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DOI: 10.1055/s-2001-12674
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Von uneinsichtigen Psychiatern, Psychologinnen, Pflegern, Sozialarbeiterinnen, Polizisten und Politikern
Of Closed-Minded Psychiatrists, Female Psychologists, Female Social Workers, Policemen and PoliticiansVon uneinsichtigen Patienten und auch von den gänzlich uneinsichtigen Angehörigen haben Sie schon alle etwas gehört oder sich Gedanken darüber gemacht - oder sich über diese geärgert. Haben Sie aber schon einmal von den uneinsichtigen Hausärzten, Psychiatern und Psychiaterinnen, Schulärzten, Lehrern und Lehrerinnen, Vormündern, Beiständen, Psychologinnen und Psychologen, Pflegerinnen und Pflegern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern; von uneinsichtigen Polizisten und Politikern gehört? Ich spreche von Uneinsichtigkeit in Bezug auf die Krankheit und deren Diagnose.
Bei der Vorbereitung auf meinen Vortrag zum Thema „Uneinsichtigkeit aus der Sicht der Angehörigen” im Sommer 2000 in Bern[1] habe ich viele Angehörige zur „Uneinsichtigkeit” befragt. Bei dieser Befragung erhoffte ich mir, dass ich Ihnen in wenigen Sätzen erläutern könnte, warum unsere Patienten und wir Angehörigen uneinsichtig sind. Doch es kam anders. Viele Angehörige haben geklagt, dass sie von niemand verstanden würden. Niemand glaubte ihnen, wenn sie merkten, dass sich ihre Angehörigen veränderten. Sie mussten hilf- und tatenlos zuschauen, wie sich das Kind, der Partner oder die Partnerin veränderte. Niemand wollte wahrhaben - oder niemand hatte ein Einsehen, dass es sich um eine psychische Erkrankung handeln könnte. Die Angehörigen nehmen die Verantwortung für die Ursache der Veränderung auf sich. Sie denken, dass sie alles falsch gemacht haben, wenn der Sohn, die Tochter krank wurden. In meiner Arbeit mit Angehörigen seit bald 16 Jahren stelle ich leider fest, dass die Uneinsichtigkeit bei den Professionellen der Psychiatrie beginnt und nicht bei den Patienten oder den Angehörigen.
Bei jungen Menschen wird oft eine pubertäre Phase diagnostiziert, eine Phase, welche nach meiner Meinung nach ein bis zwei Jahren ein Ende haben sollte. Doch weit gefehlt - oft wird nach fünf und mehr Jahren immer noch die Pubertät für die Krankheit verantwortlich gemacht. Nach der pubertären Phase wird dann die Ablösung vom Elternhaus oder die Ablösung von der Mutter für die Veränderung für schuldig befunden. Schlechte Erziehung, zerrüttete Familienverhältnisse, verhätscheltes oder zu streng erzogenes Kind; keine gute Mutter, geschiedene Mutter; schlechter Umgang oder schlechte Gesellschaft; die Pubertät, das militante Militär, die Abschlussprüfung; keine guten Freunde - und vieles mehr wird dem psychisch veränderten Angehörigen unterstellt. Und niemand ist einsichtig genug, eine psychische Krankheit in Erwägung zu ziehen. In der Früherkennung wird von den vier bis fünf Jahren gesprochen, welche vom Beginn einer Veränderung bis zu einem Ausbruch vergehen. Die Früherkennung möge verhindern, dass es zu einem sozialen Abstieg, zur Verwahrlosung und zu einer heftigen Psychose kommt. Der frühere Beginn der adäquaten Behandlung würde den Verlauf beeinflussen. Ich denke, wir müssen in der Psychiatrie das Rad nicht neu erfinden. Neu betroffene Angehörige können über die Frühwarnzeichen Bücher schreiben. Wir sind die ersten, die die Veränderungen wahrnehmen und oft Jahre darum kämpfen müssen, dass unsere Vermutungen von den Professionellen ernst genommen werden; dass sie sich die Mühe machen den Patienten abzuklären und zu behandeln. Oft vergeht zu viel Zeit bis eingegriffen wird. Erst wenn die Krankheit eskaliert, wenn die Familie nicht mehr kann, muss der kranke Mensch, notfallmäßig, wenn nötig mit der Polizei, in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Der Schock für den Betroffenen, aber auch für die ganze Familie sitzt tief. Zorn und Wut wechseln sich mit Verzweiflung, Hilflosigkeit und Trauer ab. Zu lange wurde zugewartet. Niemand hat die Verantwortung übernommen; nicht einmal der Hausarzt oder der Psychiater.
