Einleitung
Einleitung
Die 90er-Jahre waren eine Dekade von starken Reformbemühungen
in den Gesundheitssystemen Westeuropas und einer völligen Revolutionierung
der Gesundheitsversorgung in Osteuropa. In solch bewegten Zeiten ist es
sinnvoll, sich als Ausgangspunkt für eine Darstellung von
Finanzierungsmodellen den politischen Zweck zu nehmen, für den
Versorgungssysteme organisiert werden. Die Weltgesundheitsorganisation hat dazu
unlängst (Mai 2002) noch einmal ihre vier politischen Forderungen
herausgestellt, denen sich die Ausgestaltung der nationalen
Gesundheitsversorgung als Optimierungskriterien unterzuordnen hat:
1. „Access” - Zugang zu
Gesundheitsleistungen: Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen soll vom
Bedarf und nicht von der Zahlungsfähigkeit, von räumlichen Distanzen
oder von sozialen Stigmata gesteuert werden. Dass dies für die
Suchtmedizin auch in entwickelten Marktwirtschaften noch ein einzulösendes
Programm und nicht bestehendes Faktum ist, darauf weisen auch jüngst
erschienene Publikationen erneut hin [1]. 2.
„Equity” als politisches Ziel wird im
Deutschen meist mit „Versorgungsgerechtigkeit” übersetzt.
Aber gerade in der Suchtmedizin ist es nützlich, sich an die
ursprüngliche Bedeutung dieser Forderung zu erinnern: Gleichheit bei der
Verteilung von Ressourcen. Vor dieser Forderung nicht rechtfertigbare
unterschiedliche Versorgungsgrade nach ethnischen Gesichtspunkten sind aktuell
z. B. für i. v. Drogenkonsumenten [2] berichtet worden. 3. „Effectiveness”: Die Forderung, dass
Leistungen des Versorgungssystems den Betroffenen nicht schaden dürfen und
die Gesundheit tatsächlich verbessern sollen, ist auch im Bereich Mental
Health durchaus keine redundante Selbstverständlichkeit, die sowieso schon
als erfüllt gelten kann. Iatrogene Abhängigkeitserkrankungen
(Schlafmittel, andere psychotrope Medikamente) zeugen davon, wie im
Gesundheitssystem auch „negative Gesundheit” produziert werden
kann (vgl. schon 1978 [3]). Sogar gut gemeinte
Präventionskampagnen (vgl. [4]) sind nicht davor
gefeit, mehr Schaden als Nutzen zu erzeugen. 4. „Efficiency”: Mit der Gesamtmenge an
Ressourcen, welche eine Gesellschaft für den Bereich „Mental
Health” bereitstellt, soll möglichst effizient umgegangen werden.
Dazu müssen Vergleichsmaßstäbe vorhanden sein, wie über
verschiedene Diagnosen und Therapieziele hinweg der Nutzen verschiedener
Interventionen und ihr Ressourcenverbrauch gegeneinander abgewogen werden
können (vgl. [5]). Diese vier Maximen sollen auch
die Gedanken dieser Arbeit zu Finanzierungssystemen und Anreizstrukturen in der
Suchttherapie führen.
Geldfluss im Gesundheitssektor
Geldfluss im Gesundheitssektor
Im Gegensatz zu den üblichen Marktbedingungen, innerhalb derer
der Konsument und der Leistungsanbieter direkt miteinander Geld und
Dienstleistungen austauschen, laufen die Transfers im Gesundheitssektor wie in
der Suchthilfe zum größten Anteil in einem Dreieck aus Bürgern,
Leistungseinkäufern und Leistungserbringern (vgl. [6]).
Abb. 1 Trianguläre
Finanzierungssituation im Gesundheitswesen.
So genannte „Out-of-Pocket”-Finanzierungen, bei denen
der Gesundheitskonsument direkt aus eigener Tasche Leistungen kauft, sind in
Deutschland im Jahr 1995 nur für 10,8 % der
Gesundheitsausgaben [7] verantwortlich gewesen, in der
Schweiz für 28 % der Zahlungen im Jahr 1997
[8]. Das Geld der potenziellen Patienten fließt
im Löwenanteil via Steuern oder Versicherungen schon vor jeder
Inanspruchnahme zunächst zu den „Leistungseinkäufern”,
die dann ihrerseits in einem oft aufwändig durchorganisierten
Allokationsmechanismus die Leistungserbringer bezahlen, sobald diese an
PatientInnen Leistungen erbringen. Sinn dieser Übung ist es, durch einen
Risikoausgleich für die PatientInnen so genannte „katastrophale
Risiken”[1] aufzufangen. Damit soll der Zugang
auch zu teuren Therapien für alle Teilnehmer gewährleistet werden
(access!). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Wege
des Geldes, also auf die Pfeile von
„Bürger” zu „Leistungseinkäufer” und von
„Leistungseinkäufer” zu „Leistungserbringer”
in Abb. [1]. Die Untersuchung der
Leistungstransfers (mit welcher Indikations- und
Leistungsqualität wird wem welche Gesundheitsleistung übermittelt?)
würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.
