Suchttherapie 2002; 3(1): 24-25
DOI: 10.1055/s-2002-23522
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zum praktischen Umgang der Drogenhilfe mit Crack-Konsumenten

Practical Aspects in Dealing with Crack Users in Addiction ServicesNorbert Dworsky
  • 1„freiraum hamburg e. V.”
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Norbert Dworsky

„freiraum hamburg e. V.”

Steindamm 35

20099 Hamburg

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. April 2002 (online)

Inhaltsübersicht

    In Hamburg haben Politik und Verwaltung trotz vielfacher und umfangreicher Darstellungen durch die Praktiker über Jahre von der wachsenden Crack-Problematik kaum Notiz genommen und lange Zeit nicht reagiert. Drängende Probleme und viele offene Fragen haben sich inzwischen angehäuft und müssen jetzt endlich behandelt werden.

    In den letzten Jahren haben Praktiker in Hamburg zusammen mit Fachleuten aus verschiedenen Bereichen (z. B. Kirche, Polizei, Geschäftsleute, Jugendhilfe, Drogenhilfe) und mit Vertretern aus dem In- und Ausland (z. B. Pastor Visser, Rotterdam) mögliche und auch derzeit noch unmögliche Lösungsmodelle für das neu entstandene und sich ausweitende Crack-Problem diskutiert, etwa spezielle und integrierte Einrichtungen, Tages- und Nachtangebote, Case-Management, Straßensozialarbeit, frauenspezifische Angebote, Erreichbarkeit von jugendlichen Einsteigern, Duldungsplätze und „Plätze verminderter Aufmerksamkeit”, Kooperationen für Soforthilfen‚ Akupunktur, „Basements” (Einrichtungen mit Hausdealern für Crack-Konsumenten). Auch wenn das Crack-Problem inzwischen in vielen Fachbereichen erörtert wird, war bisher leider noch keine praktische Umsetzung der entwickelten Vorstellungen möglich.

    Änderungen im Konsumverhalten sind nicht außergewöhnlich. Ende der 80er-Jahre befasste sich die Drogenhilfe im Bereich der illegalisierten Drogen insbesondere mit Heroinisten, die andere Drogen (z. B. Alkohol und Kokain) ablehnten. Kokain galt zu der Zeit als Künstler- und Partydroge. Die Szenen der Cannabis-/Heroin-/Kokain-/Alkohol-/Medikamente-User waren weitgehend getrennt. Anfang bis Mitte der 90er Jahre nahm der Mischkonsum von Heroin und Barbituraten/Benzodiazepinen (vorwiegend Rohypnol) stark zu. Zeitgleich fingen vereinzelt KonsumentInnen an, sog. „Speedballs” oder „Cocktails” zu benutzen, eine Mischung aus Heroin und Kokain, z. T. angereichert mit Barbituraten und Benzodiazepinen. Die psychischen und physiologischen Wirkungen dieser Cocktails stellte die Drogenhilfe vor neue Anforderungen. So unterschieden sich z. B. die Entzüge gravierend von Heroinentzügen (andere Entzugszeiten und -symptome, Auftreten von Halluzinationen, Psychosen) und das Verhalten der KlientInnen wurde unberechenbarer. Mitte der 90er Jahre gingen immer mehr KonsumentInnen, die bisher Kokain intravenös konsumiert hatten, dazu über, Kokainhydrochlorid mit z. B. Ammoniak oder Natron in die rauchbare basische Form zu überführen. Sie bezeichneten diesen Vorgang als „basen” oder „backen”. In den letzten Jahren stellten die KonsumentInnen kaum noch selbst Crack her, da der Markt zunehmend und heute fast ausschließlich mit sog. „Crack-Steinen” beliefert wird. Z. T. werden die Steine heute nicht mehr an die KonsumentInnen verkauft, verkauft wird der Zug aus der Pfeife.