#1. Renato
Renato (Name geändert) war ein aufgeweckter 16-Jähriger, bevor er sich langsam aber stetig veränderte. Er büffelte die ganze Nacht bei lauter Musik für das Gymnasium. Er hatte keinen Appetit und sagte eines Tages zu seiner Mutter, dass er ohne Essen und Trinken leben könne, weil er ein Außerirdischer sei. Er wurde immer mehr zu einem Einzelgänger. Die Mutter kontaktierte den Hausarzt, der meinte, das sei die Pubertät. Geduld müsse man haben. Dann komme es schon wieder. Renato schaffte knapp die Matur - und auch die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium. Doch sein verändertes Verhalten wurde immer auffälliger. Die Mutter suchte mit dem Sohn Hilfe in einer psychiatrischen Institution. Denn sie spürte, dass es nicht die Pubertät war. Eine Psychiaterin nahm sich Renatos an. Er ging wöchentlich zu ihr in die Psychotherapie. Doch sein Zustand verschlechterte sich massiv. Er hörte Stimmen und wurde immer aggressiver. Er bekam keine Medikamente, da diese laut der Psychiaterin schädlich gewesen seien. Als die Situation zu Hause eskalierte und die Mutter mit Ach und Krach den Sohn in die Therapie brachte, rief die Psychiaterin nach der Stunde die Mutter an und meinte, dass etwas geschehen müsse. Die Mutter erwiderte spontan: Weisen sie ihn in die Klinik ein. Nein - das würde sie nicht tun, denn in der Klinik würde ihr Sohn nur noch kränker. Der Notfallpsychiater hat ihn dann, als er auf die Mutter losging, endlich in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Renato bekam nach vier Jahren Leidensweg endlich eine adäquate Behandlung.
#2. Marco
Herr und Frau Müller besuchten bei der VASK ein Angehörigen-Seminar. Marco, ihr Sohn, hatte sich innerhalb kurzer Zeit verändert. Er brach die Lehre ab, machte den Tag zur Nacht, hörte Stimmen und wurde immer aggressiver. Als er auf seine Schwester losging und die Eltern die Polizei holen mussten, wurde er durch den Notfallpsychiater in eine Klinik eingewiesen. Marco war zwei Monate in der Klinik. Er bekam Medikamente. Sein Zustand wurde wieder besser. Nach der Entlassung bezog Marco eine WG und versuchte wieder eine Lehrstelle zu finden, was ihm nicht gelang. Er jobbte ein wenig hier und dort und ging regelmäßig zum Psychiater. Leider setzte er die Medikamente wieder ab. Die nächste Klinikeinweisung wurde nötig. Nach dem zweiten Klinikaufenthalt wurde er wieder vom Sozialdienst und einem Psychiater betreut. Die Eltern waren hilflos. Die Mutter rief mich an und sagte mir, dass Marco wieder die Medikamente abgesetzt habe. Sie fragte mich was sie tun solle. Sie hatte große Angst. Denn Marco wurde im Schub immer gewalttätig. Ich riet ihr, dies sofort Marcos Psychiater mitzuteilen. Das tat sie. Der Psychiater sagte ihr, sie solle endlich aufhören, Marco wie ein Kind zu behandeln. Sie solle sich endlich von ihm ablösen und ihn nicht immer beobachten. Sie war wütend und verzweifelt. Einerseits fühlte sie sich ertappt und schuldig. Andererseits hatte sie das Gefühl, dass der Psychiater ihre Wahrnehmung nicht ernst nahm. Einen Monat später versuchte Marco seinen Vater mit einem Beil umzubringen. Nur ein einsichtiger Schutzengel konnte die Tat verhindern.