Wie wird (ein-)bezahlt?
Wie wird (ein-)bezahlt?
Neben den Bürgern eines Staates, die als Individuen, als
Haushalte oder als Arbeitnehmer ihre Gesundheitsbeiträge in Form von
Steuern, Pflichtversicherungsbeiträgen, freiwilligen Versicherungen,
Rücklagenbildung und direkten Zahlungen leisten, treten meist auch
Arbeitgeber als Finanzgeber im Gesundheitswesen auf. Deren Zahlungen erfolgen
via Besteuerung und über Versicherungsbeiträge, aber nicht als
„Out-of-Pocket”-Transfers. Der Staat tritt entgegen der ersten
Erwartung hier keinesfalls als Financier des Gesundheitswesens zutage, sondern
im Gegensatz dazu als Geldbezieher. Man muss sich vergegenwärtigen, dass
es hier um den Prozess des Geldeinsammelns und noch nicht um den Prozess der
Mittelallokation geht. Manche Staaten setzen mehr auf direkte und/oder
indirekte Besteuerung, um ein Gesundheitssystem zu finanzieren, wie
z. B. die skandinavischen Länder Dänemark, Finnland und
Schweden [9]. Andere Länder orientieren sich eher
am Bismarck’schen System einer Pflichtversicherung (z. B.
Deutschland, Frankreich, die Niederlande).
Zunehmende Bedeutung erlangen in jüngerer Zeit freiwillige
Versicherungen, mit denen vor allem diejenigen zusätzlichen Leistungen
eingekauft werden können, die über die gesetzlichen Finanzierungswege
ausgeschlossen werden. Zur Gänze allerdings wurde ein Gesundheitssystem
selten auf freiwillige Krankenversicherungen basiert. Selten wurde ein
Gesundheitssystem vollständig auf freiwillige Krankenversicherungen
basiert. Noch seltener ist der Versuch, ohne ein „risk pooling”
die Finanzierung über privat zurechenbare, persönliche Rücklagen
zu regeln. In Singapur (einem Land mit sehr hohem Pro-Kopf-Einkommen) bildet
eine verpflichtende private Rücklagenbildung den Kern des
Finanzierungssystems [10].
Als Geldbezieher unterscheiden Mossialos und Dixon
[6] staatliche Exekutivorgane (vor allem
Finanzämter) von den gemeinnützigen Körperschaften (z. B.
Sozialversicherungen) als die beiden bedeutendsten Gruppen. Private
Versicherungen (dritte Gruppe) können entweder mit Gewinnerzielungsabsicht
oder gemeinnützig agieren. Sie sind für die Schweiz ein essenzieller
Teil des Finanzierungssystems. Im Falle von direkten Zahlungen der PatientInnen
an die Leistungserbringer treten Letztere neben ihrer Funktion als
„Gesundheitsproduzenten” dann zusätzlich als
„Geldeinsammler” (collection agent) auf.
Die Schweiz und Deutschland unterscheiden sich erheblich bei der
Finanzierung der Gesundheitsausgaben. Während in Deutschland die
Sozialversicherungen für gut zwei Drittel der Gesundheitsausgaben
aufkommen, tragen gesetzliche Versicherungen in der Schweiz nur rund ein
Drittel der Ausgaben [7]
[8].
Zudem wird die obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz von privaten
Versicherungen auf For-Profit-Basis getragen und nur die Unfallversicherung
(„Invalidenversicherung”, wichtig für Reha-Maßnahmen)
ist eine öffentliche Körperschaft.
