Einleitung
Die Vorstellung von absoluter Drogenfreiheit ist als Therapieziel bei vielen Drogenabhängigen
ein verinnerlichter Wunsch. Die Vorstellung, clean zu leben, ohne Drogen ein selbstbestimmtes
Leben führen zu können und endlich geheilt zu sein, entspricht der Idee normal, unauffällig
und in die gesellschaftliche Werte- und Normenhierarchie wiederaufgenommen zu sein.
Dieser Wunsch begegnet uns auch in der ambulanten psychosozialen Therapie mit Substituierten.
Langzeit- und schwerstabhängige Klienten mit einer manifesten Opiatabhängigkeit formulieren
in aller Regel die Erlangung der Drogenfreiheit als subjektives Therapieziel. Was
aber meint die Klientel konkret damit? Ist das Ziel der Drogenfreiheit wirklich realistisch?
Welche subjektiven Ziele sind gegebenenfalls genauso wichtig oder nachhaltiger? Im
folgenden Beitrag soll anhand eines Fallbeispiels diesen Fragen nachgegangen werden.
Kasuistik
Der Klient (hier Günther genannt) war 44 Jahre alt, als er im Juni 2001 in die ambulante
psychosoziale Therapie für Substituierte kam. Er erschien gemeinsam mit seiner Partnerin
zum Erstgespräch. Die Beziehung bestand seit acht Jahren, beide lebten in einer gemeinsamen
Wohnung. Seine Partnerin war der einzige bestehende drogenfreie Kontakt. Günther war
erwerbslos und aufgrund von Opiatabhängigkeit und leichten Depressionen krankgeschrieben.
Ferner erfuhr ich, dass er einen Hauptschulabschluss besaß, keinen Beruf erlernt,
aber verschiedene Tätigkeiten ausgeübt hatte. Er verfügt(e) über vielfältige Freizeitinteressen,
vor allem im sportlichen und kreativen Bereich.
Der Klient hatte zum Zeitpunkt des Erstkontakts (Beratungsgespräch) einen wöchentlichen
Konsum von 3 g Heroin und dieselbe Menge an Kokain, täglich konsumierte er bis zu
3 g Crack sowie 2 bis 3 g Cannabis. Eine bestehende Substitutionsbehandlung mit 18,5
ml L-Polamidon und zusätzlich 12 Tabletten à 2 mg Benzodiazepin waren ärztlicherseits
die medikamentöse Regelversorgung. Zusätzlich versorgte er sich mit bis zu 20 Tabletten
à 2 mg Benzodiazepin auf dem Schwarzmarkt.
Aus der Suchtanamnese geht hervor, dass er erstmalig mit 13 Jahren Cannabis- und Alkoholerfahrungen
gemacht hatte und drei Jahre später i. v. Heroin konsumierte. Zwischen dem 13. und
dem 44. Lebensjahr hat der Klient, bis auf Barbiturate und XTC, alle Drogen ausprobiert.
Erste Erfahrungen mit Kokain hatte er mit 35 Jahren. Sein polyvalenter Suchtmittelkonsum
führte Günther mit 36 Jahren erstmalig in ein Substitutionsprogramm (32 ml L-Polamidon).
Weitere 3 Jahre später (er war jetzt 39 Jahre alt) kam der exzessive Crackgebrauch
hinzu. Während seiner knapp 30-jährigen Abhängigkeit hat er 15 stationäre Entgiftungen
und unzählige Selbstentzüge hinter sich gebracht. Dreimal hat er stationäre Langzeittherapien
beenden können, einen Therapieversuch hat er abgebrochen. Beim Erstgespräch gab er
an, von den 8 Jahren Substitution vier Jahre ohne ambulante Therapie verbracht zu
haben.
Betrachte ich aus heutiger Sicht den Prozessverlauf des Klienten, so komme ich zu
folgender Beschreibung: Am Anfang stand die Klärung des Arbeitsauftrages und des Arbeitsbündnisses
im Vordergrund der therapeutischen Arbeit. Was ist an Ressourcen vorhanden, welche
Vorstellungen hat der Klient von ambulanter Therapie, welche Ziele kann er formulieren
und gibt es erste Hypothesen zum Suchtverständnis? Nach vier Sitzungen erfolgte das
erste Resümee, die Grundlagen der Zusammenarbeit wurden hier thematisiert und das
Arbeitsbündnis auch formal festgelegt. Als Auftrag für die ambulante psychosoziale
Therapie wurden die Lösungen von Paarproblemen, die Reintegration ins Erwerbsleben,
die Steigerung der Freizeitaktivitäten und die Suchtmittelfreiheit genannt.
