In Deutschland leiden rund vier Millionen Menschen unter Depression. Die Beeinträchtigung
der Lebensqualität sowie der sozialen, körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit
ist bei depressiven Erkrankungen so fundamental, dass gerade bei schweren Krankheitsverläufen
eine hohe Exzessmortalität besteht [13].
Wie psychologische Autopsiestudien wiederholt gezeigt haben, lassen sich 40-70 % der
Suizide auf depressive Erkrankungen zurückführen [6]. Gleichzeitig muss von einer erheblichen Unterversorgung depressiv erkrankter Menschen
ausgegangen werden. Nur ein kleiner Teil erhält eine Therapie lege artis.
Zu den Hauptgründen hierfür zählen Defizite in der Diagnostik und Behandlung depressiver
Störungen. Insbesondere von Hausärzten, die für einen Großteil Betroffener erster
Ansprechpartner sind, werden Depressionen zu häufig übersehen [15]. Doch selbst nach der korrekten Diagnose einer Depression wird in vielen Fällen
nicht adäquat behandelt. Hier spielen auch starke Ängste der Patienten vor Medikamenten
eine wichtige Rolle [1]. Werden Antidepressiva verschrieben, kommen sie zudem häufig nur unterdosiert zum
Einsatz. Selbst bei optimistischer Schätzung ist davon auszugehen, dass derzeit bei
höchstens 20 % der Betroffenen eine adäquate Behandlung begonnen wird. Berücksichtigt
man noch Compliance-Probleme, die vor allem während der Frühphase der Behandlung auftreten
und häufig zu Therapieabbrüchen führen, nimmt dieser Anteil auf unter 10 % ab [5].
Trotz wiederholter Aufrufe der WHO nach Programmen zur besseren Versorgung und Früherkennung
psychischer Erkrankungen [11] besteht weiterhin ein deutliches Defizit an evaluierten Studien im Bereich der Depressionsprävention.
Zu den wenigen erfolgreichen Beispielen gehört die „Gotland Studie”, die in den 80er-Jahren
auf der Insel Gotland durchgeführt wurde [10]. In ihr führte die Fortbildung von Allgemeinärzten zum Thema „Depression” zu einem
veränderten Verschreibungsverhalten von Antidepressiva und einer signifikanten Reduktion
der Suizide.
Die Befunde zur Bedeutung der primärärztlichen Versorgung für die Depressionsprävention
sind jedoch heterogen. Mehrfach zeigte sich die Schulung von Allgemeinmedizinern als
wenig effektiv [4]
[14]. Bei Studien zur Effektivität von Aufklärungskampagnen über Depression sieht die
Datenlage noch dünner aus.
Die einzige größere gut dokumentierte Studie ist die „Defeat Depression Campaign”,
die zwischen 1991 und 1996 in Großbritannien durchgeführt wurde [8]. Durch Präsenz in den Medien, Flugblätter, Bücher und Selbsthilfevideos wurde über
Symptomatik, Ursachen und Behandlung depressiver Störungen informiert. Anschließend
konnte bei repräsentativen Umfragen der Bevölkerung in einigen Bereichen ein signifikanter
Wissenszuwachs gezeigt werden [9]. Dabei bleibt unsicher, ob tatsächlich allein die Kampagne dazu beigetragen hat
oder andere unspezifische Faktoren dafür verantwortlich sind.
Im Rahmen des Kompetenznetzes „Depression, Suizidalität” wird seit 2001 mit dem „Nürnberger
Bündnis gegen Depression” ein depressionspräventives Aktionsprogramm umgesetzt, das
Elemente der Gotland-Studie sowie der Defeat Depression Campaign aufgreift und im
Vergleich zu einer Kontrollregion evaluiert.
Methode
Methode
Nürnberg wurde aus pragmatischen Gründen ausgewählt. Die Größe, die bestehenden Versorgungsstrukturen
(z.B. Großklinikum Nürnberg Nord, etablierte Praxisnetze) sowie die Kooperationsbereitschaft
der Nürnberger Institutionen gaben den Ausschlag.
In Nürnberg stehen für knapp 500.000 Einwohner etwa 600 niedergelassene Ärzte zur
Verfügung. Im Klinikum Nürnberg Nord sind die Kliniken für Psychiatrie, Psychosomatik
sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie integriert. Das Klinikum Nord betreut konsiliarisch
die anderen stationären Einrichtungen in Nürnberg.
