Einleitung
Das Ziel der Studie zur heroingestützten Behandlung ist zu
untersuchen, ob mit der medizinischen Verordnung von pharmakologisch reinem
Heroin bestimmte Gruppen von Heroinabhängigen unterschiedliche
Behandlungsziele eher erreichen als mit den bisherigen Standardbehandlungen der
Suchttherapie. Ziele einer suchttherapeutischen Behandlung sind u. a.
die Verbesserung des gesundheitlichen, psychischen und sozialen Zustands sowie
die Integration in das Hilfesystem, die Reduktion des Konsums illegaler Drogen
und auch die Überwindung der Abhängigkeit. Die Studie richtet sich an
zwei unterschiedliche Zielgruppen: an „Methadon-Substituierte”,
die von der Substitution nicht hinreichend profitieren, und an
„Nicht-Erreichte”, also Heroinabhängige, die mit dem
vorhandenen Therapieangebot bisher nicht ausreichend versorgt und behandelt
werden konnten. Es gibt eine Reihe von Einschlusskriterien, die von den
Studienteilnehmern erfüllt werden müssen, aber auch
Ausschlusskriterien, die eine Teilnahme an der Studie unmöglich
machen.
Die folgende Kasuistik zeigt, dass im Rahmen einer
Arzneimittelstudie Grenzen bestehen und potenzielle Patienten nicht in die
Studie eingeschlossen werden können, obwohl Sucht- und Krankengeschichte
zeigen, dass alle vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten ohne Erfolg auf die
oben beschriebenen Ziele ausgeschöpft wurden.
Kasuistik
Herr J., ein 31-jähriger Mann, der seit vielen Jahren
heroinabhängig ist, bewarb sich für die Teilnahme an dem
Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung in der AWO-Ambulanz in
Karlsruhe als „Methadon-Substituierter”. Bei Erfüllung aller
Einschlusskriterien lag das Ausschlusskriterium Epilepsie vor, weshalb eine
Teilnahme letztlich nicht möglich war.
Die Epilepsie ist direkte Folge eines hochriskanten Konsummusters.
Aufgrund des intravenösen Drogenkonsums war es zu einem Spritzenabszess am
Hals gekommen, der zu einem ausgedehnten Hirnabszess mit akuter linksseitiger
Hemiparese führte. Auch nach dieser schweren Erkrankung gelang es dem
Patienten nicht, sein Konsumverhalten zu ändern, so dass weiterhin
Hautinfektionen auftreten und ein hohes Risiko für neue Komplikationen
besteht.
Suchtanamnese
Herr J. konsumiert seit seinem 17. Lebensjahr
regelmäßig intravenös Heroin, seit dem 20. Lebensjahr besteht
zusätzlicher Kokainkonsum. Aktuell nimmt er beide Substanzen vorrangig als
so genannten Cocktail zu sich, d. h. eine Mischung aus Heroin und
Kokain. Herr J. hat bereits viele Abstinenzversuche in unterschiedlichen
Behandlungssettings unternommen. So hat er ca. 30 Selbstentzüge versucht
und sich in vier qualifizierte stationäre Entzüge und drei
Entwöhnungsbehandlungen begeben, von denen er nur die letzte 1999
regulär nach 10 Monaten abschloss. Die Rückfälle erfolgten
jeweils prompt. Auch der Versuch, in einer christlich orientierten
Selbsthilfeeinrichtung Fuß zu fassen, scheiterte 1997.
Herr J. befand sich seit 1995 immer wieder in
Substitutionsbehandlungen mit Methadondosen zwischen 70 und 90 mg.
Während der Substitution gab es regelmäßigen Beikonsum von
Straßenheroin und Kokain überwiegend in der Form von Cocktails. Als
Begründung hierfür gab er Müdigkeit, Antriebslosigkeit und
depressive Verstimmungen an. Um die beschriebenen Beschwerden zu lindern und
ein heroinartiges Anflutungserlebnis zu haben, ging er dazu über, das
für den Trinkgebrauch präparierte Methadon zu injizieren. Wegen des
kontinuierlich hohen Beikonsums kam es zu mehreren Praxiswechseln. Die
Behandlung war zudem durch Inhaftierungen und die o. g. Entzüge und
Therapieversuche unterbrochen. Seit September 2001 befindet sich Herr J. wieder
in Substitutionsbehandlung mit einem hohen Beikonsum.
