Pneumologie 2001; 55(4): 163-176
DOI: 10.1055/s-2001-12993
ÜBERSICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verbreitung der Non-Compliance bei Asthma-Patienten: Aktueller Forschungsstand und methodologische Probleme[1]

Incidence of Non-Compliance in Asthma Patients. Update State of the Art in Research and Methodological ProblemsS. Mühlig1 , F. Petermann1 , K. Ch Bergmann2
  • 1Zentrum für Rehabilitationsforschung, Universität Bremen
  • 2Allergie- und Asthmaklinik, Bad Lippspringe
Weitere Informationen

Dr S Mühlig

ZRF
Universität Bremen

Grazer Str. 6
28359 Bremen

eMail: E-mail: muehlig@uni-bremen.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Inhaltsübersicht

Einleitung

Chronische Erkrankungen wie Asthma bronchiale erfordern komplexe Therapiepläne, wie sie in nationalen und internationalen Therapierichtlinien auf der Grundlage evidenzbasierter klinischer Studien formuliert werden [1] [2] [3]. Die moderne Asthmatherapie basiert dabei im Wesentlichen auf zwei Säulen: der kontinuierlichen Anwendung antiinflammatorischer inhalativer Corticosteroide sowie bronchodilatorischer β2-Sympathomimetika. Diese hochwirksamen Arzneimittel (AM) sind nach den Therapieempfehlungen der Fachgesellschaften in Form definierter Stufenschemata über lange Zeiträume anzuwenden und dem wechselnden Krankheitsverlauf ständig anzupassen. Die optimale Umsetzung derartiger Behandlungspläne setzt allerdings ein hohes Maß an Mitwirkungsbereitschaft und Selbstmanagement-Fähigkeiten auf Seiten der Patienten voraus, das in der Praxis nicht ausreichend gegeben scheint [4]. Die - trotz erheblicher Therapiefortschritte - persistierende oder sogar steigende Asthmamorbidität [5] [6] [7] ist wahrscheinlich in erster Linie auf die mangelnde Patienten-Compliance zurückzuführen [8]. Bei erwachsenen Asthmatikern mit geringer Compliance findet sich zum Beispiel im Vergleich zu complianten Patienten eine erheblich ausgeprägtere Verschlechterung der Lungenfunktion [9], wohingegen sich bei guter Compliance die Symptomatik und die Anfallsrate signifikant verbessert [10] [11] [12] [13]. Mit wachsender Evidenz wird auch die seit 20 Jahren anhaltend hohe Mortalitätsrate beim Asthma bronchiale [14] [15] [16] [17] auf die Non-Compliance und Defizite beim Selbstmanagement der Patienten zurückgeführt. Obwohl Mortalitätsstudien aufgrund ihres meist retrospektiven Charakters mit Vorsicht zu betrachten sind [18], weisen zahlreiche Ergebnisse konsistent darauf hin, dass das Non-Compliance-Problem auch einen wesentlichen Faktor für die hohe Asthma-Mortalität darstellt [19] [20] [21] [22] [23] [24]. Durch die verbreitete Non-Compliance werden zudem effiziente Inanspruchnahmen von Gesundheitsdienstleistungen beeinträchtigt sowie enorme gesundheitsökonomische und soziale Folgekosten verursacht [25].

Die Folgen einer suboptimalen Therapiemitarbeit (Non-Compliance) für den individuellen Patienten sind beträchtlich (vgl. Kasten [1]): Neben einer akuten Exazerbation mit einhergehender Verschlechterung der Symptomatik und des Krankheitsschweregrades ist langfristig eine verzögerte Heilung bzw. ein verlängerter Krankheitsverlauf und eine ungünstigere Prognose zu befürchten. Eine unzureichende oder unsachgemäße Selbstmedikation kann darüber hinaus zu einer erhöhten Inzidenz von Erkrankungskomplikationen [26], daraus resultierenden zusätzlichen Behandlungserfordernissen (Notarzteinsatz, Hospitalisierung), schleichenden Exazerbationen oder zu akuten Notfällen und im schlimmsten Fall zur tödlichen Attacke führen [27] [28] [29] [30] [31]. Neben einer mangelnden Dauerbehandlung mit antiinflammatorischen und bronchodilatorischen AM können auch AM-Fehler wie der exzessive AM-Gebrauch („Hypercompliance”) zu gefährlichen Situationen führen [32]. Mittelbar wird durch Non-Compliance die körperliche Leistungsfähigkeit, soziale Aktivität und subjektive Lebensqualität des Patienten erheblich beeinträchtigt [33]. Aus der Fehlmedikation resultierende Konsequenzen (verlängerte Arbeitsunfähigkeitszeiten, drohender Arbeitsplatzverlust) können schließlich weitere massive emotionale, soziale und wirtschaftliche Krankheitsfolgebelastungen verursachen [34]. So führt eine mangelnde Kontrolle der Asthma-Attacken und eine Verschlechterung des Erkrankungsverlaufes häufig zu emotionalem Stress und zu dauerhaften familiären Problemen und psychischer Dysbalance bei den Patienten und ihren Angehörigen [35] [36].

Schließlich wird häufig auch die Durchführung empirischer Studien durch die mangelnde Compliance der Studienteilnehmer erheblich beeinträchtigt. Unentdeckte Non-Compliance in klinischen Studien zur Arzneimittelprüfung kann beispielsweise zu massiven Verfälschungen der Untersuchungsresultate wie der Fehleinschätzung hinsichtlich der Effektivität eines neuen Wirkstoffes, die falsche Berechnung der Dosis-Wirkungs-Beziehung etc. führen. Dies kann u. U. mit weitreichenden Folgen für die Versorgungspraxis wie dem Verzicht auf wertvolle Wirksubstanzen wegen vermeintlicher Ineffektivität oder unangemessene (zu hohe) Dosierungsempfehlungen aufgrund von non-compliance-bedingten Effektverzerrungen verbunden sein [38] [39] [40].

