PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2003-37610
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Soziale Ängste - Ihre Vielfalt fordert zum Dialog

Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. März 2003 (online)

Möchten Sie wissen, wann die erste Behandlung sozialer Angst dokumentiert wurde? Nach unseren Recherchen reicht dies ins Jahr 50 vor Christus zurück: Damals gab es, umzingelt von römischen Lagern, ein kleines gallisches Dorf, ganz im Westen des heutigen Europas. Der gallische Dorfchef namens Majestix stand vor einem entscheidenden Häuptlingskampf, für den er auf den Zaubertrank des Dorfdruiden (heute vergleichbar mit einem Hausarzt mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie) angewiesen war. Doch Obelix, ein liebenswerter Hinkelsteinproduzent, schleuderte wütend einen großen Stein durch die Gegend und setzte den Druiden außer Gefecht. Um den Kampf doch noch zu retten, suchten Asterix, der Schlaukopf und eigentliche Seelentröster des Dorfes, mit Obelix Hilfe bei einem benachbarten Druiden, namens Amnesix. Und dort im Warteraum des Psychotherapeuten, der - schlussfolgernd aus seinem Namen - zumindest über hypnotherapeutische oder psychodynamische Kompetenzen verfügen musste, trafen die beiden Gallier einen in sich zusammengesunkenen Hünen von Mann, den die Sprechstundenhilfe als „Er ist ein Barbar, der sich seines Berufes schämt” charakterisierte. Und siehe da, als dieser Patient das Behandlungszimmer des Druiden nach nur einer Sitzung verließ, ging er ganz aufrecht, hatte einen unglaublich selbstsicheren Gesichtsausdruck und demolierte die komplette Einrichtung des Wartezimmers. Kommentar der Mitarbeiterin des Therapeuten: „Das ist der Barbar, der von seiner Furcht geheilt ist. Er hat gesagt, er wolle sich sofort an seine Arbeit begeben …”

Wir können aus dem historischen Beispiel lernen, dass eine einstündige Behandlung soziale Ängste manchmal bereits zu reduzieren hilft und dabei vor allem das Durchsetzungsverhalten fördert, weiter dass soziale Angst mit falschem Schamgefühl zu tun hat (das bekanntlich das Selbstwertgefühl herabsetzt). Ein Geheimnis aber wird bleiben, welche therapeutischen Strategien im Behandlungszimmer Anwendung fanden. Wir gehen von einem dialogischen Ansatz aus … Übrigens, bereits der griechische Arzt Hippokrates hatte einen Mann beschrieben, der aus Angst, schlecht behandelt zu werden, sich zu blamieren, aus dem Rahmen zu fallen, der sich von jedermann beobachtet fühlte und nicht auf beleuchteten Plätzen saß, dass dieser Mann Kontakte mied, den Hut über die Augen gezogen hatte, weder andere sehen noch von ihnen angesehen werden wollte …

Keine Therapieschule kann heute für sich in Anspruch nehmen, die Erklärungstheorie für soziale Ängste bereitzuhalten. Bereits die Vielfalt von Problembezeichnungen machen ein multiples Bild deutlich: Soziale Angst, Sozialphobie, soziale Unsicherheit, soziale Angststörung, Lampenfieber, generalisierte soziale Angst, Selbstunsicherheit, Schüchternheit, ängstlich-vermeidende Persönlichkeit, soziale Inkompetenz, Angst vor Menschen usw. Wir wissen, dass viele soziale Störungen in der Kindheit entstehen, meist schleichend, und dass dabei Bestrafungsprozeduren, der Erwerb von falschem Schamgefühl, durch Erziehung erzeugte Schuldgefühle beim Übertreten von Regeln und der Mangel adäquater Modelle und Vorbilder eine Rolle spielen. Zu berücksichtigen ist aber auch die Frage: Vererbung versus entwicklungsbedingte Einflüsse, des Weiteren der Erfahrungsmangel beim Erwerb von oder die Blockierung angemessenen Sozialverhaltens, gelernte Hilflosigkeit, Traumata oder angstverstärkende Glaubenssätze, Denkmuster und Bewertungen, die oft auch durch gesellschaftlich vermittelte Einstellungen erzeugt werden. Es geht also immer auch um Kindheit, um Systeme, um aktuell wirkende und aufrechterhaltende Bedingungen. Und bereits hier zeigt sich, dass der Dialog der Therapieschulen notwendig ist.

