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DOI: 10.1055/s-2003-41850
Die Intensivierung der emotionalen Beziehung
Publication History
Publication Date:
03 September 2003 (online)

PiD: Sie haben sich viel mit Zwangsstörungen beschäftigt. Ist die Bereitschaft von Psychoanalytikern, Patienten mit Zwangsstörungen zu behandeln, in den letzten Jahren zurückgegangen?
H. Thomä: Das ist leider so. Wir müssen überlegen, woran das liegt. Die meisten Analytiker
und Psychotherapeuten erinnern aus ihrer Ausbildungszeit, dass ihnen gesagt wurde,
an den Zwangsneurosen könne man fast die gesamte Neurosenlehre studieren. Auf der
beschreibenden Ebene und m. E. auch bezüglich der Psychodynamik sind die Aussagen
gültig geblieben, die Freud in den beiden großen berühmten Krankengeschichten gemacht
hat, nämlich dem Rattenmann und dem Wolfsmann. Man wird allerdings auch feststellen
müssen, dass das Veränderungspotenzial von Zwangsneurosen gering ist. Deshalb wurde
auch gelegentlich gesagt, dass man da nichts falsch machen kann. Die Frage ist, wie
weit die Therapie falsche Voraussetzungen hatte, so dass man an die eigentlichen Probleme
nicht herangekommen ist. Freuds Entdeckungen haben nicht dazu geführt, dass bei schweren
Zwangskranken wesentliche Besserungen oder Heilungen erzielt wurden. Meine Erfahrungen
sind, dass mit einer Veränderung der therapeutischen Technik Besserungen und manchmal
sogar Heilungen zu erzielen sind.
Es ist in der Tat so, dass die Zwangsneurosen vor langer Zeit, nämlich 1965, Hauptthema
eines Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft waren.
PiD: Sind Veränderungen der Therapie oder der Parameter der therapeutischen Situation notwendig? Welche Veränderungen meinen Sie?
H. Thomä: Die Veränderungen betreffen das Problem der Intensivierung der emotionalen und affektiven Dimension in der therapeutischen Beziehung. Um das besser beschreiben zu können, sollte man Freuds Entdeckungen zur Phänomenologie der Zwangsneurose diskutieren. Was kennzeichnet Zwangsneurosen? Da sind zu nennen: die Ambivalenz dieser Patienten, die Bedeutung von Reaktionsbildungen, weiter ist Freuds Beobachtung wichtig, dass es bei Zwangsneurosen zu einer Regression von den ödipalen, auf die Geschlechtszugehörigkeit bezogenen Entwicklungsstufen, auf eine anale Entwicklungsstufe mit den dazugehörigen Reaktionsbildungen kommt. Weiter zu nennen sind die magischen Dimensionen des Denkens, nämlich dass Gedanken gleichbedeutend mit deren Realisierung erlebt werden. Von daher wird sofort verständlich, weshalb Zwangsneurotiker permanent Abwehrleistungen erbringen, indem die Folgen ihres magischen Denkens ungeschehen gemacht werden müssen. Das sind zeitlose Entdeckungen, die auch kulturunabhängig sind, Entdeckungen, die von allen psychotherapeutischen Schulen bestätigt werden, wenn sie ehrlich sind. Warum haben diese Entdeckungen nicht dazu geführt, analytische Therapien effektiver zu machen? Meine Antworten darauf sind in eigenen Erfahrungen begründet.
PiD: Wenn Sie sagen, die therapeutische Beziehung müsse emotional dichter sein als das sonst der Fall ist - wie geschieht das? Verbinden Sie damit eine Abkehr von Abstinenz oder technischer Neutralität? Plädieren Sie für Settingwechsel?
H. Thomä: Alle von Ihnen genannten behandlungstechnischen Begriffe sind untersuchungsbedürftig,
bezüglich ihrer Auswirkung auf die Beziehung und auch bezüglich ihrer Stimulierung
unbewusster Prozesse. Aber noch grundlegender ist eine Umorientierung. Mit dieser
Umorientierung meine ich die Abwendung von Freuds wissenschaftlichem Ideal, das darin
bestand, die Krankheitsentstehung zu rekonstruieren, also die Ätiologie zu erforschen.
