Einleitung
Der Konsum von Kokain hat in den letzten Jahren enorm zugenommen.
Bei den von uns stationär behandelten heroinabhängigen Patienten
konsumiert der größte Teil zusätzlich Kokain. Zunehmend kommen
auch Patienten zur Aufnahme, die als Hauptdroge Kokain konsumieren und Heroin
nur, um von dem Kokain wieder „herunterzukommen”.
Im Jahre 2000 konsumierten von den 1300 bei uns stationär
behandelten Patienten 67 % Kokain, davon immerhin
49 % täglich. Der Hauptteil der Patienten
(80 %) führte sich das Kokain intravenös zu,
16 % inhalativ und der Rest ausschließlich nasal.
Die Behandlung von kokainabhängigen Patienten stellt sich
häufig als ein unlösbares Problem dar. Zum einen gibt es keine
befriedigenden pharmakologischen Antworten, insbesondere was das
ausgeprägte Craving nach Kokain angeht, zum anderen scheinen diese
Patienten für längerfristige therapeutische Angebote schwerer
erreichbar zu sein.
Kasuistik
Die erstmalige Aufnahme in unserer suchtpsychiatrischen Abteilung
erfolgte im Jahre 2000 als Verlegung aus einer allgemeinpsychiatrischen
Abteilung. Der Patient war dort im Rahmen eines depressiven Syndroms mit akuter
Suizidalität stationär behandelt worden, vor dem Hintergrund einer
Kokainabhängigkeit.
Bis zum Ende des darauf folgenden Jahres erfolgten fünf weitere
Aufnahmen in unserer Abteilung, einmal aufgrund des schlechten
körperlichen Zustandes, weitere Male bei akuter Suizidalität. Der
Patient wurde 1965 in Chile geboren und wuchs mit drei Schwestern, die eine
jünger und die anderen älter, bei den leiblichen Eltern auf. Im
März 1973 starb der Vater des Patienten an einem Herzinfarkt, im gleichen
Jahr erfolgte die Verhaftung der Mutter infolge des Putsches in Chile. 1975
floh die Mutter gemeinsam mit ihren Kindern nach Deutschland. Der Patient
begann nach dem Abitur ein Medizin-Studium, scheiterte jedoch bisher am
Physikum. Er verdiente Geld mit Assistenzarbeiten bei Operationen in einer
orthopädischen Klinik, war dort auch mit einem Assistenzarzt befreundet,
der später Suizid beging. 1982 wurde seine Tochter geboren. Die Mutter des
Kindes, von der der Patient mittlerweile getrennt lebt, ist
drogenabhängig. In der Familie des Patienten kommen keine
Suchterkrankungen vor. Das Kind lebt aktuell bei der Mutter des Patienten, da
er selbst aufgrund des exzessiven Kokainkonsums nicht mehr dazu imstande
gewesen war, sie zu versorgen. Bei Erstaufnahme konsumierte der Patient
durchschnittlich ein Gramm Kokain pro Tag, in erster Linie nasal. Das
Konsummuster änderte sich im Verlauf der Aufenthalte. Den ersten Kontakt
mit Kokain hatte der Patient mit 21 Jahren, wobei er zunächst nasal
konsumierte. Regelmäßig Kokain konsumiert er seit seinem 34.
Lebensjahr, wobei hier auch erstmals ein intravenöser Konsum stattfand.
Die Begründung für den intravenösen Konsum findet sich nach den
Aussagen des Patienten in der größeren Wirksamkeit und vor allem
Intensität unmittelbar nach der Applikation. Der „Kick” sei
unbeschreiblich. Das Ganze sei „wie ein Orgasmus im Kopf”, alles
„sei so unheimlich klar”. Man sei selbstbewusst und selbstsicher,
das Persönlichkeitsgefühl sei insgesamt gehoben. Der Patient
berichtete weiter, dass er nach Kokain ein anderes Verlangen verspüre als
nach anderen Substanzen. Der Druck, erneut zu konsumieren, sei stärker als
bei anderen Substanzen und trete im Übrigen schon kurz nach der Einnahme
erneut auf.