Darüber hinaus gibt es etwa 150 kassenärztlich zugelassene Psychotherapeuten im Stadtgebiet
von Nürnberg sowie etwa 50 verschiedene Beratungsstellen, die dem psychosozialen Bereich
zugeordnet werden können.
Als Kontrollregion wurde Würzburg und Umgebung gewählt, da hier im Rahmen der „WHO-European
Study on Parasuicide” bereits seit über zehn Jahren Erfahrung bei der Erfassung und
Evaluation von Suizidversuchen besteht.
Der Vier-Ebenen-Ansatz
Der Vier-Ebenen-Ansatz
Das „Nürnberger Bündnis gegen Depression” setzt gleichzeitig auf unterschiedlichen
Ebenen an. Durch das Vier-Ebenen Programm sollen Synergieeffekte erzielt werden, die
über die Summe der Einzelmaßnahmen hinausgehen.
Primärärztliche Versorgung:
Die diagnostische und therapeutische Kompetenz des Hausarztes ist ein entscheidender
Faktor, ob im Einzelfall eine Depression erkannt wird und geeignete Behandlungsmaßnahmen
eingeleitet werden können. Es wurden im Jahr 2001 für Hausärzte sieben vierstündige
Fortbildungen mit 78 Teilnehmern durchgeführt. 250 Lehrvideos wurden ausgegeben, in
dem Diagnostik und Therapie von Depressionen skizziert werden. Weitere 1500 Videos
für Patienten und Angehörige wurden an Hausärzte verteilt, um sie bei der Aufklärung
der Patienten zu unterstützen. Den Hausärzten wurden verschiedene Sreening-Instrumente
zur Verfügung gestellt, mittels derer mit geringem Zeitaufwand eine Vorselektion potenziell
depressiver Patienten möglich ist.
Aufklärung der Öffentlichkeit:
Solange Betroffene, Angehörige sowie die Allgemeinbevölkerung unzureichend über Depression
und ihre Zusammenhänge aufgeklärt sind, liegt ein entscheidender Hemmfaktor für eine
bessere Versorgung vor. Bagatellisierung der Erkrankung, mit der Erkrankung verbundene
Ängste und Scham, unzureichendes Wissen über Behandlungsmöglichkeiten und allgemeine
Vorbehalte gegen Psychotherapie und Psychiatrie können dazu führen, dass trotz vorhandener
guter Versorgungsangebote ein erheblicher Teil der Betroffenen ohne professionelle
Unterstützung bleibt. Dem sollte mit einer Informationskampagne begegnet werden. In
Kooperation mit den Institutionen vor Ort und mittels Plakaten, 100.000 Flyern, 25.000
Infobroschüren, einem Kinospot, rund 20 öffentlichen Veranstaltungen und weiteren
Elementen wurden die zentralen Botschaften mit hoher Frequenz verbreitet („Depression
kann jeden treffen”, „Depression hat viele Gesichter”, „Depression ist behandelbar”).
Eine enge Zusammenarbeit mit den lokalen Medien (Printmedien, Hörfunk, Lokalfernsehen)
stellte eine kontinuierliche Berichterstattung sicher.
Kooperation mit Multiplikatoren:
Einbeziehung und bessere interdisziplinäre Vernetzung weiterer Berufsgruppen, die
bereits in die Versorgung depressiver Menschen mit eingebunden waren. Dies betraf
unter anderem Altenpflegekräfte, Lehrkräfte, Beratungsstellen, Psychotherapeuten,
Apotheker, Pfarrer usw. In diesem Bereich fanden im ersten Kampagnenjahr 62 Fortbildungsveranstaltungen
mit 1553 Teilnehmern zum Thema „Depression/Suizidalität” statt. Das vorrangige Ziel
war, das Erkennen depressiver Erkrankungen zu verbessern, um im Zweifelsfalle eine
Überweisung zu einem geeigneten Behandler initiieren zu können. Auch Diagnose von
und Umgang mit Suizidalität waren Fortbildungsschwerpunkte.
Angebote für Betroffene und Angehörige:
Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie bietet Patienten nach Suizidversuch
eine sogenannte „Notfallkarte” an [7]. Mit einer speziellen Hotline, die rund um die Uhr von einem Arzt besetzt ist, kann
im Falle weiterer Krisen rasche und unbürokratische Hilfe eingeleitet werden. Ein
weiterer wichtiger Bereich war die Stärkung des Selbsthilfebereichs bei Depression.
Acht zusätzliche Selbsthilfegruppen mit jeweils etwa acht bis zehn Teilnehmern konnten
ins Leben gerufen werden, von denen sich bislang mittelfristig sieben erhalten haben.
