Einleitung
Einleitung
Eine klare Orientierung über den therapeutischen Veränderungsprozess ist nicht nur
im Suchtbereich für Praktiker und Forscher von großer Bedeutung. Modellüberlegungen
über die typische Abfolge von Phasen oder Teilschritten im Rahmen einer Psychotherapie
gibt es deshalb in jeder Therapieschule (vgl. [1]). Am weitesten verbreitet ist das Konzept der „Stadien der Veränderung” [2]. Inzwischen nicht weniger als 2796 Einträge im Suchsystem PsycInfo für das Schlüsselwort
„stages of change” (Stand Juli 2003) belegen dies.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das Modell und ausgewählte empirische Studien
in einem kritischen Überblick darzustellen. Dabei werden konzeptuelle Schwächen und
Probleme bei der Operationalisierung und empirischen Bewährung deutlich. Als Konsequenz
daraus ergeben sich Vorschläge zur Modifikation des Modells im Suchtbereich.
Stadien der Veränderung
Stadien der Veränderung
Die Annahmen über „Stadien der Veränderung” sind ein Teil des so genannten „Transtheoretischen
Modells”, mit dem Prochaska, DiClemente und Norcross [2] eine umfassende und therapieschulenunabhängige Beschreibung der Psychotherapie einschließlich
typischer Verläufe und Prozesse anstreben. Sie postulieren für die psychologischen
- insbesondere für die motivationalen - Prozesse bei der Veränderung problematischer
Verhaltensweisen folgende fünf Stadien:
-
ein vorintentionales Stadium (Precontemplation), in dem eine Verhaltensänderung nicht
in Erwägung gezogen wird;
-
ein Stadium der Absichtsbildung (Contemplation), in dem eine Verhaltensänderung ernsthaft
erwogen wird;
-
ein Vorbereitungsstadium (Preparation), in dem die Absicht zur Verhaltensänderung
besteht und dessen Voraussetzungen hergestellt werden;
-
ein Handlungsstadium (Action), das die aktiven Versuche der Veränderung beinhaltet;
und
-
ein Aufrechterhaltungsstadium (Maintenance), das durch die (aktive) Beibehaltung einer
positiven Verhaltensänderung gekennzeichnet ist (nähere Darstellung vgl. [3]).
Später wurde ein Beendigungsstadium (Termination) ergänzt.[1]
Der Ausstiegsprozess aus einer Abhängigkeit (oder anderen schädigenden Gewohnheiten)
muss dabei nicht durch ein kontinuierliches Fortschreiten über diese Stadien gekennzeichnet
sein; es kann auch zu einem oder mehrfachen Rückschritten oder zu mehrmaligem Durchlaufen
der Abfolge kommen [2].
Es wird angenommen, dass die Stadien distinkt sind und dass sie sich durch eine unterschiedliche
Motivationslage im Hinblick auf Veränderung unterscheiden [5]. Beispielsweise sollten im vorintentionalen Stadium Nachteile einer Veränderung, in der Handlungsphase Vorteile einer Veränderung subjektiv stärker wahrgenommen werden; in der Phase der Absichtsbildung
sollte Ambivalenz deutlich erlebt werden. Für Praktiker und Kliniker wesentlich ist
die Annahme des Transtheoretischen Modells, dass das therapeutische Handeln den in
den einzelnen Stadien unterschiedlichen Veränderungsprozessen (processes of change)
bzw. motivationalen Ausgangsbedingungen angepasst sein sollte (stage matched interventions).
Ein Patient, der noch im abwägenden Stadium der Absichtsbildung ist, wird von einer
Konfrontationsübung nicht profitieren können, sondern muss sich erst für aktive Veränderungsschritte
entscheiden; Motivational Interviewing wäre hier eine angemessene Gesprächsstrategie.
Ein Patient, der sich bereits in der Handlungsphase befindet, erwartet hingegen von
seinem Therapeuten Interventionsvorschläge und weniger ein „motivierendes Gespräch”.