Als Grund für seinen Kokainkonsum gab der Patient eine
Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit an, die ihm dazu verholfen habe,
zumindest zu Beginn, alles besser bewerkstelligen zu können. Er habe
gehofft, damit sein Studium, seine Arbeit neben dem Studium und die Versorgung
seiner Tochter besser bewältigen zu können. Außerdem habe er
eine höhere Alkoholtoleranz gehabt und habe weniger die sedierende Wirkung
des Alkohols verspürt.
Heroin hatte der Patient vor seinem ersten Aufenthalt einmal mit 19
Jahren nasal probiert. Cannabis konsumierte er regelmäßig seit
seinem 18. Lebensjahr. Einen regelmäßigen Alkoholkonsum betreibt der
Patient seit seinem 15. Lebensjahr, zum Zeitpunkt der Erstaufnahme trank er
etwa zehn Liter Bier täglich. Die zweite Aufnahme in unserer Klinik
erfolgte etwa zweieinhalb Monate später, diesmal als eine Direktaufnahme
nach vorheriger Anmeldung. Der Patient berichtete, nach der Entlassung rasch
wieder Kokain konsumiert zu haben, etwa zwei- bis dreimal pro Woche ca. ein
Gramm intravenös. Hinzugekommen war außerdem der etwa zweimal
wöchentliche Konsum von ca. 1/10 g Heroin
i. v. Außerdem konsumierte er weiterhin etwa zehn Liter Bier pro
Tag.
Psychopathologisch ergaben sich bei den jeweiligen Aufnahmen die
folgenden Auffälligkeiten: Die Stimmung war depressiv herabgesenkt, von
Verzweiflung, Selbstvorwürfen, Perspektivlosigkeit und Schlaflosigkeit
geprägt. Das formale Denken war sprunghaft und weitschweifig, eine
Konzentrationsminderung fiel ebenfalls auf. Es zeigte sich immer wieder eine
psychomotorische Unruhe mit ungerichtet gesteigertem Antriebsverhalten. Der
Patient berichtete über Affektlabilität und zeigte teilweise
aggressives Verhalten. Eine Störung des Ich-Erlebens, inhaltliche Denk-
oder Wahrnehmungsstörungen waren nicht feststellbar.
In den Verläufen zeigte sich vorrangig eine schwere depressive
Verstimmung, die wir auch als eine psychische Entzugssymptomatik vom Kokain
werteten. Aus diesem Grunde verabreichten wir zunächst das Antidepressivum
Mianserin in einer Dosierung von 60 mg täglich, was jedoch nicht
den gewünschten Effekt der Stimmungsaufhellung erreichte, so dass auf
20 mg Citalopram umgestellt wurde. Relativ rasch kam es dann zu einer
Stimmungsaufhellung sowie einer Normalisierung des Antriebs. Bei einer anderen
stationären Aufnahme behandelten wir ebenfalls mit gutem Erfolg mit
Amitriptylin. Bei einer weiteren stationären Aufnahme zeigte sich eine
deutliche Entzugssymptomatik von Alkohol und Heroin, die mit Hilfe von
Distraneurin und Methadon in ausschleichender Dosierung behandelt werden
musste. Gleichzeitig nahm der Patient regelmäßig an einem auf
unseren Stationen vorgehaltenen Akupunkturangebot teil und konnte davon
profitieren. Er empfand die Akupunkturbehandlung, die täglich erfolgte,
als „innerlich beruhigend” und den Hunger nach Kokain deutlich
dämpfend. Immer wieder berichtete er über ein ausgeprägtes
Craving nach erneuter Kokainzufuhr und meinte, das Kokain im Mund schmecken zu
können.
Die Entlassungen erfolgten jeweils nicht regulär, sondern waren
entweder Behandlungsabbrüche oder disziplinarische Entlassungen, da sich
der Patient nicht an die Regeln der Station hielt. An seiner sozialen Situation
änderte sich nichts, ebenso wenig wie an der Situation seiner Tochter. Bei
den nächsten Aufenthalten war ein Rückgang des Heroin-Konsums zu
beobachten, der Konsum von Kokain stand wieder im Vordergrund. Das Kokain
konsumierte der Patient im Verlauf jedoch nicht mehr intravenös, sondern
nur noch nasal. Schließlich gelang es, den Patienten zu einer
stationären Langzeitentwöhnungsbehandlung zu motivieren. In Absprache
mit dem Jugendamt und der die Tochter behandelnden kinderpsychiatrischen Klinik
wurde als Perspektive eine gemeinsame stationäre Langzeittherapie
erarbeitet. Am Abend vor der Verlegung wurde der Patient jedoch mit Alkohol
rückfällig, leugnete dies aber und schob seine
Atemalkoholkonzentration auf ein „Speiseeis”.