Die Therapie dagegen brachte für Freud wissenschaftliche Probleme mit sich. Ein berühmtes
Zitat lautet: „Die Therapie könnte die Wissenschaft zerstören.” Freuds Ideal war es,
die Ursachen der Erkrankung zurückzuverfolgen bis in die früheste Kindheit. Die Optimierung
der Therapie und die Arzt-Patient-Beziehung bezüglich der Veränderung standen nicht
im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Um nicht missverstanden zu werden:
Natürlich ist die Kenntnis der lebensgeschichtlichen Hintergründe in jeder Psychotherapie
wesentlich. Aber entscheidend für die Therapie ist das Hier und Jetzt der Arzt-Patient-Beziehung.
Da komme ich jetzt auf Ihre Frage zurück, was vielleicht anders gestaltet werden müsste.
Die Zwangsneurose wird im DSM-System nicht zufällig bei den Angstneurosen abgehandelt.
Freud (1919) hat in seinem berühmten Budapester Vortrag gesagt, dass man viele Phobien
nur dann erfolgreich behandeln könne, wenn sich diese Kranken ihren Ängsten aussetzten.
Insofern war Freud der erste Verhaltenstherapeut. Er hat freilich versäumt, die Konsequenzen
daraus zu ziehen und hat nicht zum Experimentieren ermutigt. Die Analyse ist in den
meisten Fällen - wenn man die Literatur anschaut, muss man leider sagen, häufig -
gescheitert, weil die Ausrichtung auf den verbalen Austausch dazu geführt hat, dass
die ohnedies zur Rationalisierung neigenden Zwangskranken Emotionalität vermieden
haben, indem sie rationalisiert und intellektualisiert haben. Es wurde viel zutage
gefördert, ohne dass sich etwas änderte.
PiD: Lassen Sie uns noch einmal zurückkommen zu Freuds Anspruch, Lebensgeschichten zu rekonstruieren, und zu der Vorstellung, dass es in der Analyse darum geht, die Lebens- und Krankheitsgeschichte zu rekonstruieren und dass diese Auffassung die Gefahr beinhaltet, dass die therapeutische Beziehung anders gehandhabt wird als es für die Effektivität günstig wäre. Ist das speziell bei Zwangsstörungen ein Problem oder ist das ein generelles Problem? Halten Sie es generell für falsch, den therapeutischen Prozess als einen wissenschaftlichen Prozess im Sinne der Rekonstruktion einer Krankheitsgeschichte aufzufassen, weil das leicht dazu führt, dass der Analytiker so tut, als sei er nur der Erforscher der Wirklichkeit des Patienten, und damit verbunden die Gefahr besteht, dass er glaubt, sich als Interaktionspartner des Patienten aus der therapeutischen Beziehung heraushalten zu können?
H. Thomä: Es gilt generell die Kritik, dass die psychogenetische Rekonstruktion, die kausale
Rekonstruktion, also die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen, nur die eine Dimension
ausmacht: Die Erfassung der Veränderung und der therapeutischen Interaktion führt
zu einer wirksamen hilfreicheren Einstellung. Das hat aber spezielle Folgen für die
Therapie der Zwangsneurosen. Warum meine ich, dass die speziell für die Zwangsneurosen
von Bedeutung ist? Das hat zu tun mit der schon genannten, leider nicht in die Therapie
umgesetzten Aufforderung Freuds, dass der Patient sich den Ängsten aussetzen soll.
Für die Zwangsneurotiker ist dies besonders wichtig, weil diese Patienten ja schon
in ihrer Symptomatik zeigen, dass sie hochsensibel für Beunruhigungen aus ihrem emotionalen,
affektiven Lebensbereich sind, und deshalb müssen sie ständig etwas ungeschehen machen.