Kasten 1:Konsequenzen mangelnder Compliance [37]
1. Behandlungsmisserfolg
- keine Symptomfreiheit
- kein normales Alltagsleben
- keine normale Körperbelastung
- progredienter Krankheitsverlauf
- ernsthafte Attacken
- steigender emotionaler Stress
- Störung des psychologischen Gleichgewichtes
2. AU- und Schulfehltage
3. Dauerbehandlung
4. steigende Kosten
5. häufige Ambulanzbesuche
6. AM-Toxizität
7. lebensbedrohliche Attacken
8. Tod

Formen der Non-Compliance

In der klinischen Realität tritt Compliance bzw. Non-Compliance im Regelfall nicht in „Reinform” (absolute Einhaltung oder Ablehnung der Verordnungen) auf, sondern bildet ein komplexes Verhaltensmuster, das bezogen auf einzelne Therapieelemente unterschiedlich ausfallen und sich zudem im Behandlungsverlauf mehrfach ändern kann [41]. Die Non-Compliance der Patienten kann sich dabei in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen manifestieren (vgl. Tab. [1]). Neben vielfältigen Phänomenen non-intentionaler AM-Anwendungsfehler (z. B. Vergesslichkeit, Verwechslung der AM, Verständnisprobleme) finden sich in der Asthmatherapie mit inhalativen Medikamenten (Glucocorticoiden und β2-Sympathomimetika) überwiegend systematische Unterdosierungen („little bit each day”), wesentlich seltener Überdosierungsmuster („Hypercompliance”) [42] [43] [44] [45] [46]. Bei akuten Exazerbationen oder Atemnot neigen viele Patienten allerdings zu einem vorübergehend exzessiven Gebrauch von bronchialerweiternden AM [47]. Insbesondere bei Überdosierungen von β2-Sympathomimetika (z. B. Salbutamol®) kann es zur Selbsttoxikation mit u. U. bedrohlichen Nebenwirkungen kommen [48] [49].

Neben diesen konstanten AM-Fehlern sind häufig erratische Einnahmemuster [50] [51] und abrupte Wechsel in der AM-Anwendung zu beobachten. So kommen verbreitet plötzliche Unterbrechungen der AM-Einnahme nach einem längeren Zeitintervall mit korrekter Compliance („drug holidays” [52] [53] [54]) oder eine verschreibungskonforme AM-Einnahme bis die Medikation „gewirkt hat” mit anschließendem vollständigen Absetzen und Wiederaufnahme bei erneuter Symptomverschlechterung („on-off-Non-Compliance” [55] [56] [57]) vor. Seltener wurden in empirischen Compliance-Studien komplette Therapieabbrüche gefunden [58] [59]. Abrupte Schwankungen in der Bioverfügbarkeit des Wirkstoffes (Therapieunterbrechungen) sind u. U. besonders gefährlich, da es zu ernsthaften Konsequenzen sowohl durch plötzliche Unterdosierung als auch durch physiologische rebound-Effekte aufgrund vorübergehender Überdosierung bei abrupter Wiederaufnahme der vorherigen Dosierung nach einer Einnahmepause kommen kann. In ähnlicher Weise bestehen auch bei unvermitteltem Therapieabbruch hohe Risiken, da die plötzliche Beendigung der Wirkstoffzufuhr ebenfalls zu toxischen oder Entzugsreaktionen führen kann [60].

Prävalenz der Non-Compliance

Das Ausmaß der Non-Compliance in der medikamentösen Asthmatherapie wird durchschnittlich auf etwa 50 % geschätzt [61]. Bereits Compliance-Studien aus den 70er und 80er Jahren kamen fast durchgängig zu Besorgnis erregenden Resultaten - mit einer allerdings erheblichen Spannbreite der ermittelten Compliance-Raten zwischen 46 % und 196 %[2] [62] [63] [64] [65] [66] [67] [68] [69]. Die große Variabilität in den empirisch ermittelten Compliance-Raten beruht wahrscheinlich aber größtenteils auf Unterschieden im methodischen Vorgehen wie der Verschiedenartigkeit der untersuchten AM und Applikationsformen sowie der Uneinheitlichkeit der verwendeten Definitionen von Compliance und der eingesetzten Messmethoden (vgl. Kasten [2]). Wie vielfach belegt, besitzen viele der eingesetzten Erhebungsverfahren wie die Selbstangaben der Patienten, Expertenratings oder AM-Schwundmessungen („pill-counting”) nur eine ungenügende Validität und führen zu massiv verfälschten Resultaten, meist zu einer erheblichen Überschätzung der tatsächlichen Compliance [70] [71] [72] [73] [74] [75] [76] [77] [78] [79] [80] [81].

Daher wird gefordert, Compliance ausschließlich mit objektiven bzw. validen Messmethoden von ausreichender Sensitivität und Spezifität (Spiegelkontrolle oder elektronisch-apparativer Registrierung) zu erheben [82]. Berücksichtigt man nur die entsprechenden Studien der letzten 20 Jahre, die die Patienten-Compliance bei Asthma mit validen Methoden gemessen haben, ergibt sich aber überraschenderweise kein wesentlich konsistenteres Bild (vgl. Tab. [2]). Auch hier schwanken die Angaben zur Compliance immer noch zwischen 3 % und 95 % (Mittelwert: M = 47,5 %).

Kasten 2:Methoden der Compliance-Messung: Direkte und indirekte Erhebungsverfahren
Direkte Messmethoden
- Direkte Verhaltensbeobachtung
- physiologische Spiegelmessungen der Wirkstoffe bzw. ihrer Metaboliten in Blut, Urin, Stuhl oder Speichel
- Biomarkernachweise in Blut, Urin, Stuhl oder Speichel
Indirekte Erhebungsverfahren
- Selbstangaben der Patienten (Interview, standardisierte Fragebögen)
- patientengeführte Dokumentationssysteme (Patiententagebuch, AM-Plan)
- Experteneinschätzung (Arzt, medizinisches Personal)
- Einhaltung von Untersuchungs- und Behandlungsterminen
- Apothekendokumentationen („pharmacy Records”; „prescription refill”)
- AM-Schwundmessung („pill Counting”)
- Messung des zu erwartenden biologischen Effektes
- elektronische Monitorsysteme (MEMS)

Methodische Aspekte der apparativen Compliance-Messung

Die große Schwankungsbreite in den Compliance-Raten ist offensichtlich in erster Linie dadurch zu erklären, dass „Compliance” - auch bei Einsatz des gleichen Messverfahrens - höchst unterschiedlich definiert werden kann.