Eine enge Kooperation besteht zudem mit dem Verein der Angehörigen Psychisch Kranker,
mit dem gemeinsame öffentliche Veranstaltungen durchgeführt wurden.
Evaluation
Evaluation
Zentrales Evaluationskriterium zur Wirksamkeitsmessung des Programms sind Veränderungen
bei Suiziden und Suizidversuchen in Nürnberg im Vergleich zur Kontrollregion Würzburg.
Im Jahr 2000 wurden die Baselinewerte erhoben. Zu den sekundären Erfolgskriterien
gehören u.a. Veränderungen des Wissens und der Einstellungen zum Thema „Depression”,
Veränderungen in den Verschreibungsprofilen niedergelassener Ärzte und Veränderungen
im Überweisungsverhalten zu Fachärzten. Über die Entwicklung der Suizidraten und die
Auswertung der sekundären Erfolgskriterien wird an anderer Stelle berichtet werden.
Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen Veränderungen der Suizidversuche in Nürnberg
nach neun Monaten Intervention im Vergleich zur Kontrollregion.
Datenerfassung
Datenerfassung
Für diese vorläufige Auswertung wurde seit dem 1. Januar 2000 in Nürnberg und der
Kontrollregion Würzburg jeder bekannt gewordene Suizidversuch in Zusammenarbeit mit
den Kliniken für Psychiatrie und Psychosomatik, ambulanten Krisendiensten, den Gesundheitsämtern
und einer repräsentativen Stichprobe niedergelassener Nervenärzte mittels eines Dokumentationsbogens
(EPSIS) erfasst, der von der WHO entwickelt wurde (vgl. 12). In die Auswertung eingegangen
sind Suizidversuche, die der Definition der WHO entsprachen und von Personen durchgeführt
wurden, die zum Zeitpunkt des Suizidversuchs seit mindestens vier Wochen ihren ersten
Wohnsitz in der Untersuchungsregion hatten und über 18 Jahre alt waren.
Ergebnisse für die ersten neun Monate Intervention
Ergebnisse für die ersten neun Monate Intervention
Während der ersten neun Monate der Intervention kam es gegenüber den entsprechenden
Monaten im Baselinejahr 2000 zu einer signifikanten Abnahme der Suizidversuche in
Nürnberg im Vergleich zur Kontrollregion in Würzburg [Abb. 1] und [Tab. 1].
[Abbildung 2] zeigt die Suizidversuche für die einzelnen Altersgruppen während Baseline (2000)
und Intervention (2001) in Nürnberg. Man erkennt, dass die Reduktion der Suizidversuche
vor allem auf die unter 45-Jährigen zurückzuführen ist. In Würzburg konnte dagegen
hinsichtlich der Altersverteilung keine systematische Veränderung festgestellt werden.
Insbesondere bei Menschen über 60 Jahre zeigte sich keine Reduktion bei Suizidversuchen.
Daher wurde für diese Altersstufe eine Subanalyse der einzelnen Suizidversuchsmethoden
hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit durchgeführt. Während der Baseline wurden 50 Suizide
von Personen >60 Jahre durchgeführt. 39 Suizide davon ließen sich fünf Methoden zuordnen
(Sprung in Tiefe, Erhängen, Erschießen, Überrollen lassen und Ertrinken). Die 54 suizidalen
Handlungen mit diesen Methoden zeigten ein besonders hohes Maß an Letalität, die je
nach Methode zwischen 50 und 100 % lag [2]. Suizidale Handlungen durch Schnitte/Stiche und Selbstvergiftungen waren zwar genauso
häufig, führten aber nur achtmal zum Tod und zeigten somit in dieser Altersgruppe
nur eine Letalität zwischen 18-25 %. Daher wurde geprüft, wie sich die Zahl der Suizidversuche
mit harten, meist letalen Methoden während der beiden Jahre verändert hat. [Tabelle 2] zeigt, dass sich hier bei den über 60-Jährigen eine signifikante Reduktion im Vergleich
zu den weniger letalen Methoden ergeben hat.
Bei den unter 60-Jährigen zeigte sich bei Suizidversuchen mit hoch letalen Methoden
eine Abnahme um 48 %, bei Versuchen mit weniger letalen Methoden um 16 %.
