Suchttherapie 2001; 2(4): 181-182
DOI: 10.1055/s-2001-19380
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialRainer Ullmann96-1
  • 1Hamburg
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Dr. med. Rainer Ullmann

Curschmannstraße 10

20251 Hamburg

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Publication Date:
02 January 2002 (online)

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    Ärzte haben sich jahrzehntelang von der Behandlung Suchtkranker ferngehalten und wurden - besonders aus der Behandlung Opiatabhängiger - herausgedrängt. Deshalb ist vielen Menschen die ärztliche Aufgabe bei der Behandlung Suchtkranker nicht klar. Auch im Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der über den Zugang zu Leistungen der GKV entscheidet, ist nicht klar, dass 1. Ärzte Suchtkrankheiten behandeln können und 2. die Kosten der Behandlung nur einen Bruchteil der Kosten der vermiedenen Komplikationen ausmachen. Im Jahre 2001 fragt der Vorsitzende des Bundesausschusses, was denn die ärztliche Behandlung der Sucht - hier der Heroinabhängigkeit - sei.

    Nach vielen Untersuchungen sehen Hausärzte die meisten abhängigen Patienten, bevor sich diese an spezielle Suchtberatungsstellen wenden. Leider wird bei diesen Kontakten die Sucht nur selten angesprochen. Es ist also sinnvoll, Hausärzte dazu zu ermuntern, damit Sucht früher erkannt und behandelt wird, möglichst bevor schwere Schäden entstehen. Dem steht entgegen, dass ärztliche Suchtbehandlung erst seit kurzem in die universitäre Ausbildung aufgenommen wurde. Dem steht auch entgegen, dass die für die Behandlung notwendigen Gespräche zuerst budgetiert wurden und jetzt im Praxisbudget enthalten sind. Sie sind so nicht wirtschaftlich zu erbringen.

    Ärztliche Behandlung ist in großem Umfang medikamentöse Behandlung. Das mag man bedauern, diese Tatsache muss man wahrnehmen. 1999 gab die GKV von ca. 240 Mrd. DM insgesamt 37 Mrd. DM für Arzneimittel und 41 Mrd. DM für die ärztliche Behandlung aus. Für nichtmedikamentöse Behandlungsformen wird erheblich weniger ausgegeben: Psychotherapeutische Leistungen machen 2 % des ärztlichen Honorars aus, Physiotherapie ist in den 6 Mrd. DM für Heilmittel enthalten. Auch in der öffentlichen Meinung ist dann ein therapeutischer Durchbruch erzielt, wenn eine erfolgreiche medikamentöse Behandlung eingeführt wird. Ähnliche Begeisterung wird durch psychotherapeutische Verfahren nicht geweckt.

    Ein weiterer Punkt: Man kann nicht sagen, dass Ideen aus hausärztlichen Praxen von den forschenden Kollegen begeistert aufgegriffen werden. Dafür ist die Substitutionsbehandlung ein gutes Beispiel. Sie wurde zuerst in hausärztlichen Praxen durchgeführt, nicht in Universitätskliniken. Viele Ärzte wurden mit strafrechtlichen und berufsrechtlichen Prozessen und mit Regressforderungen überzogen, bis sich die Substitutionsbehandlung als Standardbehandlung durchgesetzt hat. Die 1975 von einem Hausarzt eingeführte Behandlung der Heroinabhängigkeit mit retardiertem DHC, das für Menschen ohne Opiattoleranz weniger lebensgefährlich ist als Methadon, wurde nie in kontrollierten Studien mit Methadon verglichen, obwohl mehrere 10 000 Heroinabhängige mit diesem Medikament behandelt wurden. Stattdessen wurde diese Behandlungsform als „graue Substitution” diffamiert. Schon vorher hatten Heroinabhängige versucht, sich Opioide verschreiben zu lassen. Aber wenn Heroinabhängige das illegalisierte Heroin durch ein legales Opioid ersetzten (Kodeinpräparate, Buprenorphin) und so versuchten, die Kontrolle wiederzugewinnen, wurde das als Missbrauch angesehen. Tatsächlich nahmen sie die Substitutionsbehandlungen und opiatgestützte Entzüge vorweg. Sie wussten schon vor mehr als 25 Jahren, dass die stationäre Abstinenztherapie nicht der Königsweg aus der Sucht ist - heute wissen es auch die Politiker.

