Als Konsequenz der wachsenden Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen treten auch
im Zusammenhang mit der Erörterung von Innovationen im Bereich der psychiatrischen
Versorgung gesundheitsökonomische Argumente immer stärker in den Vordergrund. Diese
Entwicklung zeigt sich unter anderem darin, dass bei der Diskussion neuer Behandlungsmaßnahmen,
sowohl im Bereich der medikamentösen als auch im Bereich der psychosozialen Versorgung,
die Frage der mit diesen Maßnahmen verbundenen potenziellen Kosteneinsparungen einen
zentralen Stellenwert einnimmt. Grundsätzlich ist eine derartige Entwicklung begrüßenswert,
da sie mittel- und langfristig zu einer Steigerung der Effizienz der für die Gesundheitsversorgung
eingesetzten Ressourcen führen könnte. Angesichts des komplexen Systems der Erbringung
und Finanzierung von gesundheitsrelevanten Leistungen im deutschen Gesundheitswesen
stellt sich allerdings immer die Frage, aus welcher Perspektive die Kosten von Gesundheitsleistungen
jeweils beurteilt werden. Wird, wie gegenwärtig weit verbreitet, in erster Linie die
Perspektive der Kostenträger in den Vordergrund der Betrachtung gestellt, so bleiben
Kosten, die bei den Leistungsempfängern selbst oder bei ihren Angehörigen entstehen,
unberücksichtigt und es besteht die Gefahr, dass Maßnahmen zur Einsparung von Kosten
lediglich zu deren Verschiebung führen. Deutlich sichtbar werden solche Verschiebungen
dann, wenn sie sich wie im Falle von Zuzahlungen oder Leistungsstreichungen ausschließlich
auf direkte Behandlungskosten beziehen. Finden demgegenüber Verschiebungen von direkten
Kosten in den Bereich der so genannten indirekten Kosten [1] statt, so bleibt diese Entwicklung mit Ausnahme der direkt Betroffenen von der Öffentlichkeit
weitgehend unbemerkt. So sind z. B. bei Gegenüberstellungen der Kosten von stationärer
und ambulanter psychiatrischer Behandlung die Kosten der Betreuung durch Familienangehörige
in der Regel nicht berücksichtigt worden. Die Gefahr einer Vernachlässigung derartiger
Kosten steigt darüber hinaus, wenn diese nicht direkt in monetärer Form auftreten,
sondern es sich z. B. um eine Verminderung von Erholungsphasen im Berufsleben, Verzicht
von beruflichem Aufstieg oder um gesundheitliche Beeinträchtigungen von Angehörigen
handelt.
Das deutsche System psychiatrischer Versorgung zeichnet sich durch eine Fülle zum
Teil regional sehr unterschiedlicher Hilfsangebote aus. Zwischen klinischer Behandlung
und komplementären Diensten besteht vielfach ein verzweigtes Netz von Absprachen und
Zuständigkeiten, das auch aufgrund unterschiedlicher Kostenträger für den einzelnen
Betroffenen häufig nur schwer zu durchschauen ist. In dieser Versorgungslandschaft
nehmen daher viele Angehörige von psychisch Kranken zunehmend fallbezogene Aufgaben
im Sinne einer quasiprofessionalisierten Rolle ähnlich des Tätigkeitsspektrums eines
„casemanagers” wahr. Neben anderen zusätzlichen Aufgaben von Angehörigen, wie z. B.
der Betreuung des Betroffenen, der Aufrechterhaltung des sozialen Netzwerkes, stellt
diese Funktion eine wichtige Ressource im psychosozialen Versorgungsnetz dar, die
unentgeltlich erfolgt. Gerade bei längerfristigen und chronischen Verläufen sind erhebliche
Belastungen durch diese zusätzlichen Aufgaben erwartbar, die unterstützende Angehörige
selbst in ihrer psychischen und physischen Gesundheit gefährden [2]. Im Rahmen einer Leipziger Längsschnittstudie bei Angehörigen von Patienten mit
unterschiedlichen psychischen Erkrankungen werden zum einen erhebliche Auswirkungen
auf die psychische Gesundheit [3] der Partner psychisch Kranker beschrieben, die sich insbesondere in Form von vermehrt
auftretenden depressiven Erkrankungen zeigen. Zum anderen weisen Jungbauer et al.
[4] in Vergleichen zwischen Partnern und Eltern schizophrener Patienten auf eine Reihe
von psychosomatischen Beschwerden und Beeinträchtigungen der Lebensqualität hin. Als
Folge ist eine vermehrte Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen durch Angehörige
psychisch Kranker zu verzeichnen.
Besonders im Rahmen der gegenwärtig beginnenden Diskussion alternativer Finanzierungskonzepte
der psychiatrischen Versorgung [5] erscheint es aufgrund dieser Befunde notwendig, die Gefahr einer Kostenverschiebung
in Form einer Transformation von direkten Behandlungskosten in einen erhöhten familiären
Betreuungsaufwand, wie sie z. B. bei einer vorzeitigen Entlassung aus einer stationären
Behandlung auftreten kann, in den Blickpunkt zu rücken. Dies erscheint vor allem deshalb
dringend geboten, weil bisher sowohl direkte als auch indirekte finanzielle Belastungen
von Angehörigen psychisch kranker Menschen in der Literatur nahezu völlig vernachlässigt
wurden. Um die Komplexität der Belastungen von Angehörigen zu erfassen, ist dies jedoch
ein wichtiger Aspekt, dem durch systematische Forschung auch mit dem Ziel eines besseren
Verständnisses der besonderen Lebenssituation betroffener Familien Rechnung zu tragen
ist.
Ausgangspunkt einer derartigen Betrachtung muss die Untersuchung der Frage sein, in
welcher Form und in welchem Umfang familiäre oder andere soziale Unterstützungssysteme
bereits heute direkte und indirekte Kosten psychischer Erkrankungen tragen. Die Ergebnisse
derartiger Untersuchungen können einerseits die Grundlage für Modellrechungen zur
Abschätzung der durch bestimmte Maßnahmen verursachten Kostenverschiebungen sein und
andererseits Anhaltspunkte dafür liefern, in welchem Umfang bestehende soziale Unterstützungssysteme
derartige Kostenverschiebungen verkraften können, ohne ihr Unterstützungspotenzial
ganz oder teilweise zu verlieren.
Die folgenden Arbeiten, die Ergebnisse einer Leipziger Längsschnittstudie zu finanziellen
Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker darstellen, greifen sowohl auf quantitative
als auch auf qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden zurück. Neben den direkten
Kosten kommen hiermit auch subjektiv wahrgenommene finanzielle Lasten der betroffenen
Angehörigen zur Sprache, die als indirekte Kosten in die finanziellen Belastungen
von Angehörigen psychisch Kranker eingehen. In der Zusammenfassung beider Aspekte,
der quantitativen und der qualitativen Ergebnisse, wird so eine komplexe Betrachtung
erlebter finanzieller Benachteiligungen von Familien mit psychisch kranken Patienten
ermöglicht.