Sie müssen auch noch jede kleinste aggressive Spitze ungeschehen machen, so dass sie
überhaupt nichts Aggressives mehr empfinden können. Das Aggressive ist allerdings
überall. Jedes bisschen Schmutz wird schon zu Gift.
Die Regression ins Anale ist in Reaktionsbildungen direkt beobachtbar; viele Zwangsneurotiker
sind damit befasst, irgendwelche gefährlichen Schmutzpartikelchen zu beseitigen, sie
sind dafür hochsensibel, und deshalb wird auch die Beziehung zum Analytiker möglichst
steril gehalten.
Die nachgewiesene Wirksamkeit der Verhaltenstherapie beweist eigenartigerweise psychoanalytische
Hypothesen, mindestens solche zur so genannten Aktualgenese von Zwangssymptomen. Mit
Aktualgenese meine ich die Genese, die im Hier und Jetzt aktuell wirksam ist, und
aktuell wirksam sind bei Zwangsymptomen immer aggressive Impulse. Dass in der Aktualgenese
Zwangssymptome immer auf unbewusst gewordene Aggressionen zurückgehen, wird nicht
zuletzt durch die verhaltenstherapeutische Expositions- und Konfrontationstherapie
bewiesen. Übrigens ist auch bemerkenswert, dass die Exposition, die Konfrontation
vor allem wirksam ist bei den so genannten Abwehrzwängen, nämlich bei Zwangshandlungen,
nicht aber bei Zwangsgedanken, die sich nicht umsetzen in Handlungen; die kann man
nicht exponieren in der Situation.
Was passiert nämlich bei den Expositionen? Es gibt ein Beispiel, das mich sehr beeindruckt
hat. Es ist ein Beispiel, das Grawe in seinem Lehrbuch dargestellt hat: Es handelt
sich um einen 23-jährigen Studenten, der seit Jahren auch nach drei Therapieversuchen
- im Konkurrenzkampf der Schulen wird natürlich mit großer Genugtuung darauf hingewiesen,
dass der Betreffende soundso lange in Analyse war - ergebnislos behandelt wurde. Dieser
Student hatte einen schweren Waschzwang entwickelt, hat die Familie tyrannisiert und
wurde nun systematisch exponiert. Eindrucksvoll ist, dass erfolgreiche Verhaltenstherapeuten
in der Vorbereitung sehr gründlich eine gute Beziehung herstellen, diese systematisch
pflegen und den Patienten informieren, was alles passiert. Dieser Patient hat dann
selbst empfohlen, die Eltern mit einzubeziehen und zwar derart, dass sie die Aufgabe
hatten, am Abend und in der Nacht den zentralen Wasserhahn für die Wasserleitung abzudrehen,
so dass er sich nicht mehr waschen konnte. Dieser Entzug der Möglichkeit, die Zwangshandlung
zu realisieren, hat dazu geführt, dass genau das passierte, was Freud angenommen hat,
nämlich dass dieser Patient nicht nur Ängste entwickelt hat, sondern die ganzen Demütigungen
und Ohnmachterlebnisse erinnert hat und aggressive Ausbrüche gegen die Erniedrigungen
hatte, die er als Schüler erlebte. Das therapeutisch Wirksame sind die Entwicklung
der Aggressionen und die darin erlebte Selbstbehauptung, die Umkehrung der Macht-Ohnmacht-Situation,
die ihn in die Vereinsamung getrieben und die zur Entwicklung der Zwangssymptome geführt
hat.
PiD: Meinen Sie, dass das Pendel der Wahl der geeigneten Therapieform auf die Seite der verhaltenstherapeutischen Ansätze ausschlagen müsste, oder meinen Sie, dass sich in der analytischen Therapie etwas im Hinblick auf die Gestaltung und Handhabung der therapeutischen Beziehung ändern müsste, oder meinen Sie, beide Therapieansätze sollten miteinander verbunden werden?
