Pneumologie 2001; 55(10): 452-453
DOI: 10.1055/s-2001-17845
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Weg zur ersten S3-Leitlinie in der Pneumologie

The Way to the First S3-Guideline in PneumologyH. Sitter1 , G. Goeckenjan2 , H. Magnussen3
  • 1Institut für Theoretische Chirurgie, Philipps-Universität Marburg
  • 2Fachklinik für Lungenerkrankungen, Immenhausen
  • 3Krankenhaus Großhansdorf, Zentrum für Pneumologie- und Thoraxchirurgie
Further Information

Prof. Dr. med. H. Magnussen

Krankenhaus Großhansdorf
Zentrum für Pneumologie- und Thoraxchirurgie

Wöhrendamm 80

22927 Großhansdorf

Email: E-mail: magnussen@pulmoresearch.de

Publication History

Publication Date:
17 October 2001 (online)

Table of Contents

In der Entwicklungsgeschichte der Medizin gab es zu allen Zeiten in der einen oder anderen Form Leitlinien. In den letzten Jahren wurde im Gegensatz zu früheren Entwicklungen die Systematik der Erstellung einer Leitlinie in den Mittelpunkt gestellt. Dieses spiegelt sich in den fünf Elementen einer S3-Leitlinie (s. u.) charakteristisch wider.

Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen, um die Entscheidungen von Ärzten und Patienten über eine angemessene Gesundheitsversorgung für spezifische medizinische Umstände zu unterstützen (Definition der Agency for Health Care Policy and Research, USA [1]). Leitlinien liegen in ihrer Verbindlichkeit zwischen Richtlinien und Empfehlungen: Leitlinien soll man befolgen, Richtlinien muss man befolgen, Empfehlungen kann man befolgen. Durch eine Leitlinie wird gewissermaßen ein Korridor vorgegeben, den man aber in begründeten Fällen verlassen kann. Die Anwendung von Leitlinien soll eine Qualitätsverbesserung und mehr Transparenz erreichen.

#

Das AWMF-Konzept

Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften) hat ein 3-Stufen-Konzept zur Leitlinienentwicklung erarbeitet, bei dem die Konsensbasierung besonders betont wird [2]:

S1 (Expertengruppe): Eine repräsentativ zusammengesetzte Expertengruppe der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft erarbeitet im informellen Konsens eine Leitlinie, die vom Vorstand der Fachgesellschaft verabschiedet wird.

S2 (formale Konsensusfindung): Vorhandene Leitlinien der Stufe 1 werden in einem bewährten formalen Konsensusverfahren beraten und modifiziert und als Leitlinien der Stufe 2 verabschiedet.

S3 (Leitlinie mit allen Elementen systematischer Erstellung): Der formale Konsensusprozess wird durch weitere systematische Elemente ergänzt: logische Analyse (klinischer Algorithmus), formale Konsensfindung, Evidenzbasierung, Entscheidungsanalyse und Outcomeanalyse. Für die qualitativ hochwertige Stufe S3 gilt im Einzelnen, dass die Logik einer Leitlinie algorithmisch sein muss, d. h. ausgehend von einer klar definierten Fragestellung wird eine Lösung mit konditionaler Logik (Wenn-Dann-Logik) in endlich vielen Schritten herbeigeführt. Der Konsens ist notwendig, um bei geringer vorhandener Evidenz Akzeptanz für eine Leitlinie zu erzeugen und die Disseminierung und Implementierung zu unterstützen. Die Evidenzbasierung bedeutet die Einbeziehung von Metaanalysen, klinischen Studien und epidemiologischen Untersuchungen, um sie für Entscheidungen beim individuellen Patienten nutzbar zu machen. Die Entscheidungs- und Outcomeanalyse berücksichtigen Modelle mit probabilistischen Entscheidungsbäumen, erwartetem Nutzen und ökonomischen Aspekten sowie die Bestimmung des Gesundheitsstatus (ermittelt durch den Arzt) und der Lebensqualität (Selbstbeurteilung vom Patienten in einem validierten Fragebogen). Die resultierende Leitlinie soll einfach und klar, aber auch umfassend sein.

