Die vier Prinzipien des MI stellen das Vermittlungsstück zwischen dem Geist und den
zum Einsatz kommenden Methoden des MI dar. Diese Prinzipien geben die Leitlinien für
den Dialog mit dem Klienten ab („principles [that] underlie the specific methods”
[1, S. 42]). Sie lauten: Höre dem Klienten respektvoll zu und versuche, sein Verhalten
aus dessen Perspektive zu verstehen (Empathie); entwickle Diskrepanzen zwischen dem
jetzigen Verhalten des Klienten und seinen persönlichen Werten bzw. Zielen; vermeide
alles, was beim Klienten Widerstand hervorrufen könnte, und baue Widerstand ab, wenn
er auftauchen sollte; stärke die Zuversicht des Klienten, sein Verhalten ändern zu
können.
Versetze Dich in den Klienten, um seinen Standpunkt verstehen zu können („express
empathy”; Prinzip 1)
Die von Carls Rogers als zentrales Merkmal hilfreicher Gespräche herausgearbeitete
Bereitschaft und Fähigkeit zur Empathie stellt für das MI eine zentrale Grundlage
dar. Gemeint ist damit das Bestreben, dem Klienten respektvoll zuzuhören, um sein
Erleben und Verhalten aus seiner Innensicht zu verstehen und ihn so zu akzeptieren,
wie er ist. „Verstehen” und „akzeptieren” müssen dabei keineswegs „zustimmen” bedeuten.
Man kann den Klienten in seinem So-Sein annehmen, aber durchaus anderer Meinung sein
oder andere Werte haben als er.
MI macht sich mit dieser Grundhaltung der Empathie die Erfahrung zunutze, dass Menschen
das Risiko der Veränderung leichter eingehen, wenn man sie annimmt, wie sie sind (Theorie
der paradoxen Veränderung).
Entwickle Diskrepanzen („develop discrepancies”; Prinzip 2)
Im Prozess des MI soll der Person ihre eigene Zwiespältigkeit dem Suchtmittelgebrauch
gegenüber erlebbar gemacht werden. Das heißt, dass sie stärker damit in Kontakt gebracht
werden soll, wie ihre Sucht mit wichtigen persönlichen Zielen und Werten (z. B. Erhalt
des Arbeitsplatzes oder Fürsorge für die Familie) in Konflikt steht [5]. Mit anderen Worten: Die Wichtigkeit einer Veränderung soll an innerer Kraft gewinnen.
Dies gelingt am besten, wenn der Klient und nicht der Therapeut die Gründe vorbringt,
die für eine Änderung sprechen, bzw. im Jargon des MI: wenn veränderungsorientierte
Formulierungen („change talk”) aus dem Mund des Klienten kommen. „Change talk” kann
in vier Varianten auftreten:
-
Der Klient spricht über die Nachteile seines derzeitigen Suchtverhaltens, z. B.: „Es
bekümmert mich, dass mein Kind von meinen Drogenkonsum etwas mitbekommt.”
-
Der Klient spricht über die Vorteile einer Verhaltensänderung, z. B.: „Meine Kinder
würden mich wieder besuchen kommen.”
-
Der Klient drückt Optimismus hinsichtlich einer Veränderungsmöglichkeit aus, z. B.:
„Ich glaube, ich kann es ohne Drogen schaffen”.
-
Der Klient formuliert eine Änderungsabsicht, z. B.: „Es ist an der Zeit, etwas zu
tun!”
„Gehe mit dem Widerstand, anstatt dich gegen ihn zu stellen” („roll with resistance”;
Prinzip 3)
Miller und Rollnick [1, S. 48] unterscheiden vier Kategorien von Widerstandsverhalten
bei Klienten:
-
„Arguing”: Der Klient stellt die Kompetenz des Therapeuten in Abrede (z. B. „Was wissen Sie
denn schon über Alkoholiker? Haben Sie selbst einmal gesoffen?”).
-
„Interrupting”: Der Klient schneidet dem Therapeuten das Wort ab.
-
„Negating”: Der Klient leugnet („Ich habe mit dem Alkohol kein Problem”) oder bagatellisiert
eigene Probleme, lehnt Vorschläge oder Hilfsangebote destruktiv ab und/oder zeigt
eine durchgängig negativistische Haltung.
-
„Ignoring”: Der Klient „klinkt” sich aus dem Dialog aus, indem er unaufmerksam ist, nicht antwortet
oder dem Gespräch eine neue Richtung verleiht (z. B. „Wir haben jetzt genug über Alkohol
gesprochen. Was gibt es noch?”).
Derartiger Widerstand wird begünstigt, wenn man einen Menschen gegen seinen Willen
zu etwas bewegen möchte (z. B. zum Eingestehen eigener Suchtprobleme, zu einem abstinenten
Leben, zu einer stationären Therapie usw.) und es dann letztlich um Gewinnen oder
Verlieren geht („Wer hat Recht?”). Aus MI-Sicht gilt deshalb: „Persistent resistance
is not a client problem, but a counselor skill issue” [1, S. 99]. Ein geschulter MI-Therapeut
nimmt Anzeichen von Klientenwiderstand zum Anlass, das eigene Vorgehen zu überdenken
und sein Gesprächsverhalten zu ändern. Dies wird umso leichter fallen, je mehr er
Klientenwiderstand wertschätzen und als normales, verstehbares Verhalten auffassen
kann.
