Psychiatr Prax 2001; 28(7): 314-315
DOI: 10.1055/s-2001-17786
EDITORIAL
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Selbstmord! „Satan bist du unter uns?”

Die Medien und die SelbsttötungSuicide! „Is Satan Among Us?”
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Asmus Finzen, Basel

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Publication Date:
15 October 2001 (online)

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Vor einigen Wochen stürzten sich im sächsischen Reichenbach drei Jugendliche von einer Eisenbahnbrücke in den Tod. Freunde und Erwachsene im Ort suchen nach einem Schuldigen. Das berichtet der Spiegel in seiner Ausgabe 36/2001 (102 - 103).

Die Frage „Satan bis du unter uns?” ist die Schlagzeile dieses Beitrages. Und dieser wiederum ist ein Trauerspiel in der Art und Weise, wie Medien immer wieder anscheinend unbelehrbar mit dem Suizid umgehen, nach dem Suizid berichten und dabei mehr als gelegentlich eine Art Aufforderung zum Tanz vermitteln und durch Spekulationen und Schuldzuweisungen zusätzliches Leid für die Mitbetroffenen bringen, die Angehörigen, Freunde, die Arbeitskollegen oder die Bewohner einer ganzen Gemeinde, wie im vorliegenden Fall.

Was der Spiegel aus seiner Berichterstattung macht, die unter der Rubrik Gesellschaft/Jugend erscheint, ist eine Art Home-Story über die drei jungen Männer, deren Sturz in den Tod unerklärlich bleibt. Da muss eine abenteuerliche Geschichte herhalten, die der Tragik des Geschehens in keiner Weise gerecht wird: Verschwörungstheorien, Satanskult, Teufelsanbeter.

Interessant immerhin ist die Mitteilung, dass einer der jungen Leute immer wieder über „Selbstmord” sprach, aber mit dem Zusatz, die anderen nahmen ihn nicht ernst. Interessant ist auch die Information, die drei Suizidopfer sollen ihren Suizid eine Woche bevor sie von der Brücke stürzten, im Internet angekündigt haben: Eigentlich müsste man so etwas belegen können. Also Spekulation.

Die Geschichte, die in dem Beitrag erzählt wird, ist abenteuerlich. Plausibel ist sie nicht. „Nach dem Suizid sprach die Polizei von ,satanischen Praktiken‘ der Jugendlichen. Die Lokalzeitung berichtete über brennende Autos, die im Kennzeichen die teuflische Zahl 666 trugen, ein Pfarrer der Stadt erinnert sich an ein gotteslästerliches Transparenz, das in seiner Kirche hing, und seither ist Reichenbach in den Boulevardzeitungen und TV-Magazinen ein Ort des Teufels.”

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Warum nicht recherchieren?

Das tragische Geschehen von Reichenbach ist in der Tat einiges Nachdenken wert. Es wäre auch einiges Recherchieren wert gewesen. Die Ressourcen dazu haben dem Magazin mit einer Auflage von über einer Million wohl nicht gefehlt. Mit einem Beitrag wie diesem wird beispielhaft mangelnde Seriosität von Medien im Umgang mit der Selbsttötung von Suizid, dem „Selbstmord”, demonstriert. Es handelt sich in diesem Fall ausgerechnet um ein Organ, das stolz auf seine journalistische Qualität ist - oft immer noch mit Recht.

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Der Suizid Hannelore Kohls

Einige Wochen vorher, am 6. Juli 2001, berichteten fast alle deutschen Tageszeitungen auf Seite 1 über den Tod von Hannelore Kohl. In der Bildzeitung reicht das Wort Selbstmord! von links bis rechts über die gesamte Breite der Zeitung. Diese herausgestellte Berichterstattung, die sich sicher nicht auf die Bildzeitung beschränkt hat, war kaum vermeidbar.

