Das Interesse am Thema Komorbidität entwickelte sich aus der
klinischen Praxis. So werden in den Einrichtungen der Fachklinik Eiterbach seit
nunmehr 18 Jahren komorbide Patienten in einem integrativen Behandlungssetting
im Rahmen von Maßnahmen zur stationären und ambulanten
Rehabilitation von Sucht behandelt. Im Sinne einer Präselektion werden
bevorzugt Patienten mit Störungen der diagnostischen Kategorien F1 und F2
oder F1 und F3 nach ICD-10 aufgenommen.
Das integrative Behandlungsprogramm für diese komorbiden
Patienten, wie auch für „nur Drogenabhängige”, umfasst
Elemente des psychoedukativen Ansatzes und orientiert sich hierbei an den
Programmen der klassischen stationären Drogentherapie mit gewissen
Modifikationen, und es umfasst auch Elemente eines
systemisch-konfliktorientierten psychotherapeutischen Ansatzes auf dem
Hintergrund der psychotherapeutischen Grundorientierung (Angehörige werden
in die Behandlung gezielt mit einbezogen) und schließlich bei Bedarf eine
neuroleptische Behandlung der psychisch gehandikapten Patienten.
Das Zusammenleben in allen Einrichtungen ist organisiert nach den
Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft mit festgelegten Rechten und
Pflichten für alle Beteiligten durch eine verbindliche Hausordnung.
Das gegenwärtige differenzierte Gesamtbehandlungssystem
ermöglicht eine optimale Flexibilität im Angebot der
Behandlungselemente und auch der Aufenthaltsdauer und bildet die Basis für
eine individuelle Therapieplanung.
Abb. 1 Das Behandlungssystem.
Die individuelle Therapieplanung erfolgt im Rahmen