Im Bilde gesprochen: Gutes MI kommt einem schwerelosen, dahingleitenden Tanz in einem
Ballsaal gleich. Die beiden Partner bewegen sich gemeinsam in guter Abstimmung zueinander
im gleichen Rhythmus („dancing”). Das Gegenteil davon ist Catchen, das auf einem permanenten,
Kraft zehrenden Gegeneinander beruht („wrestling”).
Stärke die Veränderungszuversicht des Klienten („support self-efficacy”; Prinzip 4)
Die Zuversicht, der Optimismus bzw. der Glaube eines Menschen, sein (Sucht-)Verhalten
ändern zu können, ist ein guter Prädiktor dafür, ob er sein Verhalten tatsächlich
ändern wird. Dementsprechend wird im MI Wert darauf gelegt, diese Zuversicht („Selbstwirksamkeitserwartung”)
beim Klienten zu nähren - zum Beispiel durch Bezug auf frühere erfolgreiche Verhaltensänderungen
des Klienten oder Erfolge von anderen. Äußerungen von Klienten, die Änderungszuversicht
zum Ausdruck bringen, werden als „confidence talk” bezeichnet. „Confidence talk” stellt
eine Variante von „change talk” dar [1, S. 113 ff].
Methoden des MI
Methoden des MI
Die zuvor erläuterten Prinzipien werden über sieben Methoden (bzw. Gruppen von Methoden)
in beobachtbares Handeln umgesetzt: offene Fragen stellen; dem Klienten „aktiv zuhören”;
Verhalten oder Äußerungen des Klienten würdigen; Methoden, um veränderungsorientierte
Aussagen des Klienten zu fördern; Methoden, um Widerstand zu schwächen; Methoden,
um die Änderungszuversicht zu stärken; zentrale Klientenausführungen zusammenfassen.
Diese Methoden stehen in mehr oder weniger enger Beziehung zu den vier MI-Prinzipien
(vgl. Abb. [1]). Auf die einzelnen Methoden wird im Folgenden eingegangen.
Offene Fragen („open questions”)
Offene Fragen sind Fragen, die nicht durch „ja” oder „nein” bzw. wenige Worte zu beantworten
sind, sondern den Klienten zu einer ausführlicheren Darlegung seiner Sichtweise einladen.
Beispiele: „Wie denken Sie selbst über Ihren Alkoholkonsum?” „Wie haben Sie bisher
schwierige Phasen in Ihrem Leben gemeistert?” Im MI wird durch offene Fragen ein Thema
eröffnet, um es dann durch „aktives Zuhören” (s. u.) und andere Methoden zu vertiefen.
Offene Fragen dienen dazu, dass der Klient sich mit seiner eigenen Sichtweise auseinandersetzt
und dabei auch eigene Ambivalenzen hinsichtlich des Suchtmittelkonsums erkundet.
„Aktives Zuhören” („reflective listening”)
„Aktives Zuhören” ist die methodische Umsetzung einer empathischen, klientenzentrierten
Grundhaltung (Prinzip 1 des MI). „Aktives Zuhören” bedeutet, dass man in der Lage
ist, bei Äußerungen des Klienten „ganz Ohr zu sein” und ihm das Verstandene möglichst
in vertiefter Form zurückzumelden - was gerade auch die emotionalen Zwischentöne des
Ausgedrückten impliziert („dem Anderen aus dem Herzen sprechen” [6]). Ein Beispiel: Klient: „Ich kann die meisten Menschen unter den Tisch trinken”.
Therapeut: „Sie sind stolz darauf, wie viel Sie vertragen.”
Man folgt beim „aktiven Zuhören” der Gedanken- und Erlebniswelt des Gesprächspartners
und verzichtet darauf, eigene Fragen, Themen, Ratschläge, Bewertungen oder Meinungen
- sprich „eigenen Senf” - hinzuzufügen.
Gleichwohl schließt MI nicht aus, zu gegebener Zeit auch eigene Anregungen in konstruktiver
Form in das Gespräch einzuspeisen, sofern der Klient dies wünscht und dem ausdrücklich
zustimmt. Erfahrungen, Sichtweisen und Empfehlungen des Therapeuten können - wenn
nicht mit generellem Gültigkeitsanspruch versehen - durchaus ein Gewinn für den Dialog
sein.
Würdigung („affirmation”)
Die Würdigung bzw. Wertschätzung von Verhaltensweisen oder Äußerungen des Klienten
bringt nicht nur die positive Grundhaltung des Therapeuten gegenüber dem Klienten
zum Ausdruck, sondern sie ist eine herausragende Kraft zur Stärkung des therapeutischen
Bündnisses und Ermutigung des Klienten, das Risiko einer Änderung einzugehen. Beispiele:
„Es muss schwer für Sie gewesen sein, überhaupt hierher zu kommen.” „Mich beeindruckt,
wie sehr Ihnen Ihre Familie am Herzen liegt.” „Ich habe großen Respekt davor, wie
ernsthaft Sie sich mit der Veränderung Ihres Kokainkonsums beschäftigen.”
Methoden zur Förderung von „change talk”
Die in Tab. [2] zusammengestellten acht Methoden dienen der Förderung änderungsbezogener Äußerungen
von Klienten. Es handelt sich dabei um Methoden zur Umsetzung des zweiten MI-Prinzips
„Entwickle Diskrepanzen”.