Die gesundheitspolitischen Ziele des Zugangs (access) und der
Fairness (equity) sind davon unmittelbar berührt, wenn sich
unterschiedliche Bevölkerungsschichten eines Landes Gesundheitsleistungen
in unterschiedlichem Ausmaß leisten können. Deutschland wird im
World Health Report 2000 der WHO auf den weltweit sechstbesten Rangplatz
hinsichtlich „finanzieller Fairness” gereiht. Der zugrunde
liegende Fairness-Index (vgl. [11]) erfasst vor allem,
wie stark der Anteil, den die Haushalte von ihrem disponiblen Einkommen
für eine hinreichende Deckung „katastrophaler Risiken”
aufwenden müssen, über die verschiedenen Bevölkerungsschichten
hinweg streut. Die Schweiz landet in dieser Beurteilung abgeschlagen auf Platz
38 aller untersuchten Staaten. Während in Deutschland die
Krankenpflichtversicherung als prozentualer Beitragssatz vom Arbeitseinkommen
abgezogen wird, Reiche und Arme also proportional gleich viel bezahlen[2],
wirkt sich die Schweizer Finanzierung über risikoadjustierte, fixe
Kopfprämien[3] regressiv aus, d. h.,
einkommensstarke Haushalte leisten einen relativ geringeren Gesundheitsbeitrag.
Auch Out-of-Pocket-Zahlungen wirken „regressiv”. Einzig der
Steueranteil an der Finanzierung des Gesundheitswesens kann in der Schweiz als
(im ökonomischen Sinne) „progressiv” bezeichnet werden, weil
die Besteuerung der Einkommen (leicht) mit ihrer Höhe ansteigt. Bedenkt
man, dass die Risiken für psychiatrische Erkrankungen nicht von der
Schicht unabhängig sind, so stellt sich das Schweizer Finanzierungssystem
besonders für PsychiatriepatientInnen nicht gerade als hoch solidarisch
verfasst heraus (vgl. auch [9]).
Wie wird (aus-)bezahlt?
Wie wird (aus-)bezahlt?
Der Prozess der Mittelallokation (vgl. Abb. [1]) im medizinischen Sektor berührt ganz unmittelbar
die gesundheitspolitischen Grundforderungen nach Zugang
(„access”), Fairness („equity”) und Effizienz. Wenn
für eine bestimmte Leistung nur die Kosten unterdeckenden Summen an die
Leistungserbringer ausbezahlt werden, dann führt dies dazu, dass die
entsprechende Leistung immer seltener angeboten und damit der Zugang erschwert
wird. Wird umgekehrt eine Leistung (z. B. apparative Diagnostik oder
High-Tech-Medizin) attraktiv entlohnt, dann entsteht ein Sog, diese Leistung
auch über das gesundheitlich Notwendige hinaus „an den Mann/die
Frau” zu bringen [13]. Das Prinzip des
„nihil nocere” kann dadurch gefährdet werden. Dass keine
Finanzierungsform im Gesundheitswesen ohne Fußangeln und Fallstricke
ausgestattet ist, formuliert Berkeley-Professor James Robinson so:
„There are many mechanisms for paying physicians;
some are good and some are bad. The three worst are fee-for-service,
capitation, and salary” [14].
Entgegen der Erwartung, dass immer dann, wenn es ums Geld geht, ein
Sachverhalt besonders gründlich evaluiert werde, erweist sich die mit
empirischen Daten argumentierende Literatur zum Thema „Finanzielle
Anreizsysteme im Gesundheitswesen” als ziemlich spärlich. Drei
unlängst erschienene systematische Reviews [13]
[15]
[16] identifizieren in der Flut von über 5300
Veröffentlichungen zum Thema „Anreizsysteme” nur acht
randomisierte Studien, zwei Beobachtungsstudien mit angemessenem
Kontrollgruppenansatz sowie eine Studie mit einem zeitreihenanalytischen
Ansatz. Auch diese Studien sind aber methodisch durchaus nicht unproblematisch
(vgl. [15]). Für die unklare und heterogene
Ergebnislage in den Reviews sind nach unserer Einschätzung zwei Probleme
wesentlich:
1. Durchgängig zu wenig beachtet wird das
„Level-of-Unit”-Problem: Auf welcher Ebene wird interveniert und
auf welcher Ebene wird gemessen? Neue Versicherungsmodelle für
PatientInnen können nicht nahtlos an Daten von Arztpraxen evaluiert
werden, neue Abrechnungsmodelle für Ärzte nicht nahtlos am