Bei physiologischen Messungen (z. B. Wirkstoffkonzentration im Blutplasma oder Urin, Haaranalyse), für die die prozentuale Abweichung des gemessenen vom Erwartungswert (bezogen auf die absolut korrekte AM-Anwendung) bestimmt wird, ist die Interpretation vergleichsweise eindeutig. Ein Compliance-Wert von 75 % bedeutet beispielsweise entweder, dass die Wirkstoffexposition in Bezug auf das pharmakokinetisch relevante Zeitfenster - ausreichende Spezifität und Sensitivität des Testverfahrens vorausgesetzt - tatsächlich etwa drei Viertel der Menge des verschriebenen Wirkstoffes beträgt oder, dass bei 75 % der Patienten der Wirkstoff nachgewiesen werden konnte. Allerdings ist auch bei valider Messmethodik zu berücksichtigen, dass das Ergebnis durch situative Einflüsse, individuelle Unterschiede in der Metabolisierung oder andere nicht kontrollierbare Messungenauigkeiten verfälscht werden kann. Die direkten Messverfahren erlauben somit einen relativ sicheren richtig-positiv-Nachweis der Wirkstoffeinnahme, können aber u. U. zu falsch-negativen Befunden und vor allem zu quantitativen Fehleinschätzungen (Über- wie Unterschätzung der Compliance) führen. Ein Rückschluss auf das Compliance-Verhalten des Patienten, dass er nur einen Teil der Verschreibung tatsächlich eingenommen hat, ist wiederum nur unter der Voraussetzung gültig, dass das AM auch fehlerfrei appliziert wurde. Im Falle der Asthmatherapie mit inhalativen AM treten aber bereits bei der Handhabungstechnik erhebliche Fehlerquoten auf [83] [84] [85] [86] [87] [88] [89] [90], so dass trotz ausreichender Einnahmedisziplin eine mangelnde Wirkstoffexposition resultieren kann (non-intentionale Non-Compliance). Negative Befunde der direkten Verfahren sind in diesem Zusammenhang entsprechend differenziert zu beurteilen: Sie können zwar wertvolle Hinweise auch auf Handhabungsfehler liefern, dürfen aber nicht mit mangelnder Kooperationsbereitschaft gleichgesetzt werden. Zudem stellen Spiegelkontrollen aus Kostengründen meistens one-spot-Messungen dar, die keinerlei Aussagen über das kontinuierliche Selbstmedikationsverhalten erlauben.

Weitaus komplexer stellt sich die Situation bei den apparativ-elektronischen Messverfahren dar. Compliance-Messungen mittels elektronischer Aufzeichnungen der Anwendungsereignisse (Medication Event Monitoring System - MEMS) ermöglichen gegenüber den direkten Methoden längere kontinuierliche Messreihen über mehrere Wochen oder Monate. MEMS registrieren mit Hilfe von in die AM-Behältnisse eingebauten Mikrochips die „AM-Ereignisse” (z. B. die Anzahl der Sprühstöße bei Verwendung eines Dosieraerosols), welche als Indikatoren für die AM-Applikationen betrachtet werden (vgl. Mühlig, Bergmann, Twesten & Petermann, in diesem Heft). Allerdings basieren die MEMS-Daten lediglich auf dem Umgang mit dem AM-Behältnis (Öffnen, Auslösen etc.) und lassen letztlich keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Anwendung des Wirkstoffes und vor allem auf seine biologische Exposition zu. „This approach does not circumvent the fundamental problem of confirming that what came out of the bottle or aerosol necessarily went into the patient” (Horn, 1992, p. 127). So ließe sich damit zum Beispiel nicht feststellen, ob der Patient sein AM entsprechend der verschriebenen Tagesdosen mehrmals täglich nur in die Luft gesprüht („test-firing”, „dumping”) oder aufgrund einer inkorrekten Inhalationstechnik nur einen Bruchteil der erforderlichen Wirkstoffmenge aufgenommen hat. Daher bleibt die klinische Aussagekraft der MEMS-Daten theoretisch eingeschränkt, da falsch-positive Resultate nicht auszuschließen sind [91]. In der empirischen Überprüfung haben sich MEMS dennoch als vergleichsweise hoch valide herausgestellt [92] [93] [94] [95] [96] [97] und werden heute teilweise sogar als „Goldstandard” für die Compliance-Messung betrachtet [98].

Wie aus der Übersicht in Kasten [3] ersichtlich, lassen sich aus MEMS-Daten aber unterschiedliche Compliance-Parameter ableiten, so dass die Resultate in sehr heterogener Art darstellbar sind. Es ist evident, dass je nach gewählter Definition der MEMS-Parameter unterschiedliche Werte für „Compliance” und damit scheinbar abweichende Compliance-Raten resultieren. Ein pauschal angegebener Compliance-Wert von 75 % kann beispielsweise entweder bedeuten, dass die Patienten im Durchschnitt insgesamt drei Viertel der verschriebenen Hübe über den Beobachtungszeitraum eingenommen haben (wobei Veränderungen über die Zeitachse unbemerkt blieben), oder dass sie sich an drei Viertel der Behandlungstage an die Verschreibung gehalten haben. Dabei wird bei Nichteinhaltung der Verschreibungsdosis meistens nicht explizit zwischen Unter- und Überdosierungen unterschieden, obwohl diese klinisch-therapeutisch völlig unterschiedliche Konsequenzen haben können. Vollständige Compliance besteht zudem streng genommen nicht schon dann, wenn eine bestimmte Anzahl von Dosiseinheiten am Tag, sondern erst, wenn diese auch zu den richtigen Tageszeiten (z. B. morgens, mittags und abends: 2-2-2) verabreicht werden. Auch diese Frage, ob die korrekte Einhaltung der verordneten tageszeitlichen Einnahmevorschriften berücksichtigt oder nur die täglich verabreichte Gesamtdosis registriert wird, führt zu stark differierenden Resultaten.

Darüber hinaus kann sich eine Compliance-Rate auf den prozentualen Anteil von Patienten beziehen, der ein definiertes Kriterium für Compliance erfüllt, wobei eine Angabe von 75 % Compliance in diesem Fall bedeutete, dass drei Viertel der untersuchten Patientenstichprobe nach dem Zielkriterium als compliant eingestuft würden. In zahlreichen Studien wird lediglich eine dichotome Einteilung in Patienten mit optimaler vs. abweichender Compliance vorgenommen, wobei die Zuordnung auf statistischen Maßzahlen wie Mittelwert oder Median basiert oder klinische Erfahrungswerte und persönliche Einschätzungen zugrunde gelegt werden. Die Dichotomisierung zwischen perfekter Compliance einerseits und jeglicher Abweichung von der Verschreibung andererseits ist aber problematisch, da aus klinischer Perspektive zu restriktiv gefasst.

Dabei besitzt die Angabe von 75 % Compliance eine vollkommen unterschiedliche Aussagekraft, je nachdem, ob als Bezugsgröße eine vollständige oder „ausreichende” Einhaltung der Verschreibung gewählt wurde. Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse wird also zusätzlich dadurch erschwert, dass Compliance teilweise absolut definiert (vollständige Einhaltung der Dosierung) und in anderen Studien relativ bestimmt (Tage mit ausreichender Compliance) wird. Eine weitgehend ungeklärte Frage besteht hinsichtlich der quantitativen Definition von „Non-Compliance”, das heißt des klinisch-therapeutisch vertretbaren Toleranzspielraumes bei der Umsetzung ärztlicher Verordnungen. Da eine 100 %ige Realisierung der Verschreibungen durch den Patienten illusorisch ist, bedarf es der Bestimmung eines exakt definierbaren Trennpunktes, bis zu welchem Ausmaß von Verschreibungsabweichung noch von einer klinisch ausreichenden Compliance ausgegangen werden kann und ab welchem Punkt genau die Non-Compliance beginnt. Diese Trennlinie zwischen compliantem vs. non-compliantem Verhalten wird ebenfalls nicht einheitlich gehandhabt (meistens 50 % - 80 %), sondern in den meisten Studien ad hoc vorgenommen und vielfach nicht näher begründet [99]. Dabei kommen in der empirischen Forschung bislang höchst unterschiedliche Kriterien für die Bestimmung dieser quantitativen Compliance-Grenzen zum Einsatz:

  • So lässt sich eine therapeutisch wirksame Minimaldosis eines AM für einen definierten Zeitraum (z. B. Einnahme von ≥ 75 % der verschriebenen Dosis pro Tag oder im Monat) bestimmen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, dass lediglich Unter- aber nicht mögliche Überdosierungen als Non-Compliance erfasst werden.