Die Aufnahme in der therapeutischen Einrichtung mit seiner Tochter
erfolgte dennoch. Noch am gleichen Tag musste die Entlassung erfolgen, da sich
der Patient nicht auf die Hausordnung einlassen konnte oder wollte. Später
schließlich gelang es dem Patienten, eine dreimonatige Kurzzeittherapie
zu absolvieren. Er wurde jedoch kurz nach dem Abschluss der Behandlung erneut
mit Kokain rückfällig. Bei Betrachtung der stationären
Aufenthalte wurde bei dem Patienten eine narzisstische Problematik sehr
deutlich, die ihn immer wieder nach Überwinden der jeweilige Krisen bei
Aufnahme als Co-Therapeuten in den Stationsgruppen auftreten ließ. Seine
Rückfälle mit Kokain und/oder Alkohol bei den stationären
Aufenthalten leugnete er über lange Strecken und es gelang ihm nur sehr
schwer, sich damit in Zusammenhang zu bringen bzw. sich damit auseinander zu
setzen.
Bei der körperlichen Untersuchung zeigten sich
Injektionsstellen und Hämatome in beiden Ellenbeugen und an beiden
Unterarmen, auf dem linken Arm ein beginnender Abszess. Röntgen-Thorax und
das EKG waren ohne pathologischen Befund. Serologisch zeigte sich eine
Immunität gegen Hepatitis B, für Hepatitis A und C ergab sich kein
Anhaltspunkt. TPHA und HIV waren ebenfalls negativ. Ebenso ergab die
übrige Laborroutine keinen richtungweisenden Befund.
Diskussion
Bei dem Patienten zeigte sich bei den jeweiligen Aufnahmen eine
ausgeprägte depressive Symptomatik, die einherging mit Suizidalität
und einem Suizidversuch. Durch eine konsequente psychiatrische
Krisenintervention unter Einbeziehung einer pharmakologischen Behandlung gelang
es jeweils, den Patienten psychisch zu stabilisieren. Die Gabe von
Antidepressiva stellte eine große Hilfe für den Patienten dar.
Die psychiatrische Behandlung muss zu Beginn den Schwerpunkt haben,
den Patienten in der stationären Behandlung zu halten. Zusätzlich
können bei Kokainabhängigen niederpotente Neuroleptika und in
zugespitzten Situationen (ausgeprägtes Craving oder ausgeprägte
psychomotorische Unruhe) auch Benzodiazepine zum Einsatz kommen.
Anti-Craving-Substanzen oder der Einsatz von Ritalin als
Substitution bei Kokainabhängigen hat sich nach unseren Erfahrungen nicht
bewährt und hat nicht zur Minderung des „Suchtdruckes”
geführt.
Des Weiteren ist ein engmaschiger therapeutischer Kontakt zu den
kokainabhängigen Patienten notwendig. In dem vorliegendem Fall geht der
Konsum des Kokains eng mit der bestehenden Selbstwertproblematik und dem hohen
Leistungsdruck, unter den sich der Patient setzt, einher. Die intravenöse
Konsumform des Kokains stellte sich auch bei diesem Patienten als problematisch
dar. Hieraus resultierten die entsprechenden Abszessbildungen. Durch die
lokalanästhetische Wirkung des Kokains bemerken die Konsumenten nicht,
dass sie sich ins Gewebe injizieren und nicht in die Vene. Die vorbehaltlosen
erneuten Aufnahmen des Patienten bzw. seine Akzeptanz durch das Stationsteam
war für ihn und sein Fortkommen von entscheidender Wichtigkeit.
Häufige stationäre Aufnahmen können wie in der vorliegenden
Kasuistik dazu führen, dass auf eine unproblematischere Konsumform (nasal)
umgestiegen wird und sich eine weitergehende Motivation mit dem Patienten
erarbeiten lässt.