individuellen PatientInnenverhalten (vgl. [17]
für eine Simulation sich ergebender Fehlschlüsse und
[18] für eine angemessene Analyse von
Multilevel-Daten). 2. Die untersuchten finanziellen Anreize waren zumeist im
Zuge von politischen Reformen ausgehandelte, ad hoc entworfene
Maßnahmen(-bündel) und keineswegs systematisch aufeinander
aufbauende Bausteine. Eine systematische Einordnung ökonomischer
Anreiz-Wirkungen setzte eine einheitliche Taxonomie voraus, wie sie von Jegers
u. Mitarb. [19] erst vor kurzem vorgelegt wurde. Wir
skizzieren im Folgenden die von ihnen vorgeschlagenen drei
Betrachtungsebenen:
Variabilität: fixes versus steigerbares Einkommen
„Variabel” heißt eine Bezahlform, wenn jede
zusätzliche Leistungseinheit den Geldbetrag erhöht, den der Therapeut
erhält. „Fixiert” nennen Jeger et al. auf der Mikro-Ebene
(Ärzte, Krankenhäuser) Bezahlformen, bei denen diese Kopplung
„Zusatzleistung führt zu
Zusatzentgelt” aufgehoben ist. Auf der Makro-Ebene des gesamten
Gesundheitssystems verstehen sie unter einer „fixierten”
Finanzierung die so genannten „gedeckelten” Budgets. Variable
Erstattungen lösen nach der ökonomischen Theorie eine Produktion von
Gesundheitsgütern so lange aus, bis der Kostenzuwachs beim Herstellen
zusätzlicher „Gesundheitseinheiten” den damit erzielbaren
Einkommenszuwachs überholen würde. Bei profitablen Preisen ist damit
ein starker Anreiz zur Überproduktion gegeben. Bei fixen Erstattungen
entsteht ökonomisch ein starker Anreiz zu Kostensenkungen. Dies kann
über Rationalisierungen oder durch Reduktion von Teilleistungen erreicht
werden, was die Gefahr von Qualitätsausdünnung und Unterversorgung
heraufbeschwört. Daher sollte bei entsprechenden Finanzierungsformen
simultan auch ein effizientes Qualitätsmonitoring vereinbart werden.
Zeitperspektive: ex post versus ex ante
In „prospektiven”
Finanzierungssystemen werden die zu erstattenden Beträge vor der
Leistungserbringung „ex ante” festgelegt. Dabei kann diese
Festlegung variabel oder fix organisiert werden. In der umgekehrten
Zeitperspektive, also bei „retrospektiver” Erstattung, wäre eine
„fixe” Festlegung der Summe im Sinne der Entkopplung von
Zusatzleistung und Zusatzeinkommen unsinnig. Der Leistungsanbieter hätte
zum Zeitpunkt der Leistungserbringung keinerlei Orientierung über seine
Wirtschaftlichkeit. Findet bei prospektiver Leistungserstattung parallel ein
wirksames Qualitätsmonitoring statt, dann stimuliert dieses
Entlohnungssystem die Effizienz der Leistungserbringung. Das finanzielle Risiko
wird bei einer variablen und retrospektiv angelegten Kostenerstattung voll vom
Zahler übernommen. Im Falle eines variablen und prospektiv angelegten
Finanzierungssystems teilen sich der Leistungserbringer und der Zahler das
finanzielle Risiko. Ein fixiertes und prospektives Entgeltsystem
schließlich überwälzt das Risiko voll auf den
Leistungserbringer.
Erstattungseinheit: en gros versus en
detail
Als „Erstattungseinheit”
bezeichnet man ein gemeinsam abrechnungsfähiges Bündel an
ärztlichen und anderen Teilleistungen. Am detailliertesten sind
Abrechnungen auf „fee for service”-Basis
(FFS). FFS zeichnet sich durch die gute Verfügbarkeit preislich
profitabler Einzelleistungen (access!) aus. Aber: Die Indikationsstellung
für die Durchführung von FFS-Leistungen erfolgt verstärkt bei
den qualitativ hochwertigen (und somit meist hochpreisigen und hochprofitablen)
Leistungen. Apparative technologische Leistungen sind in FFS-Systemen leichter
quantifizierbar als intellektuelle Leistungen (z. B. ein
Arztgespräch) und somit häufiger. Innovationen brauchen länger
in die breite Praxis, weil sie zuerst in den Leistungskatalog
erstattungsfähiger Maßnahmen formell aufgenommen werden
müssen.
