Das Nager-Syndrom zeichnet sich durch die Kombination von kraniofazialer Dysostose
und begleitenden Extremitätenanomalien aus. Von diesem erstmals von Nager und de Reynier
1948 beschriebenen Syndrom sind aus der Literatur bislang ca. 70 Fälle bekannt. Zu
den klinischen Leitsymptomen zählen Unterlidkolbome, ein antimongoloider Lidachsenverlauf,
eine Ohrmuscheldysplasie mit Gehörgangsatresie, eine Aplasie des Kiefergelenkes sowie
eine Hypoplasie des Ramus ascendens mandibulae. Als Extremitätenanomalien treten zusätzlich
eine Daumenhypoplasie oder -aplasie, eine Hypoplasie von Radius und Ulna sowie eine
Verkürzung des Humerus auf. Ursächlich liegt eine Genmutation mit unregelmäßig autosomal
dominantem Erbgang vor.
Fallbeschreibung
Fall 1
Ein neugeborener Junge mit Nager-Syndrom wurde der radiologischen Abteilung zur präoperativen
Planung bei ausgeprägter Unterkieferhypoplasie zugewiesen. Bereits in der 33. SSW
fielen bei einer Ultraschalluntersuchung eine Verkürzung der Unterarme und ein Pes
equinovarus rechts auf. Postpartum zeigte sich neben der Unterkieferhypoplasie eine
zusätzliche Aplasie des weichen Gaumens. Als Folge kam es unmittelbar postpartum zu
rezidivierenden Atempausen, so dass die Anlage eines tiefen pharyngealen Tubus mit
CPAP-Beatmung notwendig wurde. Zusätzlich traten erhebliche Schluckstörungen auf.
Die konventionellen Röntgenaufnahmen der Extremitäten bestätigten einen mesomalen
Minderwuchs. An der rechten Hand fehlte der 2. Strahl und der linke Daumen war nur
rudimentär angelegt.
Zur Klärung der „Felsenbeinsituation” und zur Planung einer Distraktionsosteogenese
des Unterkiefers wurde eine Mehrschicht-Spiral-CT (MSCT) durchgeführt. Dabei wurden
eine Schichtdicke von 1,25 mm, ein Pitch von 3 bei einer Tischvorschubgeschwindigkeit
von 3,75 mm und ein Röhrenstrom von 50 mAs gewählt. Zur Anfertigung multiplanarer
Reformationen und eines Oberflächenmodels erwies sich ein Rekonstruktionsintervall
von 0,6 mm als günstig.
Die CT-Untersuchung des Gesichtsschädels bestätigte eine ausgeprägte Retro- und Mikrognathie.
Der Ramus ascendens mandibulae war hypoplastisch, aber symmetrisch angelegt und zeigte
einen Kieferwinkel von etwa 170 ° gegenüber der Norm von 110 - 140 ° (Abb. [1]). Darüber hinaus lag eine dysplastische Nasenhaupthöhle mit Choanalenge rechts vor.
Der äußere Gehörgang war beidseits knöchern verschlossen und das Mittelohr jeweils
nur partiell angelegt (Abb. [2]).
Fall 2
Hierbei handelte es sich um ein Mädchen einer Erstgravida, das nach unauffälligem
Schwangerschaftsverlauf spontan geboren wurde. Auch hier kam es zu postpartalen Atemstörungen
bei insuffizienter Spontanatmung aufgrund einer Dysostosis mandibularis. Zusätzlich
lagen eine knöcherne Gehörgangsatresie, eine Spalte des weichen Gaumens, eine radioulnare
Synostose mit Verkürzung beider Unterarme und eine Daumenaplasie rechts sowie Daumenhypoplasie
links vor. Zur präoperativen Planung erfolgte ebenfalls eine MSCT mit Anfertigung
von entsprechenden Oberflächenrekonstruktionen. Auf dieser Basis wurde eine Distraktionsosteogenese
mit Unterkieferosteotomie und Extension durchgeführt (Abb. [3]), wobei nach Abschluss der Behandlung eine Wiederherstellung der Unterkieferkonfiguration
mit Spontanatmung erreicht wurde.