    Die Drogenhilfe ist mit sehr verschiedenen Auswirkungen durch Crack-Konsum konfrontiert, den typischen Crack-User gibt es nicht und einzelne Crack-Szenen in den verschiedenen Quartieren unterscheiden sich sehr voneinander. In Hamburg gibt es ca. 15 000 KonsumentInnen, davon halten sich ca. 1000 bis 2000 täglich in den offenen Szenen auf. Dieser Personenkreis wird in diesem Artikel behandelt. Über die verdeckten, häuslichen Crack-Szenen liegen kaum Erkenntnisse über Umfang, Konsummuster etc. vor. In den offenen Szenen halten sich überwiegend polyvalent konsumierende Crack-User auf, die meist mehrfach geschädigt und langjährig abhängig sind. Kokain/Crack nehmen sowohl hinsichtlich Konsum als auch dessen Auswirkungen (starke und schnelle physische und psychische Verelendung bis hin zu Paranoia und Psychosen/Doppeldiagnosen) einen wesentlichen Raum bei diesen KonsumentInnen in ihren täglichen Lebensabläufen ein. In der Praxis fallen viele durch nahezu alle Raster des derzeitigen Drogenhilfesystems, da sie in ihren Crack-Phasen die meisten Hilfsangebote nicht aufsuchen oder nur punktuelle Hilfen in Anspruch nehmen. Meist handelt es sich um KonsumentInnen, die der Drogenhilfe bekannt sind und die zu ihren bisherigen Konsummustern ein weiteres hinzugenommen haben. Diese KonsumentInnen sind sehr unterschiedlich dosiert (1 Pfeife/Tag bis zu 80 Pfeifen/Tag). Die Phasen des Crack-Konsums sind ebenfalls sehr individuell (wenige Stunden bis zu 14 Tagen). Befragungen durch szenenahe Einrichtungen haben ergeben, dass nahezu alle User nach dem Absetzen des Cracks Heroin, Barbiturate, Benzodiazepine o. ä. gegen die auftretenden Depressionen nehmen. Reine Crack-KonsumentInnen sind in dieser Zielgruppe kaum bekannt, obwohl insbesondere bei vielen Frauen von einem überwiegenden Kokain-/Crack-Konsum gesprochen werden kann. Die meisten dieser KonsumentInnen leben unter extrem schlechten Verhältnissen. Kauf und Konsum des Kokain/Crack liegen meist dicht beieinander, spielen sich daher oft in den sog. „offenen Drogenszenen” ab. Diese Drogenszenen stellen insbesondere für die Quartiere, in denen sie sich ansiedeln, eine erhebliche subjektive, aber auch objektive Belastung dar.

    Viele dieser Crack-KonsumentInnen sind obdachlos. Die unter Bedingungen von Obdachlosigkeit unzureichende Körperpflege und -hygiene führt zur Verwahrlosung und zu parasitären Erkrankungen (z. B. Befall mit Läusen und Scabies). Ständiger Geldmangel (die meisten haben kein eigenes Einkommen und beziehen Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld, gehen der Beschaffungsprostitution oder -kriminalität nach, dealen mit kleinen Mengen oder betteln) zieht in der Regel eine unzureichende Ernährung nach sich; viele dieser DrogenkonsumentInnen sind schlicht unterernährt mit den entsprechenden Folgen z. B. für die körpereigenen Abwehrkräfte, d. h. es besteht erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten aller Art. Oft wird nicht genügend Flüssigkeit getrunken. Folgen sind Austrocknungserscheinungen, insbesondere der Schleimhäute. Dies führt zu erhöhtem Infektionsrisiko, vor allem bei KonsumentInnen, die der Prostitution nachgehen. Viele Krankheiten, die in anderen Bevölkerungsgruppen im Verhältnis in erheblich geringerem Umfang vorkommen, z. B. Hepatitiden, Geschlechtskrankheiten, Lungenerkrankungen und Tuberkulose, sind unter diesen DrogenkonsumentInnen gehäuft zu diagnostizieren.

    Analysen von Straßenkokain ergaben schwankende Zusammensetzungen mit Kokainanteilen zwischen 0 % und 95 %. Unbekannte Zusammensetzungen der Drogen führen immer wieder zu versehentlichen Überdosierungen bzw. Folgeschäden. Beim Crack (die reinere Freebase wird auf dem Markt nur selten angeboten), das z. T. mit ebenfalls schädlichen Substanzen (z. B. Ammoniak) hergestellt wird, sind die Streckstoffe des als Ausgangsstoff verwendeten Kokainhydrochlorids weiterhin enthalten. D.h., die KonsumentInnen inhalieren beim Crackrauchen eine undefinierbare Mischung von Stoffen, die erhebliche Schäden, z. B. in der Lunge, anrichten können. Die Hepatitis-C-Infektionsrate liegt bei dieser Gruppe enorm hoch (Schätzungen gehen von 50 % bis über 80 % aus). Eine Begründung könnte darin liegen, dass z. B. das Kokain im Straßenverkauf aus dem Mund des Dealers direkt auf den Löffel des Users und von dort - unaufgekocht! - in die Injektionsspritze und in den Körper gelangt.