H. Thomä: Ich unterscheide zwischen dem, was die Literatur darüber ausweist, und dem, was
ich persönlich aufgrund meiner Erfahrungen und meiner generellen Einstellungen verwirklichen
kann. Es gibt wenige Arbeiten über die Kombination toto coelo verschiedener Methoden
in einer Hand. Eine generelle Übersicht stammt von Wachter, der analytisch denkt,
aber auch verhaltenstherapeutisch handelt und ausreichend kompetent in beiden Feldern
ist. Ich habe eher den Ehrgeiz als Analytiker, die Situation so zu gestalten, dass
Patienten in der analytischen Situation ermutigt werden, sich zu exponieren, abgesehen
davon, dass ich nicht ausreichend kompetent bin, um verhaltenstherapeutische Techniken
optimal anzubringen. Ein Weg ist der, die Plausibilität der Wahrnehmungen des Patienten
anzuerkennen im Sinne von Gill. Diese Ermutigung führt dazu, dass auch kritische,
also aggressive Gedanken zur Sprache kommen. Diese Form der Übertragungsanalyse fördert
die erlebte Intensität, weil nun die Kritik nicht einem abwesenden Elternteil gilt,
sondern im Hier und Jetzt dem anderen, mit dem man aktuell zu tun hat.
Das Beispiel, das mir einfällt, passt zwar nicht so ganz, aber ich will es trotzdem
bringen. Es stammt aus der Analyse eines chronischen Zwangspatienten, der mit 50 Jahren
und nach drei Therapien zu mir kam, nachdem er einen schweren Rückfall hatte; das
ist der Patient Arthur im Lehrbuch. Was nicht im Lehrbuch steht, ist, dass dieser
Patient sehr bewegt war, als er im „Prediger Salomo” die berühmte Stelle entdeckte,
die beginnt mit dem Vers: „Ein jegliches hat seine Zeit, auch das Hassen und der Streit.”
Das hat ihn ungemein beunruhigt, denn er hatte Zwangsgedanken, die sich auf das Töten
bezogen, er könnte ein Verbrecher sein und er könnte seine Kinder töten. Das blieb
rein in der Gedankenwelt, er hatte keine zwanghaften Abwehrhandlungen. Da gab es nichts
zu exponieren. Ganz langsam hat er dann kritische Äußerungen mir gegenüber gemacht,
aber besonders erschüttert hat ihn, dass er in einer Sitzung Fantasien entwickelt
hat, und er wollte, dass diese Sitzung - die Analyse ist auf Tonband aufgenommen -,
dass ich dieses Tonband aufbewahre für den Fall, dass er das je vergessen sollte,
nämlich dass er sich in seiner Fantasie mit einem SS-Mann identifizierte, der Juden
erschießt.
Die Entwicklung dieser Fantasie zeigt eine grundlegende Dimension in meinem Verständnis
des Menschen und meinem Verständnis insbesondere aller Psychopathologien, nämlich,
dass in allen neurotischen Ängsten und dementsprechend auch in allen Zwangssymptomen
Angst vor sich selbst enthalten ist, Angst vor den eigenen unbewussten Impulsen. Und
deshalb ist es kein Wunder, dass dieser Patient besonders abstruse Fantasien entwickelt
hat, um auszuprobieren, wozu er fähig sein könnte, und natürlich auch auszuprobieren,
wie dann der andere reagiert, ob er verstoßen und bestraft wird. Die Strenge des Über-Ichs
bei Zwangsneurosen ist ja alltägliche klinische Beobachtung.
PiD: Es gibt ja auch ein ganz pragmatisches Problem. Sie sagen, Sie vertrauen darauf, dass Sie das in der therapeutischen Beziehung hinkriegen. Zweifellos ist Geduld ja auch in der therapeutischen Arbeit mit Zwangskranken wichtig. Ist der Analytiker drängend, weil er seine Gegenübertragung nicht gut kontrolliert, wiederholt das unter Umständen eine Erfahrung des Patienten, und er tut unbewusst das Gegenteil und widersetzt sich. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr einer unendlichen Analyse. Meines Erachtens ist es oft sehr schwierig zu sagen, wann die Behandlung nicht effektiv ist und wann es sich um einen zwar hartnäckigen, aber potenziell überwindbaren Widerstand handelt. Wo ziehen Sie die Grenzen?