Tagesgleiche Pflegesätze bildeten im
stationären Bereich über lange Zeit und vielerorts die
Abrechnungsbasis. Weil die Tagessätze besonders in somatischen Kliniken
das reale Leistungsgeschehen nicht abbilden (bei gesundenden Patienten
verläuft es mit degressiver Intensität), sind die Pflegetage gegen
Ende eines stationären Aufenthalts besonders profitabel für das
Krankenhaus: ein starker Anreiz zur Verweildauerverlängerung. Nun sind
zwar die durchschnittlichen Verweildauern in den letzten 40 Jahren überall
zumeist gesunken, trotz Entlohnung nach Tagessätzen. Aber - so
entgegnet die ökonomische Theorie - mit einem pauschalierten
Entgeltsystem hätte dieser vornehmlich technologisch bedingte
Rückgang noch viel stärker ausfallen können.
„Fallpauschalen”
(prospektiv) sind das gegenwärtige Zauberwort in der Diskussion um die
Krankenhausfinanzierung. Dabei wird als Abrechnungseinheit der gesamte für
die Behandlung notwendige Krankenhausaufenthalt betrachtet.
Abgrenzungsschwierigkeiten für Fallpauschalen sind daher immer
verstärkt bei chronischen Krankheiten zu erwarten, bei denen einzelne, die
Fallpauschale begründende Krankheitsepisoden schlechter aufzeigbar sind.
Fallpauschalen inkludieren einen starken ökonomischen Anreiz zur
Verweildauersenkung und fördern die technologische Effizienzsteigerung
(für Österreich vgl. [20], für Portugal
vgl. [21]). Dies sind die Vorteile. Die Nachteile sind
ebenfalls weithin bekannt: Fallpauschalen sind anfällig für
„Rosinenpickerei” (cream skimming), wenn sich konsequent
profitsuchende Anbieter nur die einträglichsten Fälle aussuchen. Oft
kann auch eine Ausweitung von Doppeldiagnosen beobachtet werden oder eine
epidemiologisch nicht erklärbare Intensivierung von Krankheitsbildern
(Upcoding).
Das Zauberwort der Zukunft (in Amerika: der Gegenwart) bei den
Entgeltsystemen heißt „capitation”
und meint Kopfpauschalen. In Österreich erhalten beispielsweise
Hausärzte pro gesehenem Patienten für jedes Quartal eine Pauschale,
die die meisten Leistungen dieses Quartals begleichen soll. In der Schweiz
existieren im ambulanten Versorgungsbereich seit einigen Jahren bereits
HMO-Praxen (Health Maintenance Organization) nach amerikanischem Vorbild
[22], deren Inanspruchnahme von den Versicherungen mit
den Betreibern ebenfalls pauschaliert verrechnet wird. Einige „perverse
incentives” von Fallpauschalen (z. B. Erhöhung der
Wiederaufnahmerate, Upcoding) werden in einem solchen System der Kapitation
umgangen. Es macht keinen Sinn mehr, den Krankheitsverlauf eines Patienten in
möglichst viele Behandlungsepisoden zu zerlegen. Auch ist die
Diagnosestellung sicherlich unbefangener möglich, wenn keine Kopplung
zwischen erstellter Diagnose und Höhe der erzielbaren Vergütung
besteht. Aber das Risiko des verhinderten Leistungszugangs ist den
kopfpauschalierten Entgeltsystemen nach wie vor immanent [23]. In Österreich wurde ein Teil der im
Europavergleich sehr hohen Krankenhaushäufigkeit in Verbindung gebracht
mit dem pauschalierten Abrechnungssystem im ambulanten Sektor (vgl.
[24]). Allerdings sind HMOs als Weiterentwicklung der
Kapitation je nach Vertrag auch für die stationäre Versorgung mit
zuständig[4] und somit „immun” gegen
einen solchen „Abschiebedruck”.
Die Leistungseinkäufer drängen daher auf eine noch
stärker pauschalierte Entgeltform. Chaix-Couturier et al. nennen ein
solches System dann „capitation per physician” im Gegensatz zur
eben beschriebenen „capitation per patient” [13]. Mit institutionsübergreifenden, auf eine
definierte Population bezogenen Globalbudgets wird dem
Patienten-Verschieben der ökonomische Hintergrund entzogen. Ein
Entgeltsystem, das es einem psychiatrischen Krankenhaus ermöglichen
würde, innerhalb eines jährlichen Regionalbudgets seine PatientInnen
in einem beliebig aus kürzeren und längeren stationären oder
teilstationären Aufenthalten kombinierbaren System zu behandeln, und das
auch „nachgehende Versorgung” im Sinne von ambulanten, auch
außerhalb des Krankenhauses agierenden Behandlungsteams mit
einschlösse, wäre hier einzureihen.