Hannelore Kohl war eine über die Maßen prominente Frau, deren Leben und deren Schicksal an der Seite von Helmut Kohl die Medien und die Öffentlichkeit über Jahrzehnte beschäftigt haben: Die Eigenart dieser Beziehung; die Frage ob Helmut Kohl sie nun gut oder schlecht behandelt habe, die ständigen Andeutungen über eine angebliche Schattenfrau, eine enge Mitarbeiterin des Kanzlers, die auch bei der Hochzeit von Kohls Sohn in der Türkei anwesend gewesen sein soll, an der Hannelore Kohl wegen ihrer Krankheit ihrer Lichtallergie nicht teilnehmen konnte, überwucherten schließlich die Berichterstattung über die Selbsttötung.

Auch hier wurde freimütig nach dem Schuldigen gesucht. War es der Altkanzler selbst, der sich nicht ausreichend um seine Frau gekümmert hatte? War es die Krankheit, die schmerzhafte Lichtallergie, die ihre Lebensqualität in zuletzt nicht erträglicher Weise einschränkte? Waren es die Schmerzen, war es die zunehmende körperliche Schwäche, von der berichtet wurde? Niemand weiß es. Die Spekulationen wucherten.

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Grund zur Besorgnis: Der Werther-Effekt

Wer sich beruflich mit Suizid und Suizidprophylaxe beschäftigt, hatte sowohl nach dem Sturz von der Brücke in Reichenbach als auch nach dem Tod von Hannelore Kohl ob der Berichterstattung große Sorgen. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass spektakuläre Suizide zur Nachahmung auffordern. Seit der ersten angeblich großen Suizidepidemie nach dem Erscheinen von Goethes „Leiden eines jungen Werther” ist in diesem Zusammenhang vom „Werther-Effekt” die Rede [1].

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Suizidhandlungen mit Imitationseffekt bekannt und untersucht worden. Es fing an mit dem Suizid von Marilyn Monroe in den frühen 60er Jahren und er setzte sich fort mit einer tragischen Zahl von Nachahmungssuiziden nach der Ausstrahlung der Fernsehserie „Tod eines Schülers” im ZDF und nach deren Wiederholung.

Dennoch scheint es unmöglich zu sein, die Medien im Umgang mit einem so explosiven Thema zu disziplinieren oder sie wenigstens auf einen Ethikkodex im Umgang mit der Berichterstattung über Selbsttötung (nicht Selbstmord) zu bewegen. Es gibt eine Ausnahme:

Als nach der Einweihung der Wiener U-Bahn serienweise U-Bahn-Suizide in Wien auftraten, verpflichteten die Medien sich in Absprache mit Wiener Suizidforschern auf eine zurückhaltende Berichterstattung. Die Vorfälle wurden berichtet. Sie wurden aber nicht mehr sensationell aufgemacht. Sie fanden keinen Platz auf der Seite eins. Das Wunder geschah. Die Suizidepidemie hörte schlagartig auf. Bei einer Lockerung der Zurückhaltung der Medien nahmen auch die Suizide wieder zu.

Warum, so stellt sich die Frage, warum muss es sein, dass der Suizid, auch wenn er prominente Menschen betrifft, auf spektakuläre Weise herausgestellt wird wie ein Massenmord? Muss es sein, dass sich die Öffentlichkeit am Unglück anderer weidet?

Hinter dem Suizid stehen immer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Hinter dem Suizid steht immer eine tragische Geschichte. Über die ließe sich berichten. Aber über die ließe sich genauso auf Seite drei oder Seite zwölf berichten wie auf der ersten Seite.

Gewiss sind die Medien keine Vereinigung zur Suizidprophylaxe. Aber sie werden sich ungern vorhalten lassen, sie förderten die Selbsttötungshandlungen unglücklicher und verzweifelter Menschen aus bloßer Sensationsgier, aus Auflagengeilheit, aus dem Bedürfnis, die Konkurrenz auszustechen. Oder?

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Literatur

Asmus Finzen, Basel

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Literatur

Asmus Finzen, Basel