Diskussion
Das Nager-Syndrom wird als Folge eines heterogenen Felddefektes betrachtet, der auf
Störungen in der 3. und 4. Embryonalwoche zurückzuführen ist (Witkowski et al., Lexikon
der Syndrome und Fehlbildungen, Springer, S. 701 - 703). Eine endgültige Klärung der
Ätiologie dieser angeborenen Fehlbildung steht allerdings noch aus. Zumeist tritt
das Syndrom sporadisch auf (Stephan MJ et al., Am J med Genet 1990; 35: 493). Das
Wiederholungsrisiko für Verwandte eines Merkmalträgers kann im Hinblick auf die unklare
Ätiologie vorläufig nur empirisch eingeschätzt werden und ist für Geschwister lediglich
leicht erhöht (Opitz, MundKieferGesichtsChir 1998; 2: 122).
Bedingt durch die Fehlbildungen der Mandibula und die Spaltbildung des Gaumens kommt
es zu einer Imbalance zwischen dem Stützgewebe und den knöchernen Strukturen. Dies
führt zu einem Kollaps des Weichgewebes mit zurückfallender Zunge, so dass bereits
in der Neonatalperiode lebensbedrohliche Atem-, Saug- und Schluckstörungen auftreten,
die intensivmedizinische Maßnahmen notwendig machen. Dementsprechend müssen die knöchernen
Veränderungen operativ korrigiert werden. Dies erfolgt in der Regel durch eine Distraktionsosteogenese,
bei der eine Verlängerung der unterentwickelten Mandibula mit der Folge einer Ventralisierung
der Zunge erreicht wird.
Zur präoperativen Planung ist hierfür eine möglichst exakte radiologische Diagnostik
notwendig. Von Interesse ist dabei insbesondere der Kiefergelenkwinkel. Weiterhin
ist zu klären, ob die Mandibula symmetrisch angelegt ist oder ob eine halbseitige
Form des Syndroms vorliegt (Francois et al., Ann ocul 1954; 187: 340). In den hier
beschriebenen Fällen wurden ein dosisreduziertes MSCT des Mittelgesichtes und der
Mandibula durchgeführt und anschließend 2D- bzw. 3D-Bilder rekonstruiert. Mit einem
CT-Datensatz lassen sich dabei alle diagnostischen Fragen im Hinblick auf das Ausmaß
kraniofazialer Dysostosen, Gehörgangsatresien und Weichteilbefunde klären. In diesem
Zusammenhang bieten Oberflächenrekonstruktionen dem Operateur einen hilfreichen visuellen
Eindruck, der durch die interaktive Monitorbetrachtung unterstützt wird. Geometrische
Größen wie z. B. der Kiefergelenkwinkel sind exakt bestimmbar (Vannier et al., Radiology
1984; 150: 179). Eine detaillierte Planung der OP-Strategie wird durch eine präoperative
CT-Untersuchung mit der aktuell verfügbaren Technik deutlich erleichtert. Dabei gilt
die Distraktionsosteogenese als eine weithin akzeptierte Methode zur Rekonstruktion
einer hypoplastischen Mandibula. Neben der Korrektur der Gesichtsasymmetrie wird hierdurch
vor allem die Atemwegsobstruktion beseitigt. Fast immer ist jedoch bei Kindern mit
Nager-Syndrom mit einer geistigen und körperlichen Entwicklungsverzögerung zu rechnen,
die vor allem auf Wachstumsstörungen, Sprachprobleme und Hörverluste zurückzuführen
ist.
S. Dammert, M. Funke, H.-A. Merten, Göttingen
Abb. 1 Seitliche Darstellung eines 3D-Oberflächenmodells auf Basis eines MSCT des Mittelgesichtes
bei Nager-Syndrom. Abgeflachter Kiefergelenkwinkel und Mikrognathie.
Abb. 2 MSCT des rechten Felsenbeins bei Nager-Syndrom mit Nachweis einer knöchernen Gehörgangsatresie.
Abb. 3 Zustand bei Distraktionsosteogenese bei einem 1-jährigen Patienten mit Nager-Syndrom.