Je pauschalierter sich Abrechnungssysteme entwickeln, umso
ähnlicher werden sie einer leistungsunabhängig ausbezahlten,
institutionellen Förderung. Im Suchthilfebereich sind solche
„inputorientierten” Finanzierungsformen (im Gegensatz zu den
bisher beschriebenen „outputorientierten” Leistungsentgelten)
keine Seltenheit [26]
[27].
Eine gute Kenntnis des jeweils gültigen Zuwendungsrechtes mit seinen
Spielarten von Voll- und Teilfinanzierung, Festbetrags- oder
Fehlbedarfsfinanzierung (für eine genaue Analyse vgl.
[26]) stellt in der Suchthilfe daher einen wichtigen
Beitrag zum institutionellen Überleben dar. Die meisten Einrichtungen
finanzieren sich über eine Mischform von institutioneller Förderung
und auf Klienten bezogenen Leistungsentgelten (vgl. auch [28]).
Erfahrungen mit prospektiv-pauschalen Entgeltsystemen
Erfahrungen mit prospektiv-pauschalen Entgeltsystemen
Bei den Finanzierungsreformen im Krankenhaussektor wurden in
Deutschland die Psychiatrien von der Abrechnung via DRGs[5] ausgenommen. Deutschland bedient sich der
Australian-Refined-(AR-)Version des DRG-Systems [29]
[30] zur Abrechnung ab 2003.
Auch bei den schweizerischen Bestrebungen, die mittlerweile in den Kantonen
Zürich und Vaud konkret Gestalt angenommen haben [31], wird die Psychiatrie jeweils aus der Abrechnung via
AP[6]-DRGs herausgehalten. Es ist aber zu erwarten,
dass diese Sonderrolle der Psychiatrie Anlass für weitere Diskussionen
sein wird. Nach den ungünstigen Erfahrungen mit dem DRG-System
[32] in der Psychiatrie in den 80er-Jahren in den USA
[33] haben nur wenige Länder den erneuten Versuch
unternommen, stationär-psychiatrische Behandlungen mittels Fallpauschalen
zu finanzieren. Österreich allerdings hat im Rahmen seiner
„Leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung” (LKF,
[34]) ein eigenes Fallpauschalensystem unter
Einbeziehung der Psychiatrie entwickelt und es im Jahre 1997 landesweit
eingeführt (vgl. [35] für eine
Kurzbeschreibung des Systems). Bei der LKF handelt es sich in der Terminologie
dieser Arbeit um ein Hybridsystem, das Fallpauschalen
(= prospektive, fixierte Abrechnung) mit degressiv ausgestalteten
Tagesentgelten (= retrospektiv, variabel) und FFS-Pauschalen
(retrospektiv, variabel) kombiniert. Mittlerweile existieren verschiedene
Arbeiten zur Evaluation dieses Entgeltsystems, aber vornehmlich mit dem Blick
auf die Effizienz einzelner Krankenhäuser [36]
[37]
[20]. Eine
Public-Health-Perspektive, die die Auswirkungen auf die Versorgung einer ganzen
Bevölkerung evaluiert, wurde nur für das Bundesland Salzburg
vorgelegt [35]. Speziell für die stationäre
Psychiatrie ließ sich zeigen, dass die LKF die ungünstigen
Auswirkungen früherer Versuche mit DRG-ähnlichen Systemen offenbar
vermieden hat und keine zusätzliche Verweildauerverkürzung unter
Beschleunigung der so genannten Drehtür-Psychiatrie angeregt wurde
[38]. Offen ist jedoch, ob sich die LKF in irgendeiner
Weise auf das Behandlungsergebnis ausgewirkt hat.
Für die Abrechnungssysteme mit Kapitation erscheinen nach und
nach methodisch gute Evaluationsarbeiten: Im US-Bundesstaat Colorado wurden im
Jahr 1995 vierzehn der siebzehn Medicaid-Versorgungsregionen im Bereich Mental
Health auf Kapitation (zwei verschiedene Varianten) umgestellt, drei Regionen
verblieben unter FFS-Abrechung und dienten als Kontrollgruppe. Neu
gegründete, gemeinnützige „Mental Health Assessment and
Service Agencies” (MHASA) versuchten in sechs Regionen, Kostensenkungen
vor allem durch geringere Hospitalisierungszahlen zu erreichen („direct
capitation”). In den acht „teuersten” Regionen wurde die
Versorgung an eine privatwirtschaftliche „Managed Behavioral Health
Organization” (MBHO) vergeben, die ein ausgeklügeltes System der
Patientenbetreuung mit dichten Behandlungsketten und Nachbetreuung
organisierte. Die Evaluation verfolgte 522 ZufallspatientInnen über zwei
Jahre [39]. Die Kosten sanken um 20 %
beim System der „direkten Kapitation”, um 66 %
unter den MBHO-Bedingungen und bei FFS nur unwesentlich.