H. Thomä: Das ist ein ganz praktisches Problem der Begrenzung und der Einschätzung, was man kann und was man nicht kann. Ein Beispiel: Unter den Patienten, die wir mit Video unseren Studenten in Ulm vorgestellt haben, befand sich eine etwa 50-jährige Patientin mit einer schweren, in Jahrzehnten chronifizierten Zwangskrankheit mit einem Waschzwang und einem Reinigungszwang, Zwänge überall. Es kam mir nicht in den Sinn, diese Patientin analytisch erfolgreich behandeln zu können. Ich habe den Studenten erläutert, dass man, um diese Patientin behandeln zu können, ein eigenes Projekt unter Forschungsgesichtspunkten beantragen müsste. Die Patientin müsste von einer Sozialarbeiterin betreut werden, von einem Verhaltenstherapeuten, der sie exponiert und einem Analytiker, der ihre Beziehungsängste in den Mittelpunkt stellt. Was müsste da alles passieren bei einem vollkommen isolierten, vereinsamten Menschen, einer Frau, die sich von ihrem Mann getrennt hat, weil es unmöglich war für sie, mit ihm überhaupt noch zusammen zu sein! Er hatte nur noch die Funktion, den Abfalleimer, den sie mit Handschuhen gefüllt hat, abzutransportieren. Das war die ganze verbliebene Beziehung zwischen den beiden.
PiD: Zwänge können auch eine Plombenfunktion haben, beispielsweise vor psychotischen Dekompensationen schützen.
H. Thomä: Es ist in diesem Zusammenhang sicher wichtig zu unterscheiden zwischen zwanghafter Persönlichkeit, Zwangsneurosen und Zwangskrankheiten. Ich erinnere mich an eine große Übersichtsarbeit von Christian Müller, der Zwangsneurosen vor vielen Jahren katamnestisch untersucht hat, aber lediglich einen Verlauf fand, wo die Zwangsneurose in eine Psychose einmündete.
PiD: Lassen Sie uns noch einmal zur Flexibilität bei der Handhabung der therapeutischen Beziehung zurückkommen und auch der Flexibilität im Gebrauch theoretischer Konzepte, um die Haltung aufzubringen, die für die Behandlung von Zwangskranken notwendig erscheint. Sie haben angedeutet, dass diese Flexibilität oftmals nicht aufgebracht würde. Warum ist das so?
H. Thomä: Es ist so, weil der Glaube weit verbreitet ist, dass die so genannte normative Idealtechnik oder die Standardmethode, von Eissler (1953) beschrieben, die ideale Form psychoanalytischer Therapie ist und ungefähr auf alle Patienten in der gleichen Weise angewendet werden sollte - im Gegensatz zu Freuds Forderung aus dem Jahre 1918. Es wird viel zu wenig kritisch untersucht, ob das so ist. Ich halte es für essenziell, dass die analytische Methode nicht gebunden ist an bestimmte Begriffe wie Neutralität und nicht gebunden ist an die Aufforderung zur freien Assoziation, auch nicht gebunden ist an eine festgelegte Frequenz, von der es keine Abweichung geben darf, sondern gebunden ist an das Ideal, nämlich der hilfreichen Beziehung, die den bestmöglichen Zugang zur Unterbrechung pathologischer Prozesse des Denkens, Handelns und Fühlens erlaubt. Sie haben ja bemerkt, dass mein Definitionsversuch nicht eingeschränkt ist auf den Zugang zum Unbewussten. Der Zugang zum Unbewussten ist nicht Selbstzweck, sondern notwendig, weil unbewusste Prozesse für die Pathologie eine wesentliche Rolle spielen. Das Unbewusste als Substanz und als Entität gibt es gar nicht, das ist eine Ontologisierung.