  • Demgegenüber schließt die Festlegung eines therapeutisch effektiven Dosisspektrums zwischen subtherapeutischer Dosis einerseits und (toxischer) Überdosis andererseits (z. B. von 80 - 120 % oder 75 - 400 % der verschriebenen Dosis) Verordnungsabweichungen in beide Richtungen ein.

  • Ein ganz anderer Zugang besteht darin, nicht die Dosis, sondern die Einnahmemuster über die Zeitachse zum Kriterium der Compliance zu wählen, z. B. die Kontinuität der Einnahme (keine Unterbrechungen, z. B. „drug holidays”) oder

  • die Anzahl der Tage mit korrekter bzw. adäquater Medikation (z. B. Compliance bei > 75 % Tage mit korrekter Anwendung) zu bestimmen.

Für jede der beschriebenen Analyseperspektiven der Non-Compliance sind im Grunde spezifische Trennpunkte nach klinisch-therapeutischen Kriterien in Bezug auf den jeweils zu erwartenden Therapieeffekt bei Nichteinhaltung einer bestimmten Menge der Verschreibung oder Non-Compliance über einen bestimmten Zeitraum zu definieren. Eine 50 %ige Abweichung von der verschriebenen Wirkstoffgesamtmenge über einen mehrmonatigen Untersuchungszeitraum besitzt sicherlich eine andere klinische Relevanz als die (minimale) Unterschreitung der Verschreibungsdosis an jedem zweiten Behandlungstag. Sofern also nicht die quantitative Ausprägung der Tagesdosenabweichung bestimmt werden kann und der Compliance-Parameter „Anzahl der Compliance-Tage” ausschließlich auf Behandlungstagen mit maximaler Einnahmekonformität basiert, ist der Trennpunkt von 75 % hier unangemessen streng definiert. Umgekehrt erscheint eine 25 %ige Toleranz gegenüber der verschriebenen Wirkstoffgesamtmenge beinahe zu permissiv. Schließlich fällt die Compliance der Patienten unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie über die Messung informiert sind (offene Messung) oder die Compliance-Messung in Form einer verdeckten Registrierung erfolgt (vgl. Bergmann, Mühlig & Petermann, in diesem Heft [100] [101] [102] [103]).

Kasten 3:Unterschiedliche Compliance-Parameter auf Basis von MEMS-Messungen
1. Mengen-Compliance: Als Indikator für die Durchschnitts-Compliance in einer Stichprobe kann zunächst die Übereinstimmung zwischen der verschriebenen und der applizierten Wirkstoffmenge (Summe der Einzeldosen) über den Untersuchungszeitraum auf drei Arten bestimmt werden:
- als Vergleich aller verschriebenen und aller verabreichten Hübe über die Gesamtstichprobe und den gesamten Untersuchungszeitraum (absolute Gesamtdosisdifferenz),
- über den Vergleich aller verschriebenen und aller verabreichten Hübe pro Einzelpatient, die anschließend für die Stichprobe kumuliert und gemittelt werden (durchschnittliche Gesamtdosisdifferenz),
- über den Vergleich der Abweichungen der verschriebenen vs. eingenommenen Tagesdosen, die über die Stichprobe aufsummiert und gemittelt werden (gemittelte individuelle Tagesabweichungen).
2. Tages-Compliance: Als zweiter gebräuchlicher Indikator für die durchschnittliche Compliance kann die (prozentuale) Anzahl der Tage mit verschreibungskonformer vs. abweichender Dosierung bezogen auf die Gesamtstichprobe betrachtet werden (gemittelte Werte aller Patienten, die den Durchschnitt der tagesbezogenen Compliance repräsentieren). Aufgrund der geringen Anzahl von Messereignissen kann hier eine ausreichende Compliance pro Tag nicht bestimmt werden. Daher muss dichotom getrennt werden zwischen Tagen mit maximaler Compliance einerseits und Tagen mit Dosisabweichungen jeglicher Ausprägung andererseits (absolutes Trennkriterium) und eine ausreichende Compliance definiert werden als vollständige Einhaltung der Verschreibungsdosis an mindestens 75 % der Behandlungstage.
3. Korrektes Einnahme-Timing: Die Compliance gegenüber den Einnahmevorschriften kann definiert als Einhaltung der verordneten tageszeitlichen Anwendungen und operationalisiert werden als Anzahl der Tage, an denen eine tageszeitlich vollständig korrekte Einnahme erfolgte:
- für alle Tageszeiten ingesamt,
- pro Tageszeit (morgens, mittags, abends) separat.
4. Einnahmekontinuität: Das Zielverhalten einer möglichst kontinuierlichen AM-Anwendung lässt sich auf zwei Arten operationalisieren:
- (positiv) durch eine klinisch relevante Sequenzlänge von unterbrechungsfreier AM-Einnahme (z. B. 7-Tage-Sequenz) und
- (negativ) als klinisch definierte kritische Sequenz von Tagen mit Therapieunterbrechung („drug holidays”, bestimmt als Therapiepause von z. B. ≥ 3 zusammenhängenden Tagen).
5. Anteil complianter Patienten: Ein anderer Indikator ist der Anteil von Patienten, die die jeweiligen klinisch relevanten Kriterien für Therapiemitarbeit erfüllen (wobei jeweils ein klinisch relevanter Trennpunkt für eine ausreichende Einnahme gesetzt wird), im einzelnen der prozentuale Anteil von Patienten mit:
- ausreichender Gesamtwirkstoffmenge (≥ 75 % der Verordnungen) und Tagesdosen,
- ausreichendem Anteil (total) complianter Behandlungstage (≥ 75 % der registrierten Behandlungstage)
- ausreichend korrektem Einnahme-Timing (≥ 75 % Einhaltung der tageszeitlichen Verordnungen),
- ausreichender Einnahmekontinuität, d. h. einer klinisch bedeutsamen Sequenzlänge (≥ 7 Tage) verschreibungskonformer Einnahme bzw. ohne klinisch signifikante Einnahmeunterbrechungen (≥ 3 Tage).