Das Modell spielt besonders im Rahmen des Motivational-Interviewing-Ansatzes eine
wichtige Rolle [6], da es betont, dass der eigentlichen Therapie wesentliche, motivierende Schritte
vorausgehen müssen, die aus dem Rational der (Sucht-)Behandlung nicht einfach ausgeklammert
werden können. Diese Meinung wird jeder Suchtbehandler teilen - über die empirische
Bewährung des Modells ist damit aber noch keine Aussage getroffen!
Das Modell wurde ursprünglich an Rauchern entwickelt. Hierzu liegen auch die meisten
Studien vor (vgl. [7]). Die Generalisierbarkeit dieses Stadienmodells auf andere Problemverhaltensweisen,
einschließlich anderer Substanzabhängigkeiten und/oder psychischer Störungen, wird
jedoch ausdrücklich postuliert. Es soll im Übrigen gleichermaßen für eigenständige
oder therapeutisch geförderte Veränderungen gelten.
Wie misst oder diagnostiziert man die Stadien?
Wie misst oder diagnostiziert man die Stadien?
Wenn es für Behandlungserfolg und -vorgehen von entscheidender Bedeutung ist, in welchem
Stadium sich Patienten befinden, dann ist es wichtig, dass Stadien ökonomisch, aber
auch sicher und valide diagnostiziert werden könnten. Zur Messung der Veränderungsstadien
haben sich ein kategorialer und ein dimensionaler Zugang entwickelt.
Im kategorialen Ansatz sind die Stadien durch bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen
und bestimmte Zeitabschnitte operational definiert (stage algorithm): Wer zum Beispiel
in den letzten 30 Tagen nicht intendiert hat, aufzuhören (mit Trinken oder Rauchen
etc.), der ist dem Precontemplation-Stadium zuzuordnen (vgl. Tab. [1]).
Tab. 1 Beispiel für die operationale Definition der Veränderungsstadien bei Drogenabhängigen
(stage algorithm, vgl. [13])
Precontemplation |
Drogengebrauch während des letzten Monats |
keine Absicht, in den nächsten 6 Monaten aufzuhören |
Contemplation |
Drogengebrauch während des letzten Monats |
Absicht, in den nächsten 6 Monaten aufzuhören, aber nicht in den nächsten 30 Tagen |
Preparation |
Drogengebrauch während des letzten Monats |
Absicht, in den nächsten 30 Tagen aufzuhören |
Action |
kein Drogengebrauch während des letzten Monats, aber in den vergangenen 6 Monaten |
|
Maintenance |
kein Drogengebrauch während der vergangenen 6 Monate |
|
Abgesehen davon, dass in manchen Untersuchungen diese „Algorithmen” nicht logisch
konsistent formuliert wurden [8], stellt sich eine Reihe von Problemen: Zum einen sind die Zeitabschnitte, die zur
operationalen Definition der Stadien herangezogen wurden, relativ willkürlich und
variieren zwischen den Studien. Sutton [8] kritisiert deshalb, das zu messende Konstrukt sei eher als „planned time to action”
beschrieben und die Annahme, es handele sich um distinkte Stadien, sei nicht zu rechtfertigen.
Wenn es aber keine deutlich unterschiedenen motivationalen „Stufen” gebe, dann sei
auch der Vorschlag jeweils spezieller motivierender Interventionen nicht gut begründet.
Die Kritik an dem Algorithmenansatz lässt sich sogar noch fortsetzen: Es handelt sich
nämlich im Kern um einen Prototypen- oder Extremgruppenansatz, in dem viele Patienten
sich nicht abbilden lassen. Insbesondere gilt dies für Betroffene mit einem inkonsistenten
Konsum, häufigen Rückfällen oder „kontrollierten” Konsummustern. (Dies kann man an
dem Beispielalgorithmus (Tab. [1]) durchspielen.) Die gewählten Kategorien bilden auch die vorhandene Heterogenität
von Patientengruppen in keiner Weise ab: Alle Patienten einer Alkoholentwöhnungstherapie
etwa unternehmen im Prinzip etwas gegen ihre Abhängigkeit, allein schon durch die
Teilnahme; sie müssten einheitlich dem Handlungsstadium zugeordnet werden - die in
Wirklichkeit von Therapeuten beobachteten großen Motivationsunterschiede innerhalb dieser Gruppe werden hier nivelliert und es lassen sich aus dem Modell keine ausreichend
differenziellen Vorhersagen ableiten.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Probleme wurden auch dimensional konzipierte Fragebogenansätze
entwickelt. Die wichtigsten sind die
-
University of Rhode Island Change Assessment Scale (URICA [9]); die
-
Stages of Change Readiness and Treatment Eagerness Scale (SOCRATES [10]); und die
-
Readiness to Change Questionnaire (RCQ [11]),
die allesamt auch in deutschsprachigen Versionen vorliegen (vgl. im Überblick [7] und das Elektronische Handbuch für Erhebungsinstrumente im Suchtbereich). Gemeinsam
ist diesen Ansätzen, dass die für die Stadien jeweils typischen Einstellungen oder
verhaltensbezogenen Selbstaussagen als Fragebogenitems vorgegeben werden (vgl. Tab.