PiD: Kennzeichnen Sie vielleicht eine Situation, die der Vergangenheit angehört? Ist die moderne Psychoanalyse nicht flexibler? Wie stehen Sie zu den inzwischen auch hier bei uns gerne zitierten Kleinianischen Ansätzen?
H. Thomä: Erfreulich ist der Pluralismus. Das ist sicher eine revolutionäre Situation, in der sich die Psychoanalyse befindet. Man kann nur hoffen, dass einige der Gesichtspunkte, die ich genannt habe, sich durchsetzen werden. Es ist aber auch eine Zeit, in der das Suchen nach Sicherheit besonders ausgeprägt ist, weil es eben so viel Unruhe und Unsicherheit und Ratlosigkeit gibt, was denn von den vielen psychoanalytischen Theorien die verbindende Quintessenz ist. In dieser Zeit der großen Verunsicherung wächst auch die Sehnsucht nach Einheit und nach Sicherheit. In diesem Zusammenhang sehe ich den so genannten Kleinianismus, der für sich beansprucht, Freud am tiefsten Grund begriffen zu haben. Die Erkenntnisse über das Unbewusste wurden von Melanie Klein in der schizoid-paranoiden und in der depressiven Position des Säuglings zusammengefasst. Von diesen beiden Positionen wurde die gesamte Psychopathologie abgeleitet. Deshalb spreche ich von der Kleinianischen Universalpsychopathogenese. Hinzu kommt, dass der Kleinianismus eine neue Erkenntnisquelle erschlossen zu haben vorgibt, nämlich über die eigene Gefühlswelt und die eigene Gegenübertragung das Unbewusste des Patienten erkennen zu können.
PiD: Ich bin nicht sicher, was Sie mit dem tiefsten Grund meinen, ob Sie das ironisch gemeint haben?
H. Thomä: Ja ja. Aber es ist faszinierend, es fasziniert mich, dass...
PiD: Diese Selbstüberzeugung?
H. Thomä: Es fasziniert mich, weil es wirklich eine faszinierende Idee ist, die eine absolute Welt- und Menschenerkenntnis in einer Zeit impliziert, in der so viel im Rutschen ist.
PiD: PiD: Klingt allerdings auch erschreckend?
H. Thomä: Ja, gewiss.
PiD: Lassen Sie uns zum Abschluss noch ein wenig über die psychoanalytische Ausbildung sprechen. Was müsste sich Ihres Erachtens an den psychoanalytischen Ausbildungsstätten, den Instituten ändern, falls überhaupt? Oder sind Sie der Meinung, nein, da müsste sich nicht unbedingt etwas ändern?
H. Thomä: Doch, es müsste sich sogar sehr viel ändern, glaube ich. Ich will einen kleinen
Umweg machen und auf Ihre unbeantwortete Frage zurückkommen, die sich auf mögliche
Kriterien der Einschätzung des Standes einer analytischen oder analytisch orientierten
Therapie bezog. Wann kann man mit guter Begründung zum Beispiel sagen, diese Therapie
ist in einer Sackgasse, es geht nicht mehr weiter, da wiederholt sich alles nur; müssen
wir aufhören, oder sollten wir eine Überweisung zu einer Verhaltenstherapie bestimmter
Art, also etwa einer Expositionstherapie machen?