Konsumbedingte Komplikationen
Das Konsumverhalten von Herrn J. ist als sehr riskant zu bewerten,
da er sich alle Substanzen i. v. verabreicht. Durch Injektion
insbesondere von Cocktails sowie von nicht injizierbarem präparierten
Methadon kam es immer wieder zu Hautabszessen, von denen insgesamt fünf
chirurgisch behandelt werden mussten.
Während einer Inhaftierung im Mai 1999 erfolgte aufgrund
eines hühnereigroßen Spritzenabszesses an der linken Halsseite eine
Abszessspaltung im Justizvollzugskrankenhaus. Zurück in U-Haft entwickelte
er zwei Wochen später einen Meningismus, trübte ein und zeigte eine
linksseitige Hemiparese. In der neurochirurgischen Abteilung des Klinikums
Ludwigsburg fand sich im CCT ein großer rechtsparietaler Hirnabszess mit
kompletter Kompression des rechten Seitenventrikels und deutlicher
Mittellinienverlagerung (Abb. [1 ]). Nach
notfallmäßiger Drainage wurde eine 4fach-Antibiotikabehandlung
u. a. mit Gentamycin eingeleitet. Eine seither bestehende linksseitige
Innenohrschwerhörigkeit könnte durchaus auf die notwendige
Gentamycintherapie zurückzuführen sein.
Die Hemisymptomatik bildete sich zwar zurück, Herr J. leidet
aber seitdem an symptomatischer Epilepsie. Aufgrund mehrfacher generalisierter
zerebraler Krampfanfälle wurde eine Behandlung mit Carbamazepin begonnen.
Als sich hierunter zwei weitere Grand-mal-Anfälle ereigneten, wurde die
Therapie um Valproat erweitert. Zehn Monate nach der schweren Erkrankung begann
Herr J., wieder Heroin zu konsumieren. Aufgrund der unregelmäßigen
antikonvulsiven Behandlung kam es zu einer Reihe weiterer
Krampfanfälle.
Abb. 1 Computertomographische
Darstellung mittels Kontrastmittel: rechtsparietal deutlich abgegrenzter
Hirnabszess.
Situation des Patienten bei der Anmeldung für das
Modellprojekt
Er wurde wegen Methadonunverträglichkeit auf Polamidon®
umgestellt. Die Tagesdosis beträgt 70 mg, was 140 mg
Methadon entspricht. Der behandelnde Arzt ist nicht darüber informiert,
dass der Patient das leichter zu injizierende Polamidon® intravenös
konsumiert. Bei einer begrenzten Take-home-Regelung injiziert er derzeit das
Polamidon® mehrfach in der Woche. Herr J. konsumiert täglich Heroin
und an ca. fünf Tagen im Monat zusätzlich Kokain i. v. Die
derzeitige antikonvulsive Monotherapie mit Carbamazepin wird vom
substituierenden Arzt überwacht. Seit sieben Monaten sind keine weiteren
Krampfanfälle aufgetreten. Der allgemeine körperliche und psychische
Gesundheitszustand wurde als sehr schlecht beurteilt.
Die sozialen Kontakte von Herrn J. sind auf Menschen aus der
Drogenszene beschränkt. Er wohnt mit seiner ebenfalls opiatabhängigen
Lebensgefährtin zusammen, die ein Kind von ihm erwartet. Er hat mehrere
Ausbildungen begonnen, jedoch keine abgeschlossen. Sein längstes
Beschäftigungsverhältnis war die Tätigkeit während des
Zivildienstes. Den Hauptlebensunterhalt bezieht Herr J. über Sozialhilfe.
Den Drogenkonsum finanziert er über gelegentliche Schwarzarbeit und
Diebstähle.