In den Gebieten mit „direct capitation” wurde zwar
eine klare Reduktion der stationären Inanspruchnahme erreicht: Nur
77 % der chronisch kranken PatientInnen aus dem Ausgangsjahr
wurden im zweiten Jahr nach Finanzierungsumstellung erneut hospitalisiert. Aber
die befragten PatientInnen verbanden dies mit dem (im Vergleich zur
FFS-Referenzgruppe) verstärkten Gefühl, es seien Betreuungs- und
Dienstleistungen verweigert worden und die Wartezeit für einen
Behandlungstermin sei gegenüber FFS-Bedingungen verlängert. Anders
die MBHO-Regionen: Obwohl auch hier die Hospitalisierungen zurückgingen
(auf 68 % des Ausgangsniveaus), berichten die PatientInnen von
einer gesteigerten Inanspruchnahme psychiatrischer Dienste, neuartigen
Dienstleistungen, häufigeren vorgeplanten Kontakten mit dem
Behandlungssystem und kürzeren Wartezeiten am einbestellten Termin.
Es scheint so, dass durch ein dichter geknüpftes,
kontinuierliches Betreuungsnetz im ambulanten Behandlungssektor in den MBHOs
nicht nur radikale Kostensenkungen durchgesetzt werden konnten, sondern dass
sich auch in der subjektiven Sicht der PatientInnen eher eine Verbesserung der
Versorgungssituation ergeben hat. Was die Ergebnisqualität anbelangt,
konnten in einer detaillierten Analyse des Behandlungsoutcomes keine
systematischen Unterschiede zwischen den Finanzierungsformen gefunden werden
[40].
Ähnliche Ergebnisse berichten Magura et al.
[41] über die Auswirkungen der im Staat
Massachusetts 1992 vergebenen staatsfinanzierten Betreuung von psychiatrischen
PatientInnen (Mental Health und Sucht) an eine private For-Profit-Organisation
(MBHO-Prinzip wie in Colorado). In den beiden auf die Einführung von
Managed Care folgenden Jahren sanken in Massachusetts im Bereich der Suchthilfe
die Ausgaben um 48 %. Nach vier Jahren lagen sie immer noch um
42 % unter dem Ausgangsniveau. Die Kostensenkung wurde nicht
durch einen erschwerten Zugang zum Hilfesystem erkauft. Es zeigte sich
vielmehr, dass die Rate der Inanspruchnahmen kontinuierlich stieg (um
43 %), und zwar besonders deutlich bei der Methadon-Substitution
und den tagesklinischen Angeboten. Auch die Verweildauer stationärer
Aufenthalte sank nicht, sondern verlängerte sich um 2 %. Die
dramatische Kostensenkung konnte durch eine Verlagerung bislang vorwiegend im
teuren vollstationären Bereich erbrachter Entgiftungen in den
teilstationären und ambulanten Bereichen erzielt werden.
Ist der gesundheitsökonomische Stein der Weisen damit gefunden?
Es muss bedacht werden, dass die Studien jeweils in der Versorgung von
Medicaid-, Medicare- oder Veterans-Administration-PatientInnen unternommen
wurden. Deshalb bleibt unklar, ob dieselben Schlüsse auch für die
Privatversicherten gelten und wie sich die Versorgungssituation auf der Ebene
der Gesamtbevölkerung entwickelt hat. Alles in allem erscheinen aber neue
Finanzierungssysteme zwar weiterhin auf dem Vormarsch zu sein
[22]
[42]
[43], jedoch oft bei ungenügender Evaluation ihrer
versorgungsepidemiologischen Effekte.
Ausblick: Revolution in der Schweiz?!
Ausblick: Revolution in der Schweiz?!