Ich versetze mich in die Rolle eines Supervisors, der einen Kandidaten in der Therapie
berät, in einer analytischen Therapie. Supervisionen sind für mich sehr anspruchsvolle
Tätigkeiten, und zwar deshalb, weil ich dabei verschiedene Funktionen zu erfüllen
habe: Einmal muss ich mich hineinversetzen in das Denken und Handeln dieses Kandidaten,
in seine Vorstellung und die Begründung, die ihn veranlasst, dies und jenes zu tun;
und ich muss mich in den Patienten und seine Welt hineindenken. Die analytischen Institute
sollten ihre Ausbildung daran ausrichten, dass Kandidaten, zukünftige Analytiker,
diese Fähigkeiten optimieren und diagnostische und prognostische Kriterien entwickeln,
die sich allesamt auf die Funktion beziehen, die ich gerade als besonders belastend
beschrieben habe. Supervisoren, Lehranalytiker und alle Dozenten an psychoanalytischen
Ausbildungseinrichtungen sollten mit guten Beispielen vorangehen. Das heißt ganz schlicht
und einfach: ihr psychoanalytisches Denken und Handeln bei der Darstellung eigener
Analysen vorbildlich darstellen. Ich glaube von mir sagen zu können, dass ich seit
Jahrzehnten in dieser Hinsicht meinen eigenen Ansprüchen genügt habe. Hierbei geht
es immer um die Beurteilungskriterien im Sinne einer Verlaufs- und Ergebnisforschung
im weitesten Sinne des Wortes. Man befindet sich also auf dem Weg zu einer Verwissenschaftlichung
der Ausbildung. Hierbei ergibt es sich ganz von selbst, über zentrale Probleme zu
diskutieren.
Beispielsweise habe ich im Ulmer Lehrbuch das Problem der Symptomsubstitution anhand
eines Falles diskutiert, einer Anorexie, die 20 Jahre nach Behandlungsabschluss wiederkam
mit einem isolierten Zwangssymptom. Sie war nun verheiratet, wollte Kinder und entwickelte
die Angst, ihre Kinder töten zu können. Deshalb hat das Paar eine Konzeption verhindert.
Da habe ich im Rückblick in meinen Protokollen gefunden, dass in der Endphase der
Therapie noch ein Problem mit ihrer Mutter aufgekommen war, das nicht weiter bearbeitet
wurde. Ich glaube nicht, dass es möglich gewesen wäre, zum damaligen Zeitpunkt zu
erkennen, dass da noch eine Bedingung war, die bei entsprechenden lebensgeschichtlichen
Belastungen vielleicht dazu führen könnte, dass an dieser Schwachstelle später ein
Symptom auftreten könnte. Aber im Rückblick ließ sich dieser Zwangsgedanke zurückführen
auf ein ungelöstes Problem ihrer Aggressivität auf ihre Mutter und auch auf die Kritik
an mir, dass sie über die Therapie mit mir als Mann zu schnell dazu gekommen ist,
eine heterosexuelle Lebensweise zu beginnen, und ein vergnügtes Leben gelebt hat bis
zu ihrer Verheiratung.
PiD: Noch mal zurück zu den Instituten, zur Ausbildung. Ich verstehe Sie so, dass es Ihnen nicht darum geht, an den Instituten eine als ein Lehrgebäude verstandene Psychoanalyse zu unterrichten, sondern sich klinisch auszurichten auf den Patienten, auf den jeweils konkreten Prozess und von der psychoanalytischen Theorie flexibel Gebrauch zu machen?
H. Thomä: Die Ausbildungsinstitute müssten einfach akademischer ausgerichtet sein. Die schärfste Kritik, die es da gibt, stammt von einem Neurobiologen und Psychiater, dem Nobelpreisträger Erik Kandel. Kandel hat gesagt, die analytischen Institute hätten noch die Struktur der amerikanischen Medical Schools vor dem Flexner-Report, also um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ich halte die Lehranalyse für unabdingbar, bin aber der Meinung, dass die Selbsterfahrung von null bis zu unendlich vielen Sitzungen eine absolute Privatsache sein sollte. Vordringlich ist die Entwicklung von wissenschaftlich begründeten Beurteilungskriterien sowohl der Dozenten als auch der Kandidaten. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich mit wenig Wissen angefangen habe. Ich denke an die Anfangszeit zurück, da war ich so unsicher, dass ich viel geschwiegen habe. Dann hatte ich zahlreiche Angstneurosen in Behandlung. Ich erinnere mich an eine Patientin, da war ich ewig schweigsam, und sie ist dann eines Tages explodiert und so wütend geworden, dass dieser Wutausbruch von äußerster therapeutischer Wirkung war.
PiD: Herr Thomä, ich bedanke mich für das interessante Gespräch!