Die Behandlung sozialer Ängste, um bei diesem Terminus zu bleiben, hat hocheffiziente Auswirkungen auf die menschliche Persönlichkeit. Bei keiner Diagnose gibt es so vielfältige Komorbiditäten und bei den Behandlungsergebnissen so große Generalisierungseffekte auch auf die Bewältigung anderer Probleme und Konflikte.

Dabei kommen die von diesen Störungen Betroffenen oft viel zu spät in die Psychotherapie, und oft wird die Diagnose „Soziale Angst” auch eher im Kontext anderer psychischer oder psychosomatischer Probleme ergänzend gestellt - vielleicht deshalb, weil auch die therapeutische Beziehung eine gefürchtete soziale Situation ist.

Wir haben bei der Heftplanung versucht, der Vielfalt des Themas gerecht zu werden und neben dem Einführungs- und Überblicksbeitrag Standpunkte den Haupttherapierichtungen unserer Zeitschrift Gelegenheit gegeben, in einen Dialog zu kommen. Prüfen Sie selbst, welche Richtungsvertreter diesem Anspruch am ehesten nachkommen, und lesen Sie am Schluss unser Resümee. Das Verfahrensspektrum wird ergänzt durch Familientherapie, Körpertherapie und das Rollenspiel. Gruppentherapie, Sucht, Familie und Schulpsychologie sind ausgewählte Anwendungsfelder bei der Betrachtung kurativer und präventiver Ansätze im Zusammenhang mit sozialen Ängsten. Gerade der letztgenannte Beitrag zeigt die Möglichkeiten frühzeitiger Interventionen zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen im zweitwichtigsten Sozialfeld von Kindern auf, der Schule. Hierzu bieten auch das Interview mit einer Lehrerin über die Schule als Ort sozialer Ängste und der Beitrag zu Schüchternheit bei Jugendlichen eine wichtige Ergänzung. Neben den DialogLinks und DialogBooks möchten wir auf unsere beiden anderen Interviews aufmerksam machen: Die „Eltern” des Selbstsicherheitstrainings Rüdiger Ullrich und Rita de Muynck erzählen über ihre damalige Arbeit und geben interessante retrospektive Einschätzungen zur Entwicklung der Sozialen-Kompetenztherapie und erzählen auch von ihrer persönlichen Entwicklung. Mehrere Patientinnen und Patienten berichten schließlich über ihre eigenen sozialen Ängste und was ihnen bei deren Bewältigung hilft. Übrigens: Unser für dieses Heft geplante Besuch eines Flirtkurses fiel (leider) den anderen wichtig(er)en Themen zum Opfer.

Nun noch etwas in eigener Sache. Die letzte Redaktionssitzung des PiD-Teams stand auch im Zeichen der 1. PiD-Fachtagung „Psychotherapie im Dialog” im September 2002 in Berlin. Die Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und die eigene Einschätzung ermutigen uns zur Fortführung der Tagung. Eine erste Planungssitzung der Herausgeber wird bereits im März stattfinden. Genaue Informationen können Sie demnächst unter http://www.thieme.de/pid und in der PiD 2/2003 erfahren. Wir möchten Sie, unsere Leserinnen und Leser, einladen und ermutigen, sich mit inhaltlichen und organisatorischen Anregungen an der Tagungsplanung zu beteiligen.

Wir wünschen Ihnen eine fachlich spannende und anregende, aber auch unterhaltsame Lektüre mit dieser PiD zum Thema „Soziale Angst”.

Steffen Fliegel und Ulrich Streeck

    >