    Der Crack-Konsum findet meist unmittelbar nach dem Kauf statt. Bei denjenigen, die bis zu 40 Pfeifen oder mehr am Tag rauchen, sind Kauf und Konsum kaum noch zu trennen. Dies bestimmt auch das Gesicht der Szenen, in denen sich diese KonsumentInnen aufhalten. Episodenhafte Kauf- und Konsumgewohnheiten bis hin zu mehreren Tagen rund um die Uhr stellen andere Anforderungen an das Drogenhilfesystem als die bisherigen Konsumgewohnheiten mit einem relativ stabilen Tag- und Nacht-Rhythmus. Die Schnelligkeit des Szenelebens der Koks-/CrackkonsumentInnen, die Unrast der Betroffenen und die speziellen Auswirkungen der Drogen, insbesondere auf die Psyche, erfordern ein schnelles und wirksames Agieren des Hilfesystems. Die Betroffenen müssen aus der Szene abgeholt/herausgelöst und durch das Hilfesystem begleitet werden. Gerade für diese Menschen müssen Soforthilfen angeboten werden, die unmittelbare Erfolge organisieren - sei es ein Schlafplatz, eine medizinische oder psychiatrische Untersuchung, Akupunktur - sofort, Entgiftung - mit kompetenten Ansprechpartnern, z. B. für schnelle Kostenbewilligung bei Krankenkassen/Sozialämtern/LVA/BfA etc., ein warmes Essen und Getränke, Kriseninterventionen, Beratungen etc. Dazu kommt eine Unmenge an weiteren Problemen hinsichtlich Verschuldungen, Wohnsituation, Schule/Ausbildung/Arbeitsplatz, rechtliche Angelegenheiten, Familie (Ursprungsfamilie und/oder PartnerIn und Kinder), psychische Krisen, Umgang/Probleme mit Ämtern und Behörden usw. Es handelt sich in den seltensten Fällen um Einmalhilfen. Beharrlichkeit und permanente Abholbereitschaft bestimmen die Arbeit mit dieser Zielgruppe.

    In den Einrichtungen verursachen Crack-KonsumentInnen zunehmend Probleme und lösen Konflikte aus. Das hängt zuerst einmal mit der Schnelligkeit zusammen, die durch den Crack-Konsum produziert wird, Kauf und Konsum folgen direkt aufeinander. Daraus entstehen Hektik, ständige Versuche des Handelns, veränderte Verhaltensweisen, die durch den Crack-Konsum mehr oder weniger stark ausgeprägt auftreten, wie z. B. Hyperaktivität, Überempfindlichkeit gegenüber Außenreizen (laute Musik/Geräusche/Gespräche, Hektik der anderen KlientInnen usw.), rascher physischer und psychischer Verfall, u. a. verstärkt durch Schlafmangel und Austrocknung der Schleimhäute, paranoide oder psychotische Zustände. Um auf diese Veränderungen bei den KlientInnen adäquat reagieren zu können, sind verschiedene Fortbildungen der MitarbeiterInnen erforderlich (z. B. Deeskalations-Strategien, Talkingdown-Techniken, Kriseninterventionen, Konfliktmanagement). Zusätzlich müssen die Drogenhilfeeinrichtungen durch Umbauten auf die neuen Situationen reagieren, etwa zur Schaffung von Chill-out-Räumen, Konsumraum für die Kokainisten und Crack-Konsumenten mit einem reizarmen Ambiente, Tagesschlafplätze oder ein Raum für die Ohrakupunktur, bzw. müssen spezielle Einrichtungen geschaffen werden.

    Weitere Angebote für Crack-KonsumentInnen sind insbesondere erforderlich für die Bereiche:

    • Prävention

    • Kontakt- und Beratungsstellen

    • Straßensozialarbeit und Case-Management

    • Akupunktur im niedrigschwelligen Bereich

    • Frauen und Schwangere (vor und nach der Geburt)

    • Problematiken und Bedarfe der sog. „Crack-Babys”

    • Jugendliche, die Crack als Einstiegsdroge benutzen (spezielle Angebote und Hilfen)

    • Psycho-soziale Betreuung

    • Entgiftung und Therapie

    Norbert Dworsky

    „freiraum hamburg e. V.”

    Steindamm 35

    20099 Hamburg

    Norbert Dworsky

    „freiraum hamburg e. V.”

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