NOTARZT 2001; 17(3): 109-110
DOI: 10.1055/s-2001-14125
DER TOXIKOLOGISCHE NOTFALL
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Depressive Apothekerin

F. Martens, F. Klefisch
  • Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (Direktor: Prof. Dr. Ulrich Frei), Berlin
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Der Fall

Wegen des Verdachts auf eine drohende Suizidhandlung ihrer Chefin verständigen Mitarbeiter einer Apotheke die Polizei. Diese sehen eine Frau in der Apotheke auf und ab gehen, suchen jedoch zunächst in der darüberliegenden Wohnung erfolglos nach der Wohnungsinhaberin. Von den Polizeibeamten wird zusätzlich ein RTW angefordert. Dessen Besatzung findet schließlich mit Hilfe der Apothekenmitarbeiter deren Chefin bewusstlos in der Apotheke am Boden liegend und alarmieren den Notarzt.

Dieser trifft ca. 10 Minuten später an der Unglücksstelle ein. In den hinteren Geschäftsräumen liegt eine ca. 50-jährige Frau auf dem Boden. Sie ist tief bewusstlos, hat weite Pupillen, Schnappatmung, HF 50/min, RR 130/80, SaO2 88 %. Im Raum ist ein deutlicher Bittermandelgeruch wahrnehmbar. Ein Sanitäter beatmet die Patientin mit Hilfe einer Maske mit Sauerstoff. Auf dem Labortisch steht ein Chemikaliengefäß, das ursprünglich 50 g Kaliumzyanid enthielt, aus dem etwa die Hälfte des Pulvers fehlt.

Unter dem Verdacht einer akuten Kaliumzyanidvergiftung legt der Notarzt eine Venenverweilkanüle und injiziert 250 mg 4-DMAP und anschließend 5 g Natriumthiosulfat. Noch während der Injektion steigt die zuvor bradykarde Herzfrequenz auf etwa 120/min an. Danach intubiert er die Patientin problemlos orotracheal ohne vorherige Gabe von Analgetika oder Sedativa und beatmet sie mit Hilfe des Oxylog®. Kurz danach werden Spontanbewegungen sichtbar. Über die frisch gelegte nasogastrale Sonde wird übelriechender Mageninhalt von etwa 200 ml abgezogen. Nach Voranmeldung über das mitgeführte mobile Telefon bringt der Notarzt die Patientin in ein Stützpunktkrankenhaus.

Dort werden erneut 6 g Natriumthiosulfat infundiert. Während des Legens eines zentralen Katheters wird die Patientin deutlich wacher, zeigt Spontanbewegungen und atmet gegen das Beatmungsgerät, so dass zunächst eine Sedierung mit 7,5 mg Midazolam erfolgt. Mit der Frage nach einem etwaigen Hirnödem wird anschließend ein Computertomogramm des Schädels angefertigt. Dabei findet sich ein vermehrter Mark-Rindenkontrast, jedoch kein Hirnödem. Unter Fortführung der Beatmung mit einem FiO2 von 1.0 normalisiert sich in den nachfolgenden sechs Stunden das anfänglich auf 55 mg/dl erhöhte Laktat; auch die auffällige Differenz zwischen der pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigung und der im Blutgasanalysator bestimmten verringert sich vollständig in diesem Zeitraum.

Nach zunehmender Bewusstseinsaufhellung extubiert sich die Patientin nach zwei Tagen selbst und bedarf auch in den Folgetagen keiner erneuten Beatmung. Trotz zweier generalisierter Krampfanfälle lassen sich keine epilepsietypischen Veränderungen im EEG nachweisen. Das Fehlen der späten Latenzen der somatosensorisch evozierten Potenziale und der neurologische Zustand mit Dysarthrie, Ataxie sowie kognitiven und affektiven Störungen deuten auf eine erhebliche Hirnschädigung hin. Nach langsamer klinischer Besserung dieses Zustandes wird die Patientin 13 Tage nach der Vergiftung in eine Klinik für neurologische Frührehabilitation verlegt.

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité, Campus Virchow Klinikum
Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin
Giftinformation

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de

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