Zusammenfassung und Ausblick

Trotz der herausragenden Bedeutung des Non-Compliance-Problems für die individuellen Patienten, das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft sowie die klinische Forschungspraxis sind erhebliche Defizite in der empirischen Erforschung dieses Phänomens zu konstatieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Datenlage in Bezug auf die Prävalenz der Non-Compliance in der medikamentösen Asthmatherapie aufgrund uneinheitlicher operationaler Definitionen und methodischer Vorgehensweisen sehr inkonsistent darstellt. Selbst bei Zugrundelegung nur derjenigen Studien, in denen ausreichend valide Messverfahren zum Einsatz kamen, schwanken die Angaben erheblich.

Insgesamt wurden in einer umfangreichen Datenbankrecherche 34 Compliance-Studien mit Asthmapatienten aus den Jahren 1983 bis 2000, die entweder direkte physiologische oder apparativ-elektronische Erhebungsmethoden einsetzten, ermittelt. Für diese in Tab. [1] dargestellten Studien ergeben sich (bei einer Gesamtdurchschnittsrate von 47,5 %) in Abhängigkeit von der gewählten Compliance-Definition und Erhebungsmethodik deutlich differierende mittlere Compliance-Raten (vgl. Abb. [1]):

  • Der durchschnittliche Anteil der Behandlungstage mit absoluter Einhaltung der Verschreibungen liegt bei 37,3 % (min-max: 17-46), im Falle relativer Einhaltung der Verschreibungsdosis mit Trennkriterium bei 51,5 %.

  • Die absolute Übereinstimmung der verschriebenen mit der tatsächlich eingenommenen Wirkstoffgesamtmenge beträgt demgegenüber im Mittel 64,6 % (min-max: 43-84).

  • Der Anteil der Patienten mit ausreichender Wirkstoffkonzentration im Blut oder Urin (one-spot-Messung) liegt durchschnittlich bei 54,0 %, bei einer allerdings extremen Streubreite (min.-max.: 16-95).

  • Der Anteil der Patienten mit einer als ausreichend definierten Anzahl von Compliance-Tagen liegt bei durchschnittlich 34 % (min-max: 15-68; bei absoluter Einhaltung aller Tage: 3 %),

  • Der Patiententeil mit einer ausreichenden Wirkstoffgesamtmenge beträgt 65,4 % (min.-max.: 54-85)

  • Schließlich beziffert sich der prozentuale Anteil der Patienten mit einer ausreichenden Einhaltung der verschriebenen Tagesdosierungen im Durchschnitt auf 51,3 % (min-max: 15-85).

Offensichtlich ist diese Schwankungsbreite der ermittelten durchschnittlichen Compliance-Raten (gut ein Drittel bis zwei Drittel des jeweiligen Erwartungswertes) eher auf die beschriebene methodische Heterogenität als auf reale Stichprobenunterschiede zurückzuführen (vgl. auch Mühlig, Bergmann, Twesten & Petermann, in diesem Heft). Damit stellt sich aber ein weiteres Problem: Diese methodenbedingten Inkonsistenzen zur Prävalenz der Non-Compliance in der Asthmatherapie behindern nicht nur die Vergleichbarkeit zahlreicher empirischer Studien und bewirken damit eine eklatante Verwirrung in Bezug auf den wahren Stellenwert des Problems in der Versorgungspraxis, sondern können u. U. auch zum manipulativen Gebrauch verführen, indem durch gezielte Auswahl bestimmter Compliance-Parameter bei Vernachlässigung anderer Perspektiven tendenziell eher hohe oder niedrige Compliance-Raten produziert werden können.

Daher wäre zu fordern, bei der Durchführung entsprechender Studien, mehrere der beschriebenen Untersuchungsperspektiven zu berücksichtigen. Dies ist auch deshalb sinnvoll, da keine der dargestellten unterschiedlichen Compliance-Definitionen für sich in Anspruch nehmen kann, den ultimativen Indikator der wahren Compliance darzustellen. Insofern erübrigt sich auch die Frage danach, welcher der möglichen Compliance-Indikatoren der aussagekräftigste ist, da jeder mit spezifischen Vor- und Nachteilen verbunden ist. Soll dennoch ein einzelnes quantitatives Maß für die Compliance dargestellt werden, muss einer der beschriebenen Indikatoren in Abhängigkeit von dem spezifischen Untersuchungszweck und der jeweiligen Fragestellung ausgewählt und entsprechend gut begründet werden. Dem klinischen Interesse könnte am ehesten der Parameter einer „ausreichenden Einhaltung Tagesdosis” entgegenkommen, der allerdings mit Informationsverlusten hinsichtlich anderer Aspekte (z. B. Therapieunterbrechungen) verbunden ist. Sinnvoller scheint daher die zwar mühsame aber realitätsgerechtere gemeinsame Darstellung und Interpretation der einzelnen Indikatoren für die Medikamenten-Compliance.

Eine Alterantive könnte darin bestehen, ein integratives Gesamtmaß aus den unterschiedlichen Indikatoren zu bilden, also einen übergreifenden Compliance-Index zu berechnen. In Bezug auf die exaktere Bestimmung des prozentualen Anteiles von Patienten mit nicht ausreichender Compliance scheint dies auf der Basis einer negativen Definition relativ einfach realisierbar (Patienten-Index der Non-Compliance).[3] In diesem Fall wären aus der Gesamtpopulation diejenigen Patienten auszuzählen, die mindestens eines der ausgewählten Kriterien für Non-Compliance nach den jeweils definierten Trennpunkten erfüllen, zum Beispiel alle Patienten,

  • die < 75 % der verschriebenen Dosisgesamtmenge eingenommen haben und/oder

  • < 50 % aller Behandlungstage nicht voll compliant waren und/oder

  • im Monat durchschnittlich sieben Tage Therapiepausen oder ≥ 3 Einnahmepausen von mindestens zwei Tagen einlegten und/oder

  • < 50 % der tageszeitlichen Verschreibungen insgesamt oder < 75 % der Morgen- oder Abenddosen eingehalten haben,

bildeten in der Summe den Prozentsatz non-complianter Patienten (und die Komplementärmenge den Prozentsatz der complianten Patienten) in dieser Stichprobe. Umgekehrt ließe sich der Prozentsatz der complianten Patienten dementsprechend auch positiv ermitteln aus der Koinzidenz der zugrundegelegten Compliance-Indikatoren, also einer definierten Mindestwirkstoffgesamtmenge plus einer Mimimalanzahl von Compliance-Tagen, einer Maximalgrenze für Therapieunterbrechungen und einer Mindestübereinstimmung mit den tageszeitlichen Verschreibungen.