Uneinsichtigkeit heißt, nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen; keine Verantwortung übernehmen zu müssen oder zu wollen. Uneinsichtigkeit heißt auch, die Augen zu verschließen und die Wahrheit nicht zu erkennen. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es sehr schwierig ist, einsichtig zu sein, sei dies im Alltag, am Arbeitsplatz oder in der Familie. Uneinsichtigkeit ist oft bequemer. Man kann sich belügen/beschummeln. Man kann Ausreden erfinden und der Realität entfliehen. Einsichtig zu sein bedeutet das Gegenteil. Einsicht ist unbequem. Der Weg zur Einsicht ist oft sehr beschwerlich. Einsicht tut weh. Da müssen wir Angehörigen durch. Doch zu Beginn der Krankheit hoffen wir immer noch auf das Wunder. Wir hoffen, dass etwas anderes hinter der Veränderung steckt - keine psychische Krankheit und schon gar keine Schizophrenie. Ganz tief im Unterbewusstsein spüren Betroffene und Angehörige - Professionelle erst nach langer Zeit -, dass sich etwas entwickelt hat. Das könnte eine psychische Krankheit, das könnte eine Schizophrenie sein. Aber niemand traut sich, diese Vermutung auszusprechen. Mit viel Fingerspitzengefühl hätten die Professionellen die Möglichkeit, früh einzugreifen, bevor etwas passiert ist. Aufklärung tut Not.
Was passiert, wenn in Familien die Erkenntnis da ist, Professionelle aber nicht hören und sehen wollen, solange die Symptome nicht in ihrer Gegenwart sichtbar werden? Was behindert die Erkenntnis? Könnte es nicht Gemeinsamkeiten in der Verleugnung bei Professionellen - mit der viel zitierten Verleugnung der Angehörigen - geben? Ich denke an Sympathien für die Betroffenen und die Scheu vor der Stigmatisierung mit der Krankheit. Ich denke an die Annahme, dass alle Familienmitglieder/alle Menschen, die ich sympathisch finde - „normal”, das heißt gesund sind. Die klare Trennung von Krank und Gesund möchten nicht nur die Angehörigen und Betroffenen, sondern auch die Professionellen für sich aufrecht erhalten. Und ihren menschlichen Reaktionen auf ihr Gegenüber nachgeben. Mangelnde Einsicht ist nicht einfach ein Krankheitssymptom. Sie ist nicht einfach Ausdruck mangelnder Kompetenz. Sie hat etwas von einer unmittelbaren menschlichen Reaktion, die bei Professionellen mindestens so häufig anzutreffen ist wie bei den Angehörigen.
Was wäre, wenn alle Patienten und deren Angehörige ab sofort einsichtig wären? Wenn sie plötzlich die Krankheit akzeptierten; die Medikamente einnähmen; wenn sie Frühwarnzeichen erkennen und agieren würden? Ich denke, Sie alle bekämen Probleme. Man würde Ihnen etwas Wichtiges wegnehmen.
#1 Leicht geänderte Fassung eines Vortrags anlässlich des Berner Schizophrenie Symposiums 2000.
Vreni DiserensPräsidentin der VASK
Postfach 6161
8023 Zürich
Schweiz
1 Leicht geänderte Fassung eines Vortrags anlässlich des Berner Schizophrenie Symposiums 2000.
Vreni DiserensPräsidentin der VASK
Postfach 6161
8023 Zürich
Schweiz