Obwohl der Patient die Einschlusskriterien für die
Studienbehandlung erfüllt, ist es aufgrund der symptomatischen Epilepsie
nicht möglich, Herrn J. in die Studie einzuschließen. Er reagierte
darauf enttäuscht und verständnislos. Bei einer aktuellen Nachfrage
befand er sich weiter in Substitutionsbehandlung mit Polamidon®. Sein
Konsummuster habe sich nicht geändert, es bestünden weiterhin
erhebliche Injektionsprobleme. Schwerere Hautinfekte seien nicht aufgetreten.
Er klagte über Antriebslosigkeit und depressive Verstimmungen, die er auf
seine allgemeine Perspektivlosigkeit zurückführte.
Diskussion
Herr J. leidet unter einem schlechten Gesundheitszustand und es
liegt gemäß den Leitlinien der Bundesärztekammer ein eindeutig
negativer Verlauf der Substitutionsbehandlung vor [1 ].
Die Substitutionsbehandlung besteht seit mehr als sechs Monaten und die
vorgeschriebene Mindestdosis von 60 mg Methadon ist gewährleistet.
Der Patient erfüllt auch alle anderen Einschlusskriterien der Studie,
leidet aber an einer symptomatischen Epilepsie. Diese ist eine direkte Folge
des hochriskanten Konsumverhaltens unter illegalen Bedingungen. Bei
Fortbestehen des beschriebenen Konsummusters muss trotz einer gewissen
Stabilisierung unter Polamidonsubstitution weiterhin von einem hohen
Komplikationsrisiko ausgegangen werden.
Herr J. hat eine langjährige, trotz häufiger
Neuanfänge letztlich negativ verlaufende Substitutionstherapie mit
Methadon und Polamidon® hinter sich. Bei ihm ist derzeit keine Motivation
für ein abstinenzorientiertes Therapieverfahren vorhanden. Wenn das
Verfahren der heroingestützten Behandlung für ihn verfügbar
wäre, ließe sich in dem geschilderten Fall sicherlich eine
Indikation dafür stellen. Das Risiko erneuter Hautabszesse könnte
durch die Injektion von reinem injizierbaren Heroin unter hygienisch
einwandfreien Bedingungen drastisch reduziert werden. In der Literatur werden
neben unhygienischen Injektionsbedingungen auch andere injektionsbedingte
Risikofaktoren für Hautabszesse angegeben. Gerade die Injektion der
Cocktails kann zu Abszessen führen. Grund hierfür ist eine starke
vasokonstriktorische Wirkung von Kokain, die Gewebsnekrosen verursacht und
zudem die lokale Immunabwehr beeinträchtigt [2 ]
[3 ]. Auch die subkutane Injektion von Drogen stellt einen
Risikofaktor für Hautabszesse dar [4 ]. Bei
schlechten Venenverhältnissen kommt es häufig zu subkutanen
Injektionen, wenn das Gefäß nicht getroffen wird.
Hautabszesse sind wiederum gefährliche Infektherde, die wie im
geschilderten Fall durch eine Bakteriämie zu Abszedierungen in anderen
Körperregionen führen können, die aber auch in der Lage sind,
über immunologische Phänomene Glomerulonephritiden und rheumatisches
Fieber zu verursachen [5 ].
Bei einer heroingestützten Behandlung würde Herr J. auch
mehrfach täglich das Behandlungszentrum aufsuchen, was in Hinblick auf das
Anfallsleiden engmaschige Kontrollen und damit mehr Sicherheit für den
Patienten ermöglichen würde.
Es ist aber aus ethischen Gründen nicht möglich, Patienten
mit einer schweren chronischen Erkrankung wie der Epilepsie mit einem bislang
experimentellen Therapieverfahren zu behandeln.
Dies liegt insbesondere daran, dass Opiate generell die
Krampfschwelle senken. Außerdem können im Entzug, der sich vor allem
in der Eindosierungsphase nicht immer vermeiden lässt, Krampfanfälle
auftreten.
Eine Aufnahme in die Studie ist aus den genannten Gründen also
nicht möglich. Es ist jedoch nach aktuellem Wissensstand und auch im
Hinblick auf andere Opiate, die in der Substitutionsbehandlung verwendet
werden, davon auszugehen, dass Epilepsie keine Kontraindikation für eine
heroingestützte Regelbehandlung darstellen würde.