Weitaus schwieriger ist eine Indexbildung aus den Stichprobenmittelwerten bzgl. der Mengen- oder Tagesabweichungen von der Verordnung. Jede algebraische Verknüpfung dieser höchst unterschiedlichen Qualitäten aus mengen- und zeitraumbezogenen Compliance-Indikatoren stellte zwangläufig ein künstliches Produkt dar. Ein derartig abstraktes Maß wäre inhaltlich kaum zu interpretieren, könnte aber u. U. als Parameter für Stichprobenvergleiche, der die unterschiedlichen Compliance-Aspekte gleichgewichtig umfasst, herangezogen werden, beispielsweise in Form

  • der gemittelten Summe der durchschnittlichen Anzahl von Compliance-Tagen und der durchschnittlichen Gesamtdosis-Übereinstimmung (z. B. 35 % Compliance-Tage + 82 % Mengenübereinstimmung ÷ 2 = 58,5 % „Gesamt-Compliance”).

Das Hauptproblem dieser Indexbildung besteht darin, dass die additiv verknüpften Werte in Wirklichkeit nicht unabhängig sind. Insofern kann sie lediglich dazu dienen, mögliche Verzerrungen durch isolierte Betrachtung der Einzelparameter zu relativieren. Dieses Summenmaß ist also keine Repräsentation realer Verhaltensweisen, sondern lediglich ein abstrakter Indikator der Verteilung von Stichprobenmerkmalen. Schwer integrierbar wäre hier zudem die Einnahmekontinuität bzw. das Auftreten von „drug holidays”, da es sich hierbei um Parameter mit völlig anderem Datencharakter (diskrete Zeitabschnitte) handelt.

Die vorgestellten Ausführungen machen den dringenden Klärungs- und Untersuchungsbedarf im Bereich der Compliance-Forschung bei Asthmapatienten deutlich. Sowohl die gewählte Untersuchungsperspektive, die Operationalisierung des Compliance-Begriffes als auch die Festlegung entsprechender Trennpunkte erfolgten bislang uneinheitlich und nicht selten willkürlich. Unseres Erachtens wäre es an der Zeit, einen Diskurs über die klinisch relevanten und methodologisch sinnvollen Compliance-Definitionen in Gang zu setzen und mittelfristig entsprechende Standards und Empfehlungen zu formulieren (z. B. im Rahmen von Konsensuskonferenzen der Fachgesellschaften). Dabei geht es zum einen um die angemessene Auswahl und zweckmäßige Zusammenstellung der unterschiedlichen Compliance-Parameter und zum anderen um die Einigung auf die jeweils unter Therapieerfolgsaspekten relevanten Trennkriterien zwischen „Compliance” und „Non-Compliance” auf den unterschiedlichen Ebenen. Darüber hinaus wäre zu überlegen, für welche Nutzungszwecke die Bildung von Compliance-Indizes sinnvoll sein könnte und wie deren Komponenten möglicherweise zu gewichten wären.

Vielleicht gelingt auf diese Weise eine Verständigung darüber, wann genau ein Patient als „compliant” anzusehen ist und wieviele Patienten dieses Kriterium wirklich erfüllen. Erst auf der Grundlage einer Vereinheitlichung und Standardisierung der verwendeten Definitionen, Trennpunkte und Methoden samt ihrer klinischen, messtheoretischen und logischen Begründung können empirische Ergebnisse vergleichbar gemacht und damit fundierter Erkenntnisfortschritt erzielt werden. (Tab. [2]).

Zoom

Abb. 1Durchschnittliche Compliance-Raten nach unterschiedlicher Compliance-Definition (in Prozent).