Tab. 2 Acht Methoden zur Förderung veränderungsbezogener Äußerungen („change talk”; mit Beispielen;
nach [1])
- Offene Fragen („asking evocative questions”) „In welcher Weise machen Sie oder andere sich Gedanken wegen Ihres Kokainkonsums?”
(→ Nachteile des Status quo) „Wie würde Ihr Leben in 5 Jahren aussehen, wenn Sie sich wegen Ihres Heroinkonsums
keine Sorgen mehr machen müssten?” (→ Vorteile einer Änderung) „Wann in Ihrem Leben haben Sie schon einmal größere Veränderungen vorgenommen? Wie
haben Sie das gemacht?” (→ Optimismus) „In welcher Weise möchten Sie Ihren Konsum ändern?” (→ Änderungsintention) |
- Wichtigkeitsrating („using the importance ruler”) „Auf einer Skala von 0 (gar nicht wichtig) bis 10 (sehr wichtig): Wie wichtig ist Ihnen
eine Veränderung Ihres Zigarettenkonsums? Was müsste passieren, damit Sie sich für
den [höheren] Wert ... entscheiden?” |
- 4-Felder-Entscheidungsmatrix („exploring the decisional balance”) Das Für und Wider einer Veränderung und das Für und Wider einer Beibehaltung des Status
quo werden exploriert und in vier Felder eingetragen. |
- Veränderungsmotive genau erkunden („elaborating”) „Wie stellen Sie sich so einen Tag ohne Alkohol genau vor? ... Wie läuft er ab? ...
Was machen Sie anders als vorher? ...” |
- Extrementwicklungen erfragen („querying extremes”) „Was sind Ihre schlimmsten Befürchtungen, was passieren könnte, wenn Sie so weitermachen
wie bisher?” |
- Rückschau halten („looking back”) „Wenn Sie einmal zurückdenken an die Zeit, als der Cannabiskonsum noch keine Probleme
verursacht hatte: Was war da anders?” |
- Zukunft nach Konsumreduktion imaginieren („looking forward”) „Wenn Sie sich entscheiden würden, an Ihrem Heroinkonsum etwas zu ändern: Was würden
Sie sich davon versprechen?” |
- Lebensziele explorieren und Dissonanzen zum Suchtmittelkonsum eruieren („exploring goals and values”) „Was ist Ihnen in Ihrem Leben am wichtigsten? ... Wenn ich Sie richtig verstehe, ist
Ihnen Ihre Partnerschaft sehr wichtig. Gleichzeitig haben Sie geschildert, dass Ihr
Alkoholkonsum zu ständigen Auseinandersetzungen in der Partnerschaft führt. Ich stelle
mir vor, dass Sie das in die Zwickmühle bringt.” |
Die acht Methoden zur Förderung von „change talk” sind unterschiedliche Varianten
offener Fragen. Dazu gehören z. B. Fragen nach Nachteilen des gegenwärtigen Verhaltens
(z. B.: „In welcher Weise machen Sie oder andere sich Gedanken um Ihren Kokainkonsum?”)
und Vorstellungen einer Zukunft ohne Suchtmittelabusus („Wenn Sie sich entscheiden
würden, an Ihrem Heroinkonsum etwas zu ändern: Was würden Sie sich davon versprechen?”).
Miller und Rollnick [1, S. 78 ff.] betrachten die Fertigkeit, änderungsbezogene Äußerungen
(„change talk”) beim Klienten zu evozieren, als „one of the key motivational interviewing
skills” [1, S. 78].
Methoden zum Umgang mit Widerstand
Methoden zum Umgang mit Widerstand stellen die Umsetzung des dritten MI-Prinzips („Gehe
mit dem Widerstand”) in konkretes Handeln dar. Tab. [3] fasst acht Varianten des geschmeidigen, nicht konfrontativen Umgangs mit Klientenwiderstand
zusammen [1, S. 100 ff].
Tab. 3 Acht Methoden des „geschmeidigen” Umgangs mit Widerstand (mit Beispielen; nach [1])
- einfaches Widerspiegeln („simple reflection”) Klient: „Ich trinke überhaupt nicht zuviel - da können Sie mir sagen, was Sie wollen!”
Therapeut: „Für Sie besteht kein Zweifel daran, dass es mit dem Alkohol nicht zuviel
geworden ist. Und Sie möchten nicht, dass ich Ihnen da etwas anderes unterstelle.” |
- überzogenes Widerspiegeln („amplified reflection”) Klient: „Ich habe meinen Alkoholkonsum im Griff. Ich stehe noch aufrecht, wenn die
anderen schon unter dem Tisch liegen.” Therapeut: „Sie müssen sich um nichts Sorgen
machen. Alkohol kann Ihnen überhaupt nichts anhaben.” |
- Widerspiegeln der Ambivalenz („double-sided reflection”) Klient: „Ich weiß: Sie wollen, dass ich überhaupt keinen Alkohol mehr trinke. Aber
das werde ich nicht tun!” Therapeut: „Sie merken, dass es mit dem Alkohol zuviel geworden
ist - aber ganz aufhören kommt für Sie nicht infrage.” |
- Verschiebung des Fokus („shifting focus”) Klient: „Ich weiß: Sie wollen, dass ich überhaupt keinen Alkohol mehr trinke. Aber
das werde ich nicht tun!” Therapeut: „Ich weiß nicht, zu welchem Ergebnis wir kommen.