#

Leitlinie für Langzeit-Sauerstofftherapie

Das Problem der Langzeit-Sauerstofftherapie wurde für die Leitlinienentwicklung gewählt, da es eine hohe Bedeutung für die betroffenen Patienten hat und große Variationen bei der Behandlung sowie unangemessene Qualitätsunterschiede in der Patientenversorgung bestehen. Der Konsensusprozess für die Leitlinie Langzeit-Sauerstofftherapie wurde in einer Kombination von Delphi-Technik und Nominalem Gruppenprozess durchgeführt. Für den Nominalen Gruppenprozess haben sich die Teilnehmer getroffen. Jeder von ihnen erarbeitete für sich alleine schriftlich seine Kritikpunkte, Fragen, Änderungsvorschläge und Anmerkungen für den vorgeschlagenen Algorithmus. Die Antworten wurden von dem unabhängigen Moderator gesammelt, wenn nötig für die Allgemeinheit geklärt und ohne vorherige Diskussion zur Abstimmung über eine Rangordnung aller vorgeschlagenen Punkte gebracht. Diese Rangordnung bestimmte die Abfolge der folgenden ausführlichen Diskussion, die vom Moderator, der an der Diskussion nicht teilnehmen darf, geleitet wird. Am Ende wurde abgestimmt, und der Algorithmus wurde gemäß der Mehrheitsentscheidung modifiziert. Dies geschah in mehreren Runden, bis endgültig Konsens über den gesamten Algorithmus herrschte.

Bei diesem Vorgehen ist es vorteilhaft, dass die Beteiligten während des Konsensprozesses einmal übernachten, um selbst genügend Distanz zum Thema und Zeit zur Reflexion zu finden. Die Delphi-Technik benutzt das gleiche Konzept, führt den Konsens jedoch nur auf schriftlichem Wege, ohne Treffen der Teilnehmer, herbei. Diese Konsensfindungsmethode wurde vor und nach dem Gruppentreffen mit dem Nominalen Gruppenprozess eingesetzt.

Die Evidenzlage zu einzelnen Punkten im Algorithmus ist sehr verschieden; für einzelne Punkte existieren Metaanalysen der Cochrane-Kollaboration, für andere fehlen kontrollierte klinische Studien gänzlich. Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Leitliniengruppe und die Beteiligung von Vertretern verschiedener Interessengruppen, z. B. Kassen, Medizinische Dienst- und Patientenorganisationen, verdient besondere Erwähnung und war für die Leitlinienentwicklung sehr förderlich; dadurch wird insbesondere die Berücksichtigung von Patientenpräferenzen (z. B. für die Outcomewahl) erleichtert. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die gemeinsam mit Vertretern der Kostenträger und des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen erarbeitete Leitlinie eine allgemein akzeptierte Basis für die Indikationsstellung der Langzeit-Sauerstofftherapie und ihrer verschiedenen Verfahren darstellt.

Die vorliegende Leitlinie zur Langzeit-Sauerstofftherapie ist die erste Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, welche die Kriterien einer S3-Leitlinie des AWMF-Konzepts erfüllt. Die Erstellung des Algorithmus mit seinem streng formalen Aufbau führt zu einer klaren Strukturierung der gesamten Leitlinie. Die Darstellung des Algorithmus erfolgt gemäß den Empfehlungen der Society for Medical Decision Making [3] und ist sehr gut für eine Computerimplementierung geeignet. Damit kann die Leitlinie in ein Krankenhausinformationssystem integriert und in den Arbeitsablauf des Arztes direkt eingebunden werden. Dies erleichtert die Implementierung. Darüber hinaus kann der Zuschnitt der Leitlinie auf besondere lokale Gegebenheiten erforderlich sein. Die Überprüfung der Notwendigkeit der Aktualisierung dieser Leitlinie erfolgt in drei Jahren.

#

Literatur

  • 1 Field M J, Lohr K N. Guidelines for clinical practice. From development to use. Washington National Academic Press 1992: 1-426
  • 2 Lorenz W, Ollenschläger G. Das Leitlinien-Manual. Entwicklung und Implementierung von Leitlinien in der Medizin.  Z aerztl Fortbild Qual Sich. 2001;  95 S1-S84
  • 3 Society for Medical Decision Making Committee on Standardization of Clinical Algorithms . Proposal for clinical algorithm standards.  Med Decis Making. 1992;  12 149-154

Prof. Dr. med. H. Magnussen

Krankenhaus Großhansdorf
Zentrum für Pneumologie- und Thoraxchirurgie

Wöhrendamm 80

22927 Großhansdorf

Email: E-mail: magnussen@pulmoresearch.de

#

Literatur

  • 1 Field M J, Lohr K N. Guidelines for clinical practice. From development to use. Washington National Academic Press 1992: 1-426
  • 2 Lorenz W, Ollenschläger G. Das Leitlinien-Manual. Entwicklung und Implementierung von Leitlinien in der Medizin.  Z aerztl Fortbild Qual Sich. 2001;  95 S1-S84
  • 3 Society for Medical Decision Making Committee on Standardization of Clinical Algorithms . Proposal for clinical algorithm standards.  Med Decis Making. 1992;  12 149-154

Prof. Dr. med. H. Magnussen

Krankenhaus Großhansdorf
Zentrum für Pneumologie- und Thoraxchirurgie

Wöhrendamm 80

22927 Großhansdorf

Email: E-mail: magnussen@pulmoresearch.de