Tab. 1Typische Erscheinungsformen der intentionalen Non-Compliance in der klinischen Praxis
Erscheinungsform Beschreibung Konsequenzen
„little bit each day” Kontinuierliche Unterdosierungen im Rahmen der Dauerbehandlung z. B. mit inhalativen Glucocorticoiden Verhinderung der Entfaltung des Wirkpotenzials des AM; Konterkarierung des dauerhaften Therapie-erfolgs; Gefahr des Therapieabbruches aufgrund vermeintlicher „Wirkungslosigkeit” des AM
„better more” systematische Überdosierungen AM-Risiken wie verstärktes Auftreten von unerwünschten AM-Wirkungen; dosisabhängig toxische Effekte
„on-off-Compliance” verschreibungskonforme AM-Einnahme bis die Medikation „gewirkt hat”, mit anschließendem vollständigen Absetzen und Wiederaufnahme der Medikation, sobald die Symptomatik sich wieder verschlechtert AM-Risiken durch ständig wechselnde Phasen von Wirkstoffzufuhr und -entzug
„drug-swinging” Einnahme der Dauer-AM in Abhängigkeit von Krankheits- oder Behandlungsereignissen (Atemnot-attacke, vor und nach Arztterminen) Therapiemisserfolg; AM-Risiken
„drug-holidays” periodisch auftretendes abruptes Absetzen der AM-Anwendung durch die Patienten nach einer Phase begrenzter Zeitintervalle mit guter oder sogar optimaler Compliance AM-Risiken durch abrupten Wirkstoffentzug
„drug dumping” Entleerung des AM-Behältnisses kurz vor einem bevorstehenden Arztbesuch, um Compliance vorzutäuschen Therapiemisserfolg
„white-coat-adherence” Wiederaufnahme der regulären Medikation nach Absetzen des AM erst unmittelbar vor einem bevorstehenden Arztbesuch Therapiemisserfolg; AM-Risiken
Tab. 2Übersicht über Asthma-Compliance-Studien mit apparativen und objektiven Messverfahren.
Studie N Treatment (AM; Verschrei-bungsdosis) Compliance-Maß Compliance-Definition (Trennpunkte) Compliance-Rate (%)
1. Chryssanthopoulos et al. (1983) [104] 33 (Kinderu. Jugend-liche) Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 25 %
2. Steenhoek & Palmen (1984) [105] 467 Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 67 % (ambulant)95 % (stationär)
3. Wood et al. (1985) [106] 111 (Kinder) Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (≥ 5 mg/ml) 66 %
4. Weinstein & Cuskey (1985) [107] 39 (Kinder) Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (≥ 5 mg/ml) 72 %
5. Spector et al. (1986) [108] 19 a) Lodoxamid inhalativ; Nebulizer Chronolog Anteil Behandlungstage mit totaler Compliance 47 %
b) Placebo Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (> 50 % der Behandlungs-tage totale Einhaltung d. Verschreibung) 53 %
6. Horn et al. (1989) [109] 51 inhalatives Salbutamol Urinspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 69 %
7. Horn et al. (1990) [110] 160 inhalatives Salbutamol Urinspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 50 %
8. Dowse & Futter (1991) [111] 80 Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 37 %
9. Baldwin et al. (1991) [112] 69 Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 33 %
10. Mawhinney et al. (1991) [113] 34 a) Lodoxamid inhalativ Nebulizer Chronolog durchschnittlicher Anteil Behandlungs-tage mit totaler Compliance - Lodoxamide 37 %
b) Tixocortol pivalate) inhalative (2-2-2-2); durchschnittlicher Anteil Behandlungs-tage mit totaler Compliance - Tixocortol 22 %
c) Placebo durchschnittlicher Anteil Behandlungs-tage mit ausreichender Compliance (7 - 9 Hübe) - Tixocortol 37 %
Anteil der Patienten mit totaler Compliance - gesamt 3 %
11. Tashkin et al. (1991) [114] 197 a) inhalative AM (anti-choli-gerne Bronchodilatoredn*); Nebulizer Chronolog Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (Minimaldosis ≥ 2 Hübe/Tag) - uninformiert 52 %
b) Placebo Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (Minimaldosis ≥ 2 Hübe/Tag) - eingeweiht 78 %
12. Coutts et al. (1992) [115] 14 (Kinder) Inhalatives Glucocorticoid* Nebulizer Chronolog Anteil Behandlungstage mit totaler Compliance (korrekte Einnahme und timing) 41 %
13. Rand et al. (1992)[116] 70 a) Ipratropiumbromid (2-2-2);
b) Placebo
Nebulizer Chronolog Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (Trennpunkt Minimal-dosis ≥ 2 - 5 Hübe/Tag) 15 %
Tab. 2Fortsetzung
Studie N Treatment (AM; Verschrei-bungsdosis) Compliance-Maß Compliance-Definition/Trennpunkte Compliance-Rate (%)
14. Mann et al. (1992a) [117] 16 Flunisolid inhalativ (8/Tag) Nebulizer Chronolog Anteil Behandlungstage mit total korrekter Dosierung (Gr. A, t1) 41 %
a) A: Dos. konstant (2-2-2-2 bzw. 4-4) Anteil Behandlungstage mit total korrekter Dosierung (Gr. A, t2) 40 %
b) B: Dos. verändert (von 2-2-2-2 auf 4-4) Anteil Behandlungstage mit total korrekter Dosierung (Gr. B, t1) 52 %
Anteil Behandlungstage mit total korrekter Dosierung (Gr. B, t2) 20 %
15. Mann et al. (1992b) [118] 10 Beclometason inhalativ (; ind. Dosierung) (u. Albuterol) Nebulizer Chronolog durchschnittliche prozentuale Compliance (Übereinstimmung Anzahl Tagesdosen-Verschreibung - tatsächliche Anwendung × 100) - Beclometason 66 %4
Anteil Behandlungstage mit total korrekter Dosierung - Beclometason 24 %
16. Cox et al. (1993) [119] k.A.5 Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 27 % (ambulant)
70 % (stationär)
17. Koehler et al. (1993) [120] 235 (Kinder) Theophyllin Speichel-konzentration Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 75 %
18. Nides et al. (1993) [121] 205 a) Ipratropiumbromid (ind. Dosierung); Nebulizer Chronolog Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (Minimaldosis ≥ 2 Hübe/Tag) - uninformiert 60 %
b) Plazebo Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (tägliche Minimaldosis ≥ 2 Hübe/Tag) - eingeweiht 80 %
19. Mawhinney et al. (1993) [122] 39 Albuterol o. Metaproterenol Nebulizer Chronolog Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (angemessener Dosierung: indiv. bestimmt nach aktuellem PEF-Wert 31 %
20. Yeung et al. (1994) [123] 30 (1) Inhalatives Glucocorticoid (BDP) MDI-Chronolog durchschnittliche prozentuale Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung × 100) - offene Messung 78 %
(2) Inhalatives Glucocorticoid durchschnittliche prozentuale Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung × 100) - verdeckte Messung 70 %
(3) Beta-Agonist durchschnittliche prozentuale Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung × 100) - verdeckte Messung 84 %
21. Chmelik & Doughty (1994) [124] 20 div. inhalative AM (DA); ind. Dosierung Nebulizer Chronolog Anteil Patienten mit ausreichend korrekter Dosierung (innerhalb ± 10 % von der Verschreibung) 40 %
22. Schöni et al. (1995) [125] 49 (Kinder) a) Theophyllin Plasmaspiegel Anteil Patienten mit therapeutisch ausreichender Wirkstoffkonzentration (k.A.) 16 %
23. Schöni et al. (1995) [125] 6 21 (Kinder, Jugendl.) Heimkompressor (Pariboy); 1 - 3/Tag verdeckte elektronische Messung Einhaltung der verschriebenen Inhalationsdauer pro Anwendung (Trennpunkt > 80 % × > 120 %) 48 %
Tab. 2Fortsetzung
Studie N Treatment (AM; Verschrei-bungsdosis) Compliance-Maß Compliance-Definition/Trennpunkte Compliance-Rate (%)
24. Cochrane & Bosley (1994); Bosley et al. (1994); Bosley et al. (1995)7 [126] [127] 102 a) inhalatives Kombina-tionspräparat (Beta2-Ago-nisten/Glucocorticosteroid) vs. Turbo-Inhaler-Computer (TIC) mitt. Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (≥ 80 % Wirkstoffmenge) 50 - 60 %
b) Salbutamol/Terbutal in8 und Budenosid9 als Einzelpräparate mittl. Anteil Patienten mit ausreichen-der Compliance (≥ 70 % der verschriebenen Dosen und keine Unterbrechungen ≥ 7 Tage) 49 %
mittl. Anteil Behandlungstage mit totaler Compliance 43 %
mittl. Anteil Patienten mit > 80 % der Behandlungstage totaler Compliance (korrekte Einnahme u. timing) 14 %
25. Turner et al. (1995) [128] 985 Heimkompressor verdeckte elektronische Messung Anteil Patienten mit Einhaltung ausreichender Inhalationszeiten (≥ 25 min./täglich) 51 %
26. Milgrom et al. (1996) [129] 24 (Kinder) a) Inhalatives Cortico-steroid*; Nebulizer Chronolog Durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung) - Corticosteroid 58 %
b) inhalativer Beta-Agonist* durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung) - Beta-Agonist 62 %
durchschnittliche Compliance zeitlich korrekte Anwendung (Übereinstimmung Einnahme-vorschrift - Einhaltung) - Cortic-osteroid 32 %
durchschnittliche Compliance zeitlich korrekte Anwendung - Beta-Agonist 48 %
27. Braunstein et al. (1996) [130] 201 a) inhalatives Kombina-tionspräparat (Bronchialerweiterer & antiinflammatorisches AM)* vs. Nebulizer Chronolog Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (Trennpunkt: 6 - 10 tägliche Applikationen an > 60 % der Unter-suchungstage) - Kombination 34 %
b) Nedocromil sodium & Salbutamol (Beta-2-Agonisten) (Verschreibung je 2-2-2-2) Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (Trennpunkt: 6 - 10 tägliche Applikationen an > 60 % der Untersuchungstage) -separate AM (Nedocromil) 35 %
durchschnittlicher Anteil der Tage mit ausreichender Compliance (gesamt) 43 %
durchschnittlicher Anteil der Tage mit totaler Compliance (gesamt) 17 %
28. Simmons et al. (1996) [131] 231 Ipratropiumbromid Nebulizer Chronolog durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung) - informierte Patienten 43 %
durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung) - nicht-informierte Patienten 57 %
Tab. 2Fortsetzung
Studie N Treatment (AM; Verschrei-bungsdosis) Compliance-Maß Compliance-Definition/Trennpunkte Compliance-Rate (%)
29. Simons et al. (1997) [132] 14 (Jugendliche) (1) Salmeterol inhalativ Nebulizer Chronolog Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (≥ 85 % Einhaltung der Verschreibungsdosis) - AM-Gruppe 85 %
(2) Plazebo Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (≥ 85 % Einhaltung der Verschreibungsdosis) - Plazebo-Gruppe 54 %
30. Corden et al. (1997) [133] 93 Heimkompressor elektronische Messung Mittlere Einhaltung der Inhalations-zeiten (> 70 % oder > 60 % bei 5maliger Anwendung/Tag) 57 %
Anzahl Patienten mit ausreichender Compliance (Anwendung > 70 % oder > 60 % bei 5maliger Anwendung/Tag) 44 %
Anzahl Patienten mit Mindestanzahl Compliance-Tagen (korrekte Anwendung an ≥ 80 % der Behandlungstage) 10 %
31. Berg et al. (1997); Berg et al. (1998) [134] [135] 55 div. inhalative AM (ind. regul. Verschreibung) MDI-Cronolog mittl. Anzahl Tage mit totaler Einhaltung der Verschreibungsdosis1 insgesamt 38 %
Anzahl Tage mit totaler Einhaltung der Verschreibungsdosis - geschult 46 %
Anzahl Tage mit totaler Einhaltung der Verschreibungsdosis - ungeschult 36 %
Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (> 80 % Einhaltung der Verschreibungsdosis nach Menge und Timing) - geschult 26 %
Anteil der Patienten mit ausreichender Compliance (> 80 % Einhaltung der Verschreibungsdosis nach Menge und Timing) - ungeschult 4 %
32. Bender et al. (1998) [136] 24 Kinder (1) inhalatives Corticosteroid* MDI-Chronolog Anzahl der Tage mit totaler Compliance (alle Dosen nach Verschreibung und timing) - Corticoid 5 %
(2) inhalatives Cortico-steroid* Anzahl der Tage mit ausreichender Compliance (mind. 1 Dosis) - Corticoid 58 %
(3) inhalativer Beta-Agonist* Anzahl der Tage mit ausreichender Compliance (mind. 1 Dosis) - Beta-Agonist 72 %
33. Apter et al. (1998) [137] 50 inhalatives Cortico-steroid* (2 × täglich) MDI-Chronolog durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl verschriebe-ner vs. eingenommener Hübe) 63 %
Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (≥ 70 % der Verschreibungsdosis) 54 %
34. Chung & Naya (2000) [138] 57 Zafirlukast oral (20 mg, 2 × täglich) TrackCap Durchschnittliche Compliance (Übereinstimmung Anzahl Verschreibung - tatsächliche Anwendung) 80 %
prozentuale Anzahl der Tage mit ausreichender Compliance (≥ 2 AM-Ereignissen/Tag) 64 %
Anteil Patienten mit ausreichender Compliance (Einhaltung ≥ 80 % der verschriebenen Dosis) 66 %
4 Werte > 100 umgerechnet in prozentuale Compliance-Abweichung: 100-×
5 Untersuchungen aller Blutproben von Asthmapatienten in jeweils einem Monat.
6 Ergebnisse zweier Studien in einer Publikation vorgestellt.
7 Ergebnisse derselben Studie in mehreren Publikationen vorgestellt
8 kurzwirksame Bronchialerweiterer (Beta-2-Agonisten)
9 Glucocorticoid

Literatur

1 Dieser Beitrag basiert auf Auszügen aus der Habilitationsschrift des Erstautors.

2 Prozentwerte über 100 repräsentieren dabei Abweichungen von der Verschreibung nach oben (= Überdosierungen). Inzwischen werden Compliance-Angaben üblicherweise so formuliert, dass eine absolute Einhaltung der Verschreibung gleich 100 gesetzt wird und sowohl Unter- wie Überdosierungen als prozentuale Annäherung an dieses Optimum betrachtet werden, also auch AM-Mehrverbrauch nur Werte unter 100 % erreichen kann.

3 Bosley et al. [126] wählten zum Beispiel folgenden Algorithmus zur Bestimmung der Non-Compliance mit inhalativen AM in der Asthmatherapie: Sie bildeten einen prozentualen Compliance-Wert, indem sie den Quotienten aus der eingenommenen vs. der verschriebenen Dosisanzahl mit 100 mulitplizieren. Als non-compliant wurde ein Patient dann definiert, wenn er über den Erhebungszeitraum weniger als 70 % der Verschreibungsdosis eingenommen oder die AM-Anwendung für mindestens eine Woche ganz versäumt hatte.

Dr S Mühlig

ZRF
Universität Bremen

Grazer Str. 6
28359 Bremen

eMail: E-mail: muehlig@uni-bremen.de

Literatur

1 Dieser Beitrag basiert auf Auszügen aus der Habilitationsschrift des Erstautors.

2 Prozentwerte über 100 repräsentieren dabei Abweichungen von der Verschreibung nach oben (= Überdosierungen). Inzwischen werden Compliance-Angaben üblicherweise so formuliert, dass eine absolute Einhaltung der Verschreibung gleich 100 gesetzt wird und sowohl Unter- wie Überdosierungen als prozentuale Annäherung an dieses Optimum betrachtet werden, also auch AM-Mehrverbrauch nur Werte unter 100 % erreichen kann.

3 Bosley et al. [126] wählten zum Beispiel folgenden Algorithmus zur Bestimmung der Non-Compliance mit inhalativen AM in der Asthmatherapie: Sie bildeten einen prozentualen Compliance-Wert, indem sie den Quotienten aus der eingenommenen vs. der verschriebenen Dosisanzahl mit 100 mulitplizieren. Als non-compliant wurde ein Patient dann definiert, wenn er über den Erhebungszeitraum weniger als 70 % der Verschreibungsdosis eingenommen oder die AM-Anwendung für mindestens eine Woche ganz versäumt hatte.

Dr S Mühlig

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Abb. 1Durchschnittliche Compliance-Raten nach unterschiedlicher Compliance-Definition (in Prozent).