Besonders die Anfangszeit galt der Beziehungsbildung, sie ist die Basis der therapeutischen
Arbeit, ist zeitlich besonders intensiv und beginnt mit dem ersten Kontakt.
Bei Günther ging es am Anfang in erster Linie um Probleme mit dem Rentenversicherungsträger
und verschiedenen Gläubigern. Die unmittelbare Lösung oder Erleichterung seiner sozialrechtlichen
Probleme sowie seiner Schuldensituation insgesamt waren hilfreich, um die materiellen
Grundlagen wiederherzustellen. Nachdem diese Probleme angegangen waren, konnte er
sich wieder intensiver auf die Einzelgespräche einlassen. Von hier an waren das Konsumverhalten
und dessen Funktion zentrales Thema der ambulanten Therapie. Diesen Prozess begannen
wir ungefähr mit Beginn des dritten Monats. Wann und in welchen Situationen konsumiert
der Klient welche Drogen? Was erwartet er vom Konsum dieser Drogen, welche Psychodynamik
entsteht vor, während und nach dem Konsum? Was betrachtet er als Gewinn vom Rausch?
Sieht er Gefahren beim Parallelkonsum unterschiedlicher Substanzen und wie ist sein
konkreter Umgang damit? Welche Motivation besteht, um sein Ziel der Drogenfreiheit
zu erreichen, und welche Teilziele müssen dabei beachtet werden? Im Verlauf der Therapie
ging es um die Wahrnehmung der eigenen Ressourcen und die subjektiven Veränderungsoptionen.
Günther hat sein anfänglich doch sehr abstraktes Ziel der Suchtmittelunabhängigkeit
neu definiert. Der Weg war das Ziel und damit auch die Einsicht der Prozesshaftigkeit
von Veränderung. Die Veränderung der Zielhierarchie hat der Klient als äußerst entlastend
wahrgenommen. Zumindest in der Therapie musste er sich nicht dafür entschuldigen,
dass er Drogenkonsument ist und dass er unterschiedliche Drogen parallel konsumiert.
Stattdessen hat er sich die Reduktion des Beikonsums als Ziel gesteckt. Durch die
Übernahme erreichbarer Therapieziele wurde die Motivation gesteigert, die Lebenssituation
unmittelbar zu verbessern. Diese „kleinen” Veränderungen haben deshalb eine Doppelfunktion
im Ergebnis und im Selbstwirksamkeitserleben. Vermehrte Einflussnahme und Steuerung
des Drogenkonsums führten dazu, die Rückfälle oder den Beikonsum als Vorfälle zu deuten,
die grundsätzlich lehrreich sind. Günther ist es gelungen, die Funktion des (Bei-)Konsums
zu problematisieren und zu erkennen. Damit ist der Drogenkonsum weitgehend entmystifiziert
und auf die stabilisierende Funktion des (Bei-)Konsums konnte therapeutisch eingewirkt
werden. Für ihn hatte der (Bei-)Konsum unterschiedliche zum Teil sich widersprechende
Funktionen, u. a. Libidoaktivierung, Umgang mit Aggressionen, Antriebsschwäche, Freizeitgestaltung,
soziale Kontakte. Zehn Monate nach dem Erstgespräch entschließt sich Günther, vom
Beikonsum mit Benzodiazepinen zu entziehen oder diesen zu reduzieren. Er will substituiert
bleiben. Günther benötigt zwei Monate, um benzodiazepinfrei aus dem Krankenhaus entlassen
zu werden. Noch in der Entzugsstation thematisiere ich einen Arztwechsel und kann
ihn motivieren, diesem zuzustimmen. Er bleibt substituiert und hat kurz nach der Entlassung
die ersten Rückfälle mit Kokain, Crack und Benzodiazepin. In dieser Phase war es wichtig,
ihm mehrere Gespräche wöchentlich anzubieten und den schützenden Rahmen der Einrichtung
hervorzuheben. In der Einzelarbeit lag die Betonung auf dem bisher Erreichten und
der Rückbesinnung auf die vorhandenen Ressourcen. Beispielsweise hatte er kein Heroin
konsumiert, weniger Crack und Kokain zu sich genommen und den Kontakt zu mir gehalten.
Mit seiner Ärztin wurden die medikamentöse Einstellung festgelegt sowie die Rahmenbedingungen
und mögliche Sanktionen vereinbart. Es ist gelungen, Günther an jeden Interventionspunkt
mit einzubeziehen, und dort, wo es Widerstände gab, wurden Argumente ausgetauscht
und Kompromisse angeboten. Der Klient wurde auch in der Rückfallphase als mündig und
zur Selbstverantwortung fähig angesehen. Der Arbeitsauftrag hatte sich im Therapieverlauf
verändert, die Verbesserung der Lebensqualität wurde zum subjektiven Therapieziel
und die Erkenntnis, dass nur der Klient selbst dies bewirken kann. Er hat gelernt,
seine persönlichen Kompetenzen zu erweitern, er hat neue (drogenfreie) Bewältigungsstrategien
ausprobiert und schließlich ist es ihm gelungen, sein Konsumverhalten deutlich zu
beeinflussen.
Gut zwei Jahre nach Beginn der ambulanten Therapie erklärte der Klient in einem Gespräch,
dass er „eigentlich clean sei”. Betrachte ich den aktuellen Status zum Zeitpunkt des
Zitats, so gebe ich ihm Recht. Heute sieht die medikamentöse Versorgung 12 ml L-Polamidon
und 3 Benzodiazepin à 2 mg täglich vor. Die einzige illegale Droge, die er mehrmals
wöchentlich konsumiert, ist Cannabis. Szeneheroin hat er nach 12 Monaten und Kokain
nach 15 Monaten beendet. Crack hat er anfänglich gelegentlich konsumiert und dieses
seit 6 Monaten gänzlich eingestellt. Parallel dazu gab es eine deutliche Freizeitaktivierung.
Kreative Fähigkeiten wurden neu entdeckt oder wiederbelebt, z. B. Fotografie, Musik
und Computertechnologie. Körperbewusstsein und Ästhetik wurden neu belebt und der
Kontakt zur Partnerin ist gleichberechtigter geworden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Klient seinen Therapieprozess aktiv gesteuert,
seine Lebensgestaltung beeinflusst und verändert hat und sein Konsummuster massiv
ändern konnte.
Diskussion
Es gibt keine Einwände gegen eine dauernde Abstinenz, solange es sich dabei um ein
subjektives Therapieziel handelt. Die Suchtmittelunabhängigkeit soll als Ziel entmystifiziert
und stattdessen als möglicher Leitgedanke für die Therapie nutzbar und erlebnisfähig
gemacht werden. In diesem Sinne ist eine konstruktive Therapie diejenige, die erreichbare
Ziele steckt. Sind die Ziele erreicht, kann man sich neuen erreichbaren Zielen zuwenden.
Dies bedeutet nichts anderes als die Einführung eines Realitätsprinzips in die ambulante
Therapie mit Drogenkonsumenten. Das Nichtbestehen auf Abstinenz ermöglicht erst Behandlungsfortschritte.
Eine akzeptanz- und adressatenorientierte Drogenhilfearbeit birgt die Chance, dass
Vertrauen und nicht Kontrolle in die therapeutische Beziehung gelangt. Die Klientel
sollte befähigt werden, ihren Konsum zu kontrollieren und die Funktion des Konsums
zu verstehen. Die subjektiven Problemsichten und Problemgewichtungen gilt es zu lösen
oder Erleichterung zu bewirken. Es sollte anerkannt werden, dass der Drogenkonsum
für den jeweiligen Konsumenten immer eine gewisse innere Schlüssigkeit und begründete
Funktionalität hat (Stichworte: Selbstheilung, Selbstmedikation und Bewältigungsstrategie).
Wird der Konsum von Suchtmitteln als Tatsache akzeptiert und beziehen wir uns in unseren
therapeutischen Konzepten auf die Verbesserung von Lebensqualität als primäres Therapieziel,
dann ergeben sich daraus neue Handlungskonzepte. Eine akzeptanz- und adressatenorientierte
Drogenhilfearbeit ist deshalb der erfolgreichere Ansatz, weil er in seinen Konzepten
flexibler handelt und sich nicht einem abstrakten Heilungsideal unterwirft. Die Prämissen
dieses Ansatzes sind parteiliches Engagement für die Klientel, Freiwilligkeit, individuelle
Ressourcenarbeit und harm reduction als Überlebenssicherung und Risikominimierung.
Wenn Günther sich als „eigentlich clean” empfindet, dann weiß er, dass er nicht wirklich
clean ist, er weiß aber auch, dass das „Eigentliche” die wiedergewonnene Lebensqualität
darstellt.