Obwohl die Schweiz nicht gerade den Ruf eines Hortes
revolutionärer Umtriebe besitzt, so war doch die Einführung
heroingestützter Behandlungsformen in der Suchthilfe eine für Europa
beispielgebende Umwälzung [44]. Bei der
Finanzierung von stationärer Suchthilfe ist gegenwärtig ein zwar
weniger spektakulärer, von den notwendigen Anstrengungen zur
Überwindung zersplitterter Finanzierungswege her aber
„revolutionärer” Prozess im Gange: das Finanzierungskonzept
FiSu/FiDé [45]. Ausgehend von einer
gesamtschweizerischen Erhebung bei stationären Therapieeinrichtungen im
Alkohol- und Drogenbereich für die Jahre 1995 bis 1998
[27], die detailliert die vielfach verzweigten
Finanzierungswege der Institutionen in den verschiedenen Kantonen
[46] erfasst hatte, wurde von der gleichnamigen
FiSu-Kommission ein Konzept zur Vereinheitlichung der Therapiefinanzierung
für die gesamte Schweiz erstellt [47].
Kernstück dieses Konzeptes ist es, die Zersplitterung von medizinischen,
psychotherapeutischen und sozialarbeiterischen Leistungen in völlig
disjunkte Erstattungsbereiche zu überwinden und künftig aus einer
einzigen Quelle zu bezahlen in Form eines kantonalen Rechnungsfonds. In diesen
zahlen die Wohnsitzkantone (die in der Schweiz für die Sozialhilfe
zuständig sind), die KlientInnen (durch Abtretung ihrer allfälligen
Rehabilitationsansprüche gegen die „Invalidenversicherung”)
sowie die Standortkantone der Therapieinstitutionen ein. Ausgeschüttet
werden sollen die Mittel leistungsorientiert, wobei über die Schweiz
hinweg einheitliche Tarife geplant und nach einer Pilotphase bereits kalkuliert
sind [47]. Als erstattungsfähige Leistungen
sollen für stationäre Therapien so genannte „Lebensfeld
ersetzende Maßnahmen”[7] in vier
Sozialisationsbereichen definiert werden: 1. die Primärgruppe ersetzende
Maßnahmen, 2. Schule und Bildung, 3. Arbeit sowie 4.
altersspezifische Freizeitgestaltung. Pro Institution wird ein Profil erstellt,
auf welchen Sozialisationsfeldern die betreffende Einrichtung Maßnahmen
in welcher Dichte anbietet. Dabei wird nach Einzelleistungen, Leistungseinheit
(= „ein definiertes Paket gebündelter
Einzelleistungen”) und Leistungsbereich
(= „umfassende Planung und Realisierung des zu ersetzenden
Sozialisationsfeldes”) unterschieden. Jede Institution kann dann pro
Klient und Sozialisationsfeld die ihrem Angebotsprofil entsprechenden
pauschalen Erlöse erzielen. Allein die Nomenklatur für die Leistungen
scheint für traditionell medizinisch-psychiatrisch ausgebildete Ohren
„gewöhnungsbedürftig”, bildet aber mit Sicherheit das
Geschehen in stationären Suchteinrichtungen sehr viel klarer ab, als
irgendwelche diagnoseorientierten Kostengruppen dies könnten. Nach
Abschluss zweier Pilotversuche können sich einzelne Kantone ab 1.1.2003
entscheiden, ihr bisherigen Finanzierungssystem durch FiSu zu ersetzen oder
dieses System zunächst beizubehalten und die „alten”
Bestimmungen der Invaliden-Versicherung zu reaktivieren (für ein
ähnliches Prozedere im Alkoholbereich vgl. [48]).
Die endgültige Einführung der FiSu-Systematik wird dann in
komplizierten Gesprächen zwischen Bund und Kantonen geklärt. Eine
Begleitforschung zur Evaluation der Auswirkungen auch hinsichtlich des
Behandlungsergebnisses ist aber auf alle Fälle fest vorgesehen.
Es wird spannend sein, von den schweizerischen Ergebnissen zu
erfahren. Mit der einheitlichen Finanzierung wäre auch die Grundlage
gelegt, um zudem die Zersplitterung von somatischen, psychiatrischen und
psychotherapeutischen Maßnahmen auf verschiedene Leistungsträger zu
überwinden. Neuere Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass
beispielweise AlkoholpatientInnen von einer integrierten Therapie bei einem
Leistungserbringer einen besseren Erfolg in der Suchtbehandlung erwarten
können [49], wenn sie zusätzlicher
medizinisch-somatischer oder psychiatrischer Behandlung bedürfen.