[2]).
Tab. 2 Beispielitems aus der Veränderungsstadienskala (deutsche Fassung der URICA, vgl. [12])[*]*
Precontemplation |
Ich vermute, ich habe Schwächen, aber es gibt nichts, was ich wirklich verändern müsste. |
Contemplation |
Ich habe ein Problem, und ich denke wirklich, dass ich daran arbeiten sollte. |
Action |
Ich arbeite wirklich hart daran, mich zu verändern. |
Maintenance |
Das, was ich schon geändert habe, ist für mich nicht so leicht beizubehalten, wie
ich gehofft hatte, und ich bin hier, um einen Rückfall zu verhindern. |
* Preparation wird mit diesem Fragebogen nicht erfasst.
|
Fragebogenverfahren werfen jedoch ebenfalls erhebliche methodische Probleme auf. Vor
allem lassen sich aufgrund des jeweils gefundenen Messwerteprofils nicht ohne weiteres
Zuordnungen zu bestimmten Stadien begründen.
Studien mit psychometrisch konstruierten Skalen zeigen in der Regel hohe Korrelationen
zwischen einzelnen stadienbezogenen Subskalen [7], was der Annahme, es handele sich um distinkte Stadien, widerspricht. Clusteranalysen
erbrachten keine für die postulierten Stadien spezifischen Strukturen, sondern eine
verwirrende Vielzahl unterschiedlicher Cluster, die zum Teil unsystematische Erhöhungen
mehrerer Subskalen aufwiesen und demnach im Sinne des Modells kaum sinnvoll interpretierbar
sind.
Insgesamt legen die Arbeiten zu URICA, SOCRATES und RCQ den Schluss nahe, dass eine
mehrdimensionale Konzeption der Veränderungsmotivation mit kontinuierlichen Skalen
psychometrisch befriedigender sein dürfte als Versuche, mittels Clusteranalysen (z.
B. [5]) oder anderen Methoden [11] scheinbar diskrete Stadien zu generieren. Bei Verwendung interkorrelierter mehrdimensionaler
Skalen bleibt allerdings streng genommen das Modell auf der Strecke und der pragmatische
Gebrauch nach dem Motto „Patient x (z. B. Contemplation) braucht Intervention y” stellt
sich als überzogene Vereinfachung heraus.
Zur konvergenten Validität kategorialer Algorithmen und psychometrischer Instrumente
existieren nur wenige Studien, die insgesamt Zweifel an der konvergenten Validität
kategorialer Algorithmen und psychometrisch konstruierter Instrumente wecken [13]
[14].
Empirische Bestätigung und kritische Bewertung
Empirische Bestätigung und kritische Bewertung
Wenn die Messinstrumente weitreichende Probleme aufwerfen, dann stellt sich die Frage
nach der empirischen Bestätigung des Modells umso dringlicher.