Diskussion
Diskussion
Seit Januar 2001 läuft in Nürnberg die Interventionsphase eines depressionspräventiven
Aktionsprogramms, das versucht, durch Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen
die Versorgungssituation depressiv erkrankter Menschen zu verbessern. Ausgehend von
großen Optimierungspotenzialen bei Diagnostik und Behandlung spielt eine Verbesserung
der hausärztlichen Versorgung dabei eine Schlüsselrolle. Basierend auf den Erfahrungen
der Gotland-Studie [10] fanden Schulungen von Hausärzten statt. Darüber hinaus wurde die Allgemeinbevölkerung
über Plakate, Broschüren, öffentliche Veranstaltungen und Zeitungsberichte intensiv
über Hintergründe der Krankheit Depression informiert. Durch die Einbeziehung zahlreicher
Multiplikatoren verschiedener Berufsgruppen (Pfarrer, Lehrer, Altenpflegekräfte etc.)
sollte eine Sensibilisierung für das Thema erreicht werden. Zudem wurden spezielle
Angebote für Betroffene gemacht, wie die Einrichtung einer Notrufnummer im Falle suizidaler
Krisen für Patienten nach Suizidversuch sowie die Unterstützung bei der Etablierung
von Selbsthilfegruppen. Die Studie wird im Vergleich zu einer Kontrollregion evaluiert
und stützt sich als Haupterfolgskriterium auf die Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchsraten
[3].
Die ersten Ergebnisse nach einer Interventionslaufzeit von neun Monaten sind ermutigend.
Beim Vergleich der Suizidversuchszahlen während der ersten neun Monate der Intervention
mit den Baselinedaten bzw. den Ergebnissen aus der Kontrollregion Würzburg zeigt sich
ein signifikanter Rückgang der Suizidversuche (-17,4 %). In Würzburg nahmen die Suizidversuche
im Vergleichszeitraum hingegen um 12,6 % zu. In Nürnberg hat offenbar vor allem bei
der Altersgruppe der 18-45-Jährigen eine deutliche Abnahme stattgefunden, während
sich bei den Älteren auf den ersten Blick keine Veränderung ergab. Subanalysen zeigten
jedoch auch bei den Älteren eine signifikante Abnahme bei besonders gefährlichen (meist
letalen) Methoden, während bei weniger gefährlichen Methoden (Vergiftungen, Schnitte/Stiche)
eine Zunahme der Fälle zu verzeichnen war. Diese Zunahme dürfte zumindest teilweise
auf eine höhere Sensibilität der Ärzte bei der Erfassung während des Interventionsjahres
zurückzuführen sein.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese Ergebnisse einen ersten Hinweis
darauf geben, dass der Ansatz einer Mehrebenen-Intervention sinnvoll ist. Auswertungen
über Veränderungen im Verschreibungsverhalten sowie Veränderungen im Wissensstand
der Bevölkerung zum Thema „Depression” müssen noch abgewartet werden, um diese These
nachhaltig zu bestätigen. Einschränkend ist zudem anzumerken, dass der hier dargestellte
Untersuchungszeitraum mit neun Monaten relativ klein ist und nicht ausreicht, um ein
abschließendes Urteil über den Kampagnenerfolg zu fällen. Erst bei Abschluss der Intervention
nach 24 Monaten lassen sich eindeutigere Aussagen machen. Erste Ergebnisse bei Suiziden
zeigen eine rund 30 %ige Reduktion im Vergleich zur Baseline, werden aber erst nach
Vorliegen der offiziellen Zahlen veröffentlicht. Die Analyse von Verschreibungsdaten,
Überweisungshäufigkeiten und Wissensveränderungen bei der Bevölkerung wird dann zudem
Schlussfolgerungen zulassen, welche Komponenten des Programms sich als besonders wirksam
erwiesen haben.
Abb 1.
Abb 2.
Tab 1. Entwicklung der Suizidversuche in Nürnberg und Würzburg
|
2000 1.-40. Woche
|
2001 1.-40. Woche
|
Reduktion in %
|
Chi2 nach Fisher (einseitig)
|
Nürnberg
|
396
|
327
|
-17,4
|
|
Wuuml;rzburg
|
95
|
107
|
12,6
|
0,031
|
Tab 2.Suizidversuche in Nürnberg 2000 (Jan-Sept) für Personen > 60 Jahre
|
2000
|
2001
|
Diff. 2000/2001
|
Diff. In %
|
Fisher's exakt
|
Methode mit hoher Letalität (> 50%)
|
12
|
3
|
-9
|
-75%
|
0,011
|
Methode mit geringer Letalität (<25%)
|
32
|
42
|
+10
|
+31%
|
|