    Der Versuch der Ärzte, sich wieder in der Behandlung Suchtkranker zu engagieren, wurde vom etablierten Suchthilfesystem nicht begrüßt, obwohl die Behandlungsergebnisse (ein medizinischer Begriff) der stationären Abstinenztherapien nicht zufrieden stellend waren. Ich hätte mir eine offene Diskussion über die Zusammenarbeit beider Behandlungsansätze gewünscht. Die Vorbehandlung Heroinabhängiger mit Opioiden bis zur freien Entscheidung für eine stationäre Abstinenztherapie und die Möglichkeit, das Substitutionsmittel während der Therapie langsam zu reduzieren, hätte die Abbruchquote sicher gesenkt. Die Behandlung psychischer Grundkrankheiten vor Beginn der Suchtbehandlung hätte die Erfolgsrate verbessert. Entgegen dem US-amerikanischen Konzept ist die Substitutionsbehandlung Heroinabhängiger in der hausärztlichen Praxis möglich und effektiv, wie in verschiedenen europäischen Ländern und Australien gezeigt wurde. Der Vorteil hausärztlicher Tätigkeit ist besonders der langjährige stabile Kontakt mit den Patienten. Studien sind meist nur auf kurze Zeiträume angelegt. Gerade bei Suchtverläufen ist aber eine langjährige Beobachtung wünschenswert. Peter Raschke und ich beschreiben deshalb bis zu 10-jährige Verläufe bei der Behandlung von Heroinabhängigen mit einem ärztlichen, weniger ordnungspolitischen Ansatz. Dazu passen die Bemerkungen von Herbert Elias über die Genehmigungspraxis der Beratungskommissionen und Fallbeschreibungen von Patienten, deren weitere Substitutionsbehandlung von der Beratungskommission wegen Beigebrauch abgelehnt wurde. Alkoholabhängigkeit ist das größere Problem. Bei Alkoholabhängigen wird die Sucht meist ignoriert. Dabei ist die Effektivität auch kurzer Gespräche seit langem erwiesen. Zur Behandlung Alkoholabhängiger finden Sie ein Konzept von Frank Köhler, Edgar Zeissler und Joachim Lauterbach, die die Zusammenarbeit einer hausärztlichen Praxis mit einer Alkoholberatungsstelle beschreiben. Albrecht Ulmer stellt einen medikamentösen Behandlungsversuch vor, der aus der Beobachtung in seiner Praxis entstanden ist, der aber schon in der älteren Literatur erwähnt wurde - die Verordnung von Kodeinpräparaten an Alkoholabhängige. Der Wechsel zwischen Alkohol und Opiaten ist bei süchtigem Konsum häufig. Es gelingt oft nicht, den süchtigen Alkoholkonsum zu einem willkürlichen Zeitpunkt zu beenden. Dann ist die Verordnung einer weniger gefährlichen Substanz, die die Gier nach dem Alkohol nimmt, eine wichtige Therapieoption zur Schadensminderung. Dieser Ansatz ist bei der Behandlung der Abhängigkeit von illegalisiertem Heroin seit Jahrzehnten bewährt. Wenn es gelingt, den süchtigen Konsum von Alkohol in einen kontrollierten Konsum von einem milden Opioid wie Kodein zu überführen, ist das eine erhebliche Verbesserung für den Patienten. Das Medikament ist oft das Vehikel, mit dessen Hilfe ein lang dauernder Kontakt aufrechterhalten wird.

    Was der Morphinismus vor über 100 Jahren war - der leichtfertige Einsatz des subkutan injizierten Morphins bei vielerlei Indikationen - ist die Benzodiazepinabhängigkeit jetzt. Im Vergleich mit den frei verkäuflichen Suchtmitteln Alkohol und Tabak und dem illegalisierten Heroin und Kokain sind eher wenige Menschen betroffen und die sozialen Konsequenzen sind geringer. Während von 1870-1930 lebhaft in der Standespresse über den iatrogenen Morphinismus diskutiert wurde, ist die Diskussion über die Benzodiazepinabhängigkeit spärlich. Opiate und Benzodiazepine sind Medikamentengruppen mit hervorragenden Eigenschaften, die kein Arzt missen möchte - und dem Risiko der Abhängigkeit. Ähnlich wie damals wehrt sich eine einflussreiche Industrie gegen Beschränkungen. Systematisch werden Benzodiazepine hoch dosiert angeboten. Forschung wird (natürlich) von der Industrie nur gefördert, wenn der Nutzen eines Medikaments bewiesen und nicht, wenn ein vermuteter Schaden aufgezeigt werden soll. Betroffen sind von der Verschreibung ältere Frauen - vor der Illegalisierung wurden ihnen Opiate verschrieben, jetzt sind es Benzodiazepine. Viola Wegerer und Wolfgang Poser beschreiben ihre Untersuchung: Reine Benzodiazepinabhängigkeiten sind selten und treten dann oft in der Form der „Niedrigdosisabhängigkeit” auf. Wichtig ist die Beobachtung, dass es einigen Menschen nach dem Benzodiazepinentzug schlechter geht als vorher. Die Autoren schließen, dass diesen Patienten ein Benzodiazepin verordnet werden sollte. Diese Überlegung ist auch aus der Morphinismusdiskussion der 20er Jahre bekannt und sollte dazu führen, dass wieder über Erhaltungstherapien nachgedacht wird (und über die Fähigkeit zu kontrolliertem Gebrauch als Therapieziel, wenn Menschen die Verfügung über Genussmittel haben).

    Nikotinabhängig sind noch mehr Menschen als alkoholabhängig. Auch hier werden jetzt schadensmindernde Konzepte diskutiert, z. B. die weitere Zufuhr des Nikotins. Wenn reines Nikotin zugeführt wird, ist die Sucht zwar nicht geheilt, aber der Schaden ist viel geringer als beim Rauchen.

    Über die Qualität ärztlicher Arbeit wird in der letzten Zeit viel diskutiert. Oft wird versucht, mit von außen aufgezwungenen Reglementierungen eine bessere Behandlung zu erreichen. Ingo Flenker, Anke Follmann und Hans-Dieter Nolting stellen mit dem von allen an der Substitutionsbehandlung beteiligten Berufsgruppen erarbeiteten ASTO-Handbuch ein Modell vor, wie die Behandlung durch eine fachliche Diskussion verbessert werden kann.

    Ich hoffe, dass die Diskussion über die Behandlung Suchtkranker in der hausärztlichen Praxis mit diesem Heft weitere Anstöße erhält.

    Dr. med. Rainer Ullmann

    Curschmannstraße 10

    20251 Hamburg

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