Die weitaus meisten Studien zu den Stadien der Veränderung sind querschnittlich angelegt
und dienen der Untersuchung von Korrelaten der Veränderungsstadien (vgl. [8]). Solche Untersuchungen, die mit einem Stadienalgorithmus Extremgruppen untersuchen
und dann zum Beispiel herausfinden, dass - oft hochselegierte - Probanden im Precontemplation-Stadium
und im Handlungsstadium sich in ihren Einstellungen zu einem Problemverhalten (oder
anderen Merkmalen) unterscheiden, liefern durchaus einen notwendigen Beitrag zur Konstruktvalidität
des Verfahrens; sie beruhen aber auf wissenschaftstheoretisch gesehen wenig „strengen”
Prüfungen und sind im Hinblick auf die eigentlichen Vorhersagen des Modells nicht
hinreichend. Kriterienbezogene Fragen nämlich etwa, ob das Modell auch einen Anwendungsnutzen
im Sinne von Vorhersage und selektiver Indikation von Maßnahmen hat, werden dadurch
nicht beantwortet. Durch dieses Missverhältnis zwischen der Menge erfolgreicher „Tests”
des Modells und dem Mangel an wirklich strengen Prüfungen ist u. E. die manchmal anzutreffende
Überschätzung des Modells zu verstehen. Die Zuordnung von Interventionen auf der Basis
des Modells ist jedenfalls nicht aus querschnittlichen Befunden ableitbar und die
propagierte breite Anwendung ist nur intuitiv, nicht aber empirisch legitimiert. Dazu
müsste das Modell die Entwicklung einzelner Individuen vorhersagen können und es müsste
prognostischen Wert in der Prädiktion von Therapieerfolg, Rückfallquote und bezüglich
der Passung von Therapeut und Patient beweisen. Sutton [8] fordert deshalb zu Recht, dass neben querschnittlichen Designs
-
Studien zu der vorhergesagten Abfolge der Stadien,
-
longitudinale Studien zur Vorhersage des Wechsels von einem Stadium zum anderen sowie
-
feldexperimentelle Studien zur Passung bzw. Nichtpassung zwischen Patientenstadium
und therapeutischen Interventionen
durchgeführt werden müssten.
Aber, so Sutton: „No published studies on alcohol or drug use could be found that
used any of the last three types of research design” (p. 180). Die begeisterte Rezeption
des Modells ist demnach eher auf seine pragmatischen und einfachen Konzepte als auf
wirkliche empirische Bewährung zurückzuführen.
In einer aktuellen eigenen Studie bei Alkoholpatienten in stationärer Entwöhnungstherapie
[15] haben wir neben anderen Fragen untersucht, ob das Veränderungsstadium Vorhersagewert
für die Abbruchquote in der Therapie, für die Therapiedauer und für die Rückfallrate
hat. Dies war auf der Grundlage der Selbstaussagen der Teilnehmer in der Veränderungsstadienskala
für keine der vorherzusagenden Variablen der Fall. Ob dies auf der Grundlage von Therapeutenaussagen
besser gelingt, wird derzeit analysiert.
Ein weiterer Befund dieser Studie: Eine Clusteranalyse ergab als am besten interpretierbare
Lösung nicht die im Modell vorgesehenen vier, sondern drei Cluster. Neben einem modellkonformen
„Precontemplation-Typ” (in der Therapie!) mit nur auf der Precontemplation-Skala erhöhten Werten zeigte sich
auch ein „Veränderungstyp”, bei dem Absicht und Handlung sich aber nicht differenzieren
lassen (hohe Werte bei Absichtsbildung und Handlung). Ein drittes Cluster war durch niedrige Werte auf allen Veränderungsskalen
gekennzeichnet. Also: keine Leugnung des Problems (= niedrige Precontemplation-Werte),
aber auch keine starke Intention zur Veränderung. Dieses - nach dem Modell nicht zu
erwartende - Muster benannten wir analog zu DiClemente und Hughes [5] als eines von „uninvolvierten” Patienten. Aus der klinischen Erfahrung lässt sich
dieses Cluster durchaus gut einordnen: Es beschreibt Patienten, die sich zwar aus
meist extrinsischer Motivation in der Therapie befinden und dort auch „mitmachen”,
jedoch ohne dass dies ein hohes Involvement und echte Eigenverantwortlichkeit impliziert.
Dies ist eine unter Versorgungsgesichtspunkten hoch interessante Gruppe, und die therapeutische
Aufgabe, bei diesen Patienten Motivationsarbeit zu leisten, ist sicher nicht leichter
als bei jenen, die ihr Problem leugnen. Wichtig ist hier die Frage der Wahl der Intervention:
Tendenziell sind bei uninvolvierten Patienten andere Gesprächstechniken und Interventionsangebote
als effektiv anzusehen. Problematisch ist aber, dass die Erforschung der Frage, welche
dies sein mögen (vermutlich sehr strukturierte Angebote), durch das Stadienmodell
nicht erleichtert wird, weil in ihm eine Einordnung dieser Patienten überhaupt nicht
möglich ist.
Bei der Beschäftigung mit dem Modell im Suchtbereich, insbesondere bei alkohol- und
drogenbezogenen Störungen, stellen sich darüber hinaus bereits aufgrund klinisch-sachlogischer
Überlegungen kritische Fragen. Insbesondere: Ist die Grundannahme plausibel, dass
man die Veränderungsbereitschaft im Hinblick auf alle gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen wirklich wissenschaftlich befriedigend mit einem (simplen) Schema beschreiben kann? Ist es psychologisch und körperlich wirklich der
gleiche Veränderungsprozess, ob jemand an einem Tag kein Problembewusstsein bezüglich
seiner Zahngesundheit hat, am nächsten Tag Zahnschmerzen bekommt (Absichtsbildung)
und am dritten Tag den Zahnarzt aufsucht (Handlungsstadium; beliebige andere Beispiele
sind möglich) - oder ob er nach mehreren Jahrzehnten einer Suchtkarriere in der soundsovielten
Einrichtung eine konkrete Maßnahme beginnt?
Weitere Probleme, die sich gerade bei langjährigen Suchtpatienten stellen, sind die
Komorbidität und die Demoralisierung.
Wohl wenige Suchtpatienten haben nur ein Problem (auch wenn es selbstwertdienlich
und aus der Patientenperspektive verständlich ist, dies so zu sehen). Die meisten
haben auch berufliche, soziale oder familiäre Probleme. Häufig bestehen aber auch
komorbide psychische Störungen. Was bedeutet es für den Veränderungsprozess, wenn
der Patient (noch) nicht für alle relevanten Probleme gleichermaßen Veränderungsintentionen
hat? Patienten, die für all ihre Probleme im Handlungsstadium sind, weisen kardinal andere motivationale Voraussetzungen
auf als solche, die nur ihr Suchtproblem angehen wollen. Dies unterstreicht, wie reduktiv die Information: „Person x ist im
Handlungsstadium” sein kann.
Die Tatsache der für viele langjährige Suchtpatienten typischen Demoralisierung ist
ebenfalls zu bedenken; sie wird durch den Terminus „Precontemplation” sicher nicht
beschrieben. Hier gilt eher die aus dem Dosis-Effekt-Modell, einem anderen einflussreichen
„Stadienmodell” (vgl. [17]), entlehnte Regel, dass ein Patient erst aus der Demoralisierung „heraus muss”,
bevor die „Remoralisierung” beginnen kann. Psychosoziale Hilfsmaßnahmen im weitesten
Sinne [18], beginnend mit der Alkohol- oder Drogenentzugsbehandlung, wären hier indiziert.
Dabei gilt der Hinweis, dass sich die Hilfeangebote und -wege auch zwischen den verschiedenen
Substanzabhängigkeiten deutlich unterscheiden und Angebote wie zum Beispiel die Substitutionsbehandlung
nur im Bereich der Heroinabhängigkeit ernsthaft diskutiert werden. Auch dies ist ein
weiterer Beleg dafür, dass das Stadienmodell nicht undifferenziert auf den Suchtbereich
übertragen werden kann.
Fassen wir die genannten empirischen Ergebnisse und die formulierte sachlogische Kritik
zusammen, so kann man dem Stadienmodell der Veränderung einen heuristischen Wert für
Orientierung hinsichtlich der Veränderungen und der mit ihnen verbundenen Prozesse
zwar durchaus zugestehen; dass es eine empirisch bestätigte Lösung für konkrete theoretische
oder anwendungsbezogene Probleme im Suchtbereich darstellt, kann bei kritischer Betrachtung
aber noch keineswegs behauptet werden.
Neue Entwicklungen und Lösungsansätze: das Rückfallstadium
Neue Entwicklungen und Lösungsansätze: das Rückfallstadium
Angesichts der geringen empirische Bewährung des Modells im Bereich von Alkholabhängigkeit
und Drogenkonsum erscheint der Vorschlag von Sutton [8], hier neue oder andere Stadienmodelle zu entwickeln, verständlich. Da sich das ursprüngliche
Modell bereits ausgezeichnet etabliert hat (s. o.), sollten Weiterentwicklungen unserer
Auffassung nach auf diesem aufbauen und es als Orientierungsrahmen heranziehen.
Im Folgenden möchten wir deshalb ein revidiertes Modell vorschlagen, das die besondere
Rolle von Rückfällen und chronischen Verläufen im Veränderungsprozess bei substanzbezogenen
Störungen berücksichtigt, ohne Kernüberlegungen und -konzepte des Veränderungsmodells
aufzugeben. Eine wichtige Erwartung, die dieses Modell erfüllen sollte, ist, dass
Personen mit substanzbezogenen Störungen spezifischer beschrieben werden können und
dass spezifischere therapeutische Handlungsanweisungen ableitbar sind. Es sollen nicht
nur besonders „prägnante” Stadien erfasst werden, sondern auch und gerade der für
lange Verläufe im Suchtbereich typische Zwischenbereich.
Wir können dabei auf einen früheren Vorschlag des Canadian Fitness and Lifestyle Research
Institute zurückgreifen [19]. Grundlegend ist der Gedanke, dass (aktuelle und frühere) „Aktivitäten” und Intentionen
grundsätzlich unabhängige Konstrukte sind. Intentionen machen Handlungen wahrscheinlicher,
ob Handlungen aber wirklich vollzogen und vor allem auf Dauer vollzogen werden, ist
von zusätzlichen volitionalen Prozessen abhängig.
Patienten, die zwar während einer Phase des Rückfalls keine sichtbaren Veränderungsbemühungen
unternehmen, bei denen die Intention zur Abstinenz aber prinzipiell besteht, wären
mit dem bisherigen Stadienmodell nicht einzuordnen. Dabei sind sie gerade in der Suchtversorgung
eine wichtige Gruppe. Unterscheidet man nach Intention, früherer Handlung und aktueller
Handlung, so ergeben sich rein logisch drei zusätzliche Stadien, die die angesprochenen
Probleme modellhaft abbilden können: „Rückfall”, „Rückfallgefahr” und „Resignation/Dropout”
(vgl. Tab. [3]). Beispiele sollen die drei zusätzlichen Stadien verdeutlichen:
Tab. 3 Stadien der Veränderung und Rückfallgeschehen: ein spezifisches dem Rückfallgeschehen
im Suchtbereich angepasstes Stadienmodell
|
frühere Aktivitäten |
jetzige Aktivitäten |
Veränderungsintention |
Precontemplation |
nein |
nein |
nein |
Absichtsbildung/Vorbereitung |
nein |
nein |
ja |
Handlung |
nein |
ja |
ja |
Aufrechterhaltung |
ja |
ja |
ja |
Rückfall |
ja |
nein |
ja |
Rückfallgefahr |
ja/nein |
ja |
nein |
Resignation/Dropout |
ja |
nein |
nein |
Rückfall: Ein Patient mit einem Rückfall (relapse, nicht lapse) unterbricht seine Veränderungsmaßnahmen
und ist deswegen nicht dem Aufrechterhaltungsstadium zuzuordnen. Dass er kein Problembewusstsein
hat, ist möglich (Precontemplation), aber keineswegs selbstverständlich. Alle Rückfälligen,
die grundsätzlich abstinent leben möchten, dies aber aufgrund verschiedener Defizite
(hinsichtlich psychosozialer Variablen wie Abstinenzzuversicht, Selbstmanagementfähigkeiten,
Selbstkontrolle, psychiatrischer Komorbidität etc.) oder Umgebungsvariablen nicht
erreichen können, sind hier einzuordnen.
Rückfallgefahr: Patienten, die zwar auf äußeren Druck oder um anderen etwas zu beweisen, an Maßnahmen
erfolgreich teilnehmen, deren Intentionen aber langfristig nicht am Abstinenzziel
ausgerichtet sind, fallen in diese Gruppe.
Resignation/Drop-out: Patienten, die demoralisiert sind und mehrere langfristig erfolglose Abstinenzversuche
hinter sich haben, geben ihre Veränderungsbemühungen schließlich auf. Dies muss ähnlich
wie im Stadium des Rückfalls aber nicht mit mangelndem Problembewusstsein zu tun haben,
vielmehr wird das Suchtverhalten trotz des Wissens um seine selbstschädigenden Konsequenzen
fortgesetzt.
Den Stadien „Rückfall” und „Resignation” ist gemeinsam, dass die motivationalen Voraussetzungen
für die Anwendung bewältigungsorientierter Interventionen zunächst fehlen: Gesprächsstrategien,
denen das Prinzip des Motivational Interviewing zugrunde liegt, erscheinen demgegenüber
indiziert. Der Akzent in der Gesprächsführung unterscheidet sich deutlich von dem
bei Patienten, die eine weniger lange Vorgeschichte aufweisen (die also wirklich noch
im Precontemplation-Stadium sind). Allgemeine Informationsvermittlung über die Sucht
ist möglicherweise nicht (mehr) indiziert und es können im Beratungsgespräch auslösende
und aufrechterhaltende Bedingungen nicht nur in Abhängigkeitsphasen, sondern auch
für Abstinenzphasen exploriert werden.
Aus diesem revidierten Modell lassen sich erweiterte und spezifischere Gesprächstechniken
für Therapeuten und Berater ableiten. Alkoholiker zur Abstinenz zu motivieren, die
bereits erfolgreiche Abstinenzphasen erlebt haben, kann (muss aber nicht) im Sinne
eines ressourcenaktivierenden Vorgehens leichter sein, weil hier an frühere Erfolgserlebnisse
appelliert werden und dies die Selbstwirksamkeitserwartung steigern kann.
Für Patienten aus dem Resignation/Drop-out-Stadium sind psychotherapeutische Interventionen
im engeren Sinne hingegen zunächst überhaupt nicht indiziert (weil nicht aussichtsreich),
sondern eher psychosoziale Maßnahmen im Sinne der Schadensminimierung erforderlich
(vgl. [18]).
Ausblick
Ausblick
Aus dem hier skizzierten, spezifisch auf den Suchtbereich zugeschnittenen Modell sollten
präzisere Vorhersagen ableitbar sein und es sollte sich erfolgreich empirischer Prüfung
stellen können.
In diesem Zusammenhang ist jedoch von vornherein einzuräumen, dass auch diesem Modell
einige Schwächen des Originalansatzes inhärent sind: So wären die Stadien grundsätzlich
- nicht in der vorliegenden Skizze, aber im Rahmen zukünftiger Forschung - genauer
zu definieren. Dabei sollten nicht wie bisher einzelne Stadien eher durch Einstellungen
(Precontemplation, Contemplation, Rückfallgefahr), andere eher durch Verhalten (Handlung,
Aufrechterhaltung, Rückfall) beschrieben werden (vgl. [4]), sondern alle Stadien sollten vollständiger als bisher durch für sie typische Einstellungen
und Verhaltensweisen, ggf. auch durch die vorliegenden Kompetenzen (Resignation), beschrieben werden. Die Hinzunahme solcher Dimensionen, die Stadien
beschreiben, würde Vorhersagen präziser machen, das Modell wäre aber auch schwerer
überschaubar und seine bisherige Stärke der Einfachheit reduziert.
Die kritischen Abschlussbemerkungen sollen eines verdeutlichen und unterstreichen:
Trotz seiner immensen Bedeutung ist das Stadienmodell der Veränderung keine anbetungswürdige
Sache, sondern nicht mehr als ein Orientierungsmodell, das in Zukunft viel stärker
als bisher der natürlichen wissenschaftlichen „Evolution” ausgesetzt sein sollte.