Verbeißen Sie sich bitte nicht an diesem Punkt. Ich würde mit Ihnen gerne erst einmal
über ... sprechen.” |
- Umdeuten („reframing”) Klient: „Meine Frau nörgelt laufend wegen des Trinkens an mir herum.” Therapeut: „Das
ärgert Sie. Und gleichzeitig klingt es so, als würde sie sich auch Sorgen um Sie machen
- es scheint ihr nicht gleichgültig zu sein, was aus Ihnen wird.” |
- Zustimmung mit einer Wendung („agreeing with a twist”) Klient: „Hier geht es ständig nur um das Thema Alkohol. Mir gehen aber meine Sorgen
wegen meiner Frau und den Kindern nicht aus dem Kopf.” Therapeut: „Stimmt: Wir haben
die ganze Zeit nur über Ihren Alkoholkonsum gesprochen. Es geht aber letztlich um
die ganze Familie - und die sollte im Mittelpunkt stehen.” |
- Herausstellen der persönlichen Wahlfreiheit („emphasizing personal choice and control”) Klient: „Ich weiß: Sie wollen, dass ich überhaupt keinen Alkohol mehr trinke. Aber
das werde ich nicht tun!” Therapeut: „Niemand kann Ihren Alkoholkonsum für Sie verändern.
Es ist allein Ihre Entscheidung.” Oder: „Sie sind ein freier Mensch und es hängt letztlich
von Ihnen ab, wie es weitergeht.” |
- mit der Position des Klienten konform gehen („coming alongside”) Therapeut: „Sie haben einiges über Ihren Alkoholkonsum erzählt, und da gibt es ja
eine Reihe sehr positiver Dinge. Ich frage mich, ob es mir an Ihrer Stelle wirklich
wert wäre, daran etwas zu ändern.” Oder: „Wir haben über die Vor- und Nachteile des
Trinkens gesprochen und die Vorteile überwiegen offensichtlich. Sie sind glücklich
mit Ihrem Trinken und wollen im Grunde nichts verändern.” |
Die ersten drei Methoden stellen Varianten des aktiven Zuhörens dar und sind relativ
einfach umsetzbar. Sie signalisieren dem Klienten, dass der Therapeut sein „Stop!”
gehört hat und ernst nimmt (z. B. Therapeut: „Sie möchten nicht, dass ich Ihnen da
etwas anderes unterstelle”) - was meist bereits ausreicht, um die Luft aus den Segeln
des Widerstands zu nehmen. Die Varianten 4 bis 8 erfordern höhere Anwendungserfahrung
und wollen mit Bedacht gewählt sein.
Methoden zur Förderung von „confidence talk”
Die Methoden zur Förderung der Änderungszuversicht dienen der Umsetzung des vierten
MI-Prinzips („Stärke die Änderungszuversicht des Klienten”). Miller und Rollnick [1] unterscheiden acht Methoden zur Stärkung der Änderungszuversicht (vgl. Tab. [4]).
Tab. 4 Acht Methoden zur Förderung der Änderungszuversicht („confidence talk”; mit Beispielen;
nach [1])
- evokative Fragen („evocative questions”) „Was stimmt Sie optimistisch, dies schaffen zu können?” |
- Zuversichtsrating („confidence ruler”) „Auf einer Skala von 0 (gar nicht zuversichtlich) bis 10 (sehr zuversichtlich): Wie zuversichtlich
sind Sie im Hinblick auf ...? ... Wie kommt es, dass Sie sich bei Wert ... und zum
Beispiel nicht bei Wert 0 eingeordnet haben?” |
- Rückblick auf vergangene Erfolge („reviewing past successes”) „Wann in der Vergangenheit haben Sie sich schon einmal zu einer Veränderung entschlossen
und diese umgesetzt? ... Wie haben Sie das gemacht? ... Was gab es für Hindernisse
und wie haben Sie diese über-wunden?” |
- Ansprechen persönlicher Stärken und Unterstützungsmöglichkeiten („personal strenghts and supports”) „Welche Stärken haben Sie, die Ihnen helfen könnten, diese Veränderung vorzunehmen?
... Wer könnte Sie dabei unterstützen?” |
- Brainstorming „Wenn Sie einmal alle Ideen - so abwegig sie auf den ersten Blick auch erscheinen
mögen - aussprechen, was Ihnen eine Veränderung erleichtern würde: Was fällt Ihnen
da ein?” |
- Weitergabe von Informationen und Empfehlungen („giving information and advice”) Therapeut entfaltet ein „Menü” möglicher Wege zur Veränderung: „Einige Personen haben
folgenden Weg eingeschlagen ... Andere haben ... .” |
- Umdeuten („reframing”) Klient: „Ich habe es mehrmals versucht und bin immer wieder gescheitert.” Therapeut:
„Diese Versuche haben nicht den vollen Erfolg gebracht. Für was waren diese Versuche
gut - welchen Nutzen können Sie daraus ziehen?” |
- Thematisieren hypothetischer Änderungen („hypothetical change”) „Nehmen Sie einmal an, Sie würden Ihr Ziel erreichen und schauten nun darauf zurück:
Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie es geschafft haben? Wie haben Sie das hingekriegt?” |
So kann beispielsweise in der Phantasie ausgemalt werden, welche Kompetenzen für eine
Verhaltensänderung genutzt werden könnten (z. B. „Nehmen Sie einmal an, Sie würden
Ihr Ziel erreichen und schauten nun darauf zurück: Was hat den Ausschlag gegeben,
dass Sie es geschafft haben? Wie haben Sie das hingekriegt?”).
Zusammenfassungen
Periodische Zusammenfassungen von Klientenäußerungen dienen dazu, dass der Klient
immer wieder seine Argumente pro und kontra Veränderung hört und auf diese Weise die
innere Auseinandersetzung mit der eigenen Ambivalenz „am Köcheln gehalten wird”. Zusammenfassungen
können nach einzelnen Gesprächsabschnitten (z. B. nach dem sukzessiven Zusammentragen
verschiedener Argumente pro Veränderung), am Sitzungsende und zu Beginn einer neuen
Sitzung (um den roten Faden wieder aufzunehmen, etwa zu Beginn von Phase 2 des MI)
erfolgen. Ein Beispiel findet sich weiter unten im Abschnitt Einen konkreten Änderungsplan festlegen.
Einen Änderungsplan erarbeiten und vereinbaren (Phase 2 des MI)
Einen Änderungsplan erarbeiten und vereinbaren (Phase 2 des MI)
In der ersten Phase des MI ging es darum, die Motivation für eine Veränderung des
Suchtverhaltens aufzubauen bzw. zu stärken. Äußert sich der Klient vornehmlich änderungsbereit
(„change talk”) und ist Vertrauen in die Möglichkeit einer Änderung erkennbar („confidence
talk”), so geht es nun (in Phase 2) um die Erarbeitung und Vereinbarung eines persönlich
verbindlichen Änderungsplans.
Einleitung von Phase 2 des MI
Phase 2 des MI beginnt damit, dass man dem Klienten eine Zusammenfassung der Ergebnisse aus Phase 1 gibt und dabei seine zentralen Überlegungen, was für eine
Änderung spricht („change talk”) und was ihn zuversichtlich macht, eine Änderung vollziehen
zu können („confidence talk”), einbezieht.
An die Rückversicherung hinsichtlich der Korrektheit der Zusammenfassung („Ich habe jetzt noch einmal zusammengefasst,
was wir bisher besprochen haben. Habe ich das alles richtig verstanden?”) schließt
sich eine so genannte „Schlüsselfrage” („key question”) an: „Sie möchten, dass es so nicht mehr weitergeht. Wie soll es
aus Ihrer Sicht weitergehen?”
Im Anschluss an diese Schlüsselfrage geht es darum, das Ziel der Veränderung, den
Weg zur Zielerreichung, einen konkreten Veränderungsplan und die „Einschwörung” auf
diesen Plan zu erarbeiten.
Ziele vereinbaren („setting goals”; Phase 2a des MI)
Das Credo dieser MI-Phase besteht darin, Veränderungsziele (wie Abstinenz oder kontrolliertes
Trinken) im gleichberechtigten Dialog zusammen mit dem Klienten zu erarbeiten, statt
ihm Ziele vorzusetzen. Letztlich sollte das Ziel verfolgt werden, das sich der Klient
selbst setzt - alles andere würde zu einer ethisch bedenklichen und vom Ergebnis her
zweifelhaften Zwangsbehandlung führen: „The fact is that you cannot impose your own
goals on another person. … You can offer your best advice, but the client is always
free to accept or disregard it. Further arguing and insisting would likely evoke defensiveness
rather than agreement. ... It is far better, we believe, to maintain a strong working
alliance with the client, and to start with the goals toward which he or she is most
eager to make progress. If these goals are misguided, it will become apparent soon
enough” [1 S. 134].
Die Abwägung zwischen verschiedenen Zielen kann durch eine gedankliche Vorwegnahme
der Zielerreichung gefördert werden (z. B. „Was wäre gut, wenn Sie dieses Ziel [Abstinenz,
kontrolliertes Trinken ...] erreichten? Was wäre weniger gut?” Oder: „Was würde es
an Ihrem Leben ändern, wenn Sie den Alkoholkonsum völlig aufgäben?”). Selbsteinschätzungen
der Zuversicht, das Ziel zu erreichen (s. o. „confidence ruler”), können dazu beitragen,
den Blick auf mögliche Schwierigkeiten bei der Zielerreichung zu lenken.
Verschiedene Wege der Zielerreichung in Betracht ziehen („considering change options”;
Phase 2b des MI)
In Phase 2b geht es um die Frage, auf welchem Weg das zuvor festgelegte Ziel erreicht
werden soll und kann. Hier ist die grobe Wegmarkierung gefragt: Meint der Klient,
eine Konsumveränderung aus eigenen Kräften heraus oder mit Unterstützung von Angehörigen,
Freunden oder einer Selbsthilfegruppe schaffen zu können? Hält er eine ambulante Beratung
für sinnvoll? Bevorzugt er eine stationäre Therapie? Ist zusätzlich eine ambulante
oder stationäre Entgiftung vonnöten? Und so weiter.
Auch bei diesen Fragen sollte die Suchtfachkraft nicht den vermeintlich richtigen
Weg vorgeben („Das einzige, was für Sie jetzt sinnvoll ist, ist eine stationäre Langzeittherapie!”).
Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die Vorstellungen des Klienten über den ihm angemessen
erscheinenden Weg zu erfragen und präzisieren zu helfen, bei Bedarf Sachinformationen
über alternative Behandlungsmöglichkeiten und ihre Vor- und Nachteile zu vermitteln
und eine Entscheidung zu ermöglichen, „hinter der der Klient steht”.
Eigene Meinungen oder Empfehlungen sollten in dieser wie in allen anderen Phasen mit
Zurückhaltung und ohne Besserwisserei eingebracht werden. Zuallererst sollten stets
die Vorschläge des Klienten eingeholt werden (z. B.: „Ich kann Ihnen gerne meine Gedanken
dazu mitteilen. Ich möchte aber nicht den Eindruck erzeugen, dass Sie einen bestimmten
Weg einschlagen müssten. Deshalb möchte ich Sie zunächst fragen, ob Sie selbst schon
Ideen haben, wie Sie Ihr Ziel erreichen könnten.”). Sinnvoll ist es zudem, Optionen
anzubieten und die eigenen Vorschläge zu relativieren, etwa wie folgt: „Einige Leute
haben mit Erfolg Folgendes gemacht (nämlich: ...), andere haben den folgenden Weg
eingeschlagen (nämlich: ...). Wichtig ist, dass Sie herausfinden, welcher Weg für
Sie der richtige ist. Was meinen Sie, welches Vorgehen Ihnen am meisten gerecht wird?”
Oder: „Es gibt keinen Weg, der für alle Menschen richtig ist. Ich kann Ihnen - wenn
Sie möchten - sagen, was andere mit Erfolg gemacht haben, und Sie können prüfen, welcher
Weg für Sie am besten passt.”
Einen konkreten Änderungsplan festlegen („arriving at a plan”; Phase 2c des MI)
In Phase 2c werden mit dem Klienten die in Phase 2b erörterten Eckdaten konkretisiert
und das genaue Vorgehen festgelegt, wie etwa: Wann sollen die gewünschten Gespräche
in der Beratungsstelle beginnen und wie oft sollen sie stattfinden? Wer soll an der
Beratung teilnehmen (Klient, Partnerin, weitere Personen)? Wie lange soll die Maßnahme
insgesamt dauern? usw. Der Therapeut kann das Ergebnis z. B. so zusammenfassen:
„Ich möchte gerne einmal zusammenfassen, wo wir nun angelangt sind. Sie wollten wissen,
welche Möglichkeiten es gibt, etwas am Trinken zu ändern, und wir haben über verschiedene
Alternativen gesprochen. Sie denken, dass es vermutlich am besten wäre, gar nichts
mehr zu trinken, aber Sie wollen erst einmal versuchen, mit weniger Alkohol auszukommen.
Sie haben sich verschiedene Vorgehensweisen durch den Kopf gehen lassen und sich dafür
entschieden, nach der stationären Entgiftung jede Woche zu einem Gespräch in die Beratungsstelle
zu kommen. Sie meinen, dass es wohl gut wäre, Ihre Partnerin zu ein paar Gesprächen
mitzubringen. Ganz sicher sind Sie sich bei Ihrem ganzen Plan noch nicht, aber Sie
sind fest entschlossen, etwas zu tun, und das scheint zunächst einmal das gerade Besprochene
zu sein. Habe ich das alles so richtig verstanden?”
Einen derartigen Plan kann man schriftlich festhalten (vgl. [1, S. 137]).
Stärkung der Verbindlichkeit des Änderungsplans („eliciting commitment”; Phase 2d
des MI)
Abschließend empfehlen Miller und Rollnick, sich die Zustimmung des Klienten zu dem
Erarbeiteten einzuholen: „Ist es das,<!?breakb b16> was Sie tun möchten?”
Eventuell können auch gleich die ersten Schritte zur Planumsetzung eingeleitet werden
(z. B. ein Aufnahmezeitpunkt für eine Entgiftungsbehandlung vereinbaren). Wichtig
ist, dass sich der Klient bei alledem nicht gedrängt fühlt. Gegebenenfalls sollte
man ihm Zeit einräumen, um noch einmal über das weitere Vorgehen nachzudenken.
Die innere Zustimmung zum Vorgehen kann dadurch gefestigt werden, dass der Klient
mit anderen über sein Vorhaben spricht.
Anwendung und Wirksamkeit von MI
Anwendung und Wirksamkeit von MI
Der Einsatz von MI im klinischen bzw. suchttherapeutischen Alltag kann in vier Varianten
erfolgen:
-
MI als ausschließliche Behandlung („MI as primary treatment”)
MI als eigenständige Behandlung bedeutet die „reine” Anwendung von MI.
Beispiel: Ein vom Richter zu zehn Sitzungen Zwangsberatung „verdonnerter” Drogenkonsument
erscheint in der Suchtberatungsstelle. Dort erfolgen Gespräche nach Geist, Prinzipien
und Methoden des MI. Ziel ist es, den Klienten zu einem Überdenken seines Drogenkonsums
und ggf. zu einer Verhaltensänderung zu motivieren.
Wirksamkeit: Zur Wirksamkeit dieser „reinen” Form von MI liegen bislang keine empirisch
abgesicherten Effektivitätsnachweise vor (vgl. [7]).
-
MI als übergeordneter Behandlungsstil, kombiniert mit anderen Behandlungselementen („MI as permeating style combined or integrated with other treatment components or
entire treatments”)
Zum zweiten kann MI als Kommunikationsstil während einer suchttherapeutischen, medizinischen,
psychotherapeutischen oder sonstigen Behandlung, in der auch andere Behandlungselemente
zum Einsatz kommen (z. B. Rückmeldung von Laborergebnissen; Einsatz von Informationsmaterial;
Aufbau bzw. Modifikation kognitiv-behavioraler Kompetenzen), herangezogen werden.
In diesem Fall wird von „Adaptiertem Motivational Interviewing” („Adapted Motivational
Interviewing”, AMI) gesprochen [7].
Beispiel: Ein Arzt gibt einem Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung Feedback
über seine Leberwerte, die auf überhöhten Alkoholkonsum hindeuten. Das Feedback wird
im Stil von MI gegeben und auch die anschließende Erörterung möglicher Konsequenzen
(Alkoholkonsum ändern oder nicht?) erfolgt im Geiste und nach den Methoden des MI.
Eine Kombination aus Diagnostik, Feedback und MI liegt auch im Falle des „Drinker’s
Check-up” vor, bei dem auf breiter Basis alkoholbezogene diagnostische Daten erhoben
und dem Klienten im MI-Stil rückgemeldet bzw. besprochen werden [8]. Ähnliche Varianten der MI-Anwendung wurden für kurze Interventionen im Rahmen medizinischer
Behandlungen („Brief Motivational Interviewing”, „Brief Negotiation” [9]) bzw. für den Einsatz bei Alkohol missbrauchenden Studierenden entwickelt („Brief
Alcohol Screening and Intervention for College Students” [10]).
Wirksamkeit: Vielfältige Untersuchungen vor allem im Alkoholbereich, aber auch bei
Drogenabhängigen (vgl. Beitrag Kremer sowie Beitrag Vogt, Schmid und Schu in diesem
Heft), zeigen, dass das mit anderen Behandlungselementen verknüpfte MI Behandlungsabbrüchen
vorbeugt [11] und Suchtverhalten wirksamer reduziert als keine Behandlung bzw. mindestens genauso
effektiv ist wie andere Behandlungen (vgl. [7]). Beispielsweise führte die vierstündige MI-Variante „Motivational Enhancement Therapy”
[15], bei der neben dem „reinen MI” diagnostische Befunde erhoben und mit dem Klienten
besprochen werden, zu genauso starken Trinkmengenreduktionen wie eine dreimal so lange
kognitive Verhaltenstherapie oder ein typisches 12-Schritte-Programm der Anonymen
Alkoholiker [16].
Unklar bleibt in diesen Studien, was der „reine Effekt” von MI in Abgrenzung zu den
anderen Behandlungselementen (wie Rückmeldung diagnostischer Befunde) ist. Zudem bleibt
offen, ob bei den unter der Bezeichnung „MI” durchgeführten Behandlungen auch wirklich
MI lege artis zur Anwendung kam („treatment integrity”; vgl. [7]).
-
MI als vorangestelltes Behandlungselement („MI as prelude”)
Bei dieser Variante erfolgt der erste Kontakt mit dem Klienten nach den Prinzipien
und Methoden des MI. Anschließend erfolgt eine nicht MI-spezifische Standardbehandlung.
Beispiel: Ein Patient wird während einer Krankenhausbehandlung mittels MI in motivierender,
nicht konfrontativer Weise auf seinen Alkoholkonsum angesprochen. Ziel ist es, dass
er nach Entlassung eine Suchtberatungsstelle aufsucht und sich dort weiter mit der
Suchtthematik auseinandersetzt.
Wirksamkeit: Wenn eine MI-Einheit einer anderen Behandlung vorangestellt wird, erhöht
dies die Mitwirkungsintensität in der späteren Behandlung und senkt die Abbruchquote
(bzw. erhöht die „Vermittlungsquote”, wie im zuvor genannten Krankenhausbeispiel;
vgl. [7]
[11]
[17]
[18]).
-
Rückgriff auf MI bei Bedarf („MI as fall-back option”)
Bei der vierten Variante des MI-Einsatzes greift man während einer Behandlung auf
MI-Methoden zurück, wenn motivationale Probleme bei Klienten sichtbar werden.
Beispiel: Während einer Indikationsgruppe „Selbstsicherheit”, die im Rahmen einer
stationären Entwöhnungstherapie angeboten wird, zeigt sich, dass der Klient sich nicht
sicher ist, an seinem Umgang mit Drogen etwas ändern zu wollen. Das Thema „Will ich
tatsächlich etwas an meinem Drogenkonsum ändern?” wird deshalb in einem MI-Dialog
aufgegriffen.
Wirksamkeit: Zu dieser Einsatzvariante des MI liegen bislang keine Wirksamkeitsstudien
vor.
Der Forschungsstand spricht auch für die Wirksamkeit von MI bei nicht substanzbezogenen
Problembereichen, wie etwa Bluthochdruck, Diabetes, psychiatrischen Doppeldiagnosen
und Bulimie (vgl. [7]). Widersprüchliche Ergebnisse gibt es hinsichtlich des Nutzens von MI bei der Behandlung
der Tabakabhängigkeit bzw. der Steigerung der körperlichen Fitness. Keine positive
Wirkungen konnten bislang bei der Beeinflussung HIV-bezogener Risiken festgestellt
werden (z. B. Spritzentausch [7]).
Die Anwendungsmöglichkeiten von MI reichen inzwischen weit in das gesamte Gesundheitssystem
hinein (vgl. [9]
[19]
[20]). Viel versprechende Anwendungsgebiete liegen z. B. in der Beratung Suchtmittel
konsumierender Frauen in gynäkologischen Praxen [21] und der Arbeit mit Straftätern [22]. Erst in Entwicklung befindet sich der systematische Einsatz von MI-Methoden in
Gruppen [23].
Training in MI
Training in MI
Wie aus den vorigen Abschnitten deutlich geworden sein sollte, gehen in den scheinbar
einfachen Ansatz des MI eine Vielzahl Methoden, die flexibel unterschiedlichsten Klientencharakteristika
und Gesprächssituationen angepasst werden müssen, den übergeordneten vier MI-Prinzipien
entsprechen und im Geiste des MI durchgeführt werden sollten, ein. Die Umsetzung dieses
Kompetenzbündels setzt u. a. voraus, dass MI-Anwender in einen Prozess der Selbstklärung
eintreten und sich anwendungsfeldbezogen mit eigenen Wertmaßstäben und Normen, institutionellen
Rahmenbedingungen, Handlungspräferenzen und alten Gewohnheiten auseinandersetzen.
Dieser Mix an Anforderungen an eine kunstfertige Anwendung von MI macht deutlich,
dass es zum Erlernen von theoretischen Grundlagen des MI und der Aneignung von Umsetzungsexpertise
zeitlich angemessener Schulungsmaßnahmen bedarf. Vorträge zu MI oder einmalige Halbtagesworkshops
sind bestenfalls als „appetizer” zu verstehen, um einen ersten Überblick über diesen
Ansatz zu gewinnen bzw. ein Gespür dafür zu entwickeln. Die in Deutschland inzwischen
verbreiteten zwei- bis dreitägigen MI-Workshops für Kliniker mit Praxiserfahrung können
hinsichtlich einiger MI-Methoden Grundkompetenzen vermitteln - nicht weniger, aber
auch nicht mehr: MI „is not an approach that can be acquired merely by reading, listening
to lectures, or watching demonstration videotapes - or, indeed, by attending a single
workshop” [1, S. 186].
Erfahrungsgemäß sind Fortbildungen aus mindestens drei mehrtägigen Blöcken notwendig,
um in Theorie und Praxis beide Phasen des MI zu erlernen, zwischen den Blöcken Gelegenheit
zum Sammeln von Erfahrungen in der berufspraktischen Umsetzung des MI zu erhalten
(„clients are your teachers” [1, S. 181]) und durch Coaching bzw. Supervision diese
Erfahrungen zu reflektieren und sich neue Kompetenzen anzueignen.
1993 starteten Miller und Rollnick damit, MI-Trainer auszubilden. Inzwischen gibt
es jährliche internationale Treffen zur Weiterbildung und zum Erfahrungsaustausch
von MI-Trainern („MINTies”), die in einem internationalen Netzwerk (MINT = Motivational
Interviewing Network of Trainers) und mittels eines Newsletters (MINUET = Motivational
Interviewing Newsletter: Updates, Education and Training) miteinander verbunden sind.
Resümee und Ausblick
Resümee und Ausblick
Die klinischen Erfahrungen aus inzwischen über 10-jähriger MI-Anwendung zeigen, dass
Motivationsgespräche erheblich entspannter und erfolgreicher ablaufen können, wenn
man sich die Sichtweise zu Eigen macht, dass sich Menschen mit Suchtmittelabusus in
einer inneren Situation der Ambivalenz befinden und es neben Veränderungsimpulsen
eine sinnhafte Tendenz zur Nichtveränderung gibt. Eigenmotivation zur Veränderung
wird gefördert, wenn die Motive pro Veränderung gestärkt und gleichzeitig die Motive
kontra Veränderung wertgeschätzt werden (Phase 1 des MI). Ist eine Hinwendung zur
Veränderung erreicht, können im partnerschaftlichen Dialog die Veränderungsziele (Phase
2a), der Veränderungsweg (Phase 2b) und das konkrete Vorgehen (Phase 2c) erarbeitet
und verbindlich gemacht (Phase 2d) werden.
Dieser Ansatz ermöglicht aber nicht nur, dass Suchtarbeit in einer angenehmen und
konstruktiven Atmosphäre stattfinden kann, sondern er ist auch - wie die Forschung
zeigt - wirksam (Senkung von Abbruchquoten, Reduktion des Suchtmittelkonsums) und
bei entsprechender Schulung erlernbar.
Für die zukünftige Weiterentwicklung des MI bleibt zu wünschen, dass „Geist” und ethische
Maximen des MI in eine stringentere, theoretisch begründete Systematik gebracht, MI-Prinzipien
und MI-Methoden klarer aufeinander bezogen, die Wirksamkeit von „reinem” MI geprüft
und der Nutzen von MI für weitere klinische Anwendungsfelder ausgelotet werden. Zu
erhellen bleibt auch die Frage, welche seiner einzelnen Elemente die Wirksamkeit des
MI-Ansatzes ausmachen.
Der interessierten Leserschaft seien abschließend die MI-Bücher von Miller und Rollnick
[1]
[2] zur theoretischen Vertiefung sowie der Besuch von Fortbildungen zur praktischen
Aneignung dieses Ansatzes empfohlen. Weitere und jeweils aktuelle Informationen zum
MI finden sich auf der internationalen MI-Webseite (www.motivationalinterview.org).
Und schließlich sind auch die sieben englischsprachigen Videokassetten von Miller,
Rollnick und Moyers [24] hilfreich, um Einblick in Geist und Methoden des MI zu gewinnen (weitere Angaben
zu Videodemonstrationen auf der internationalen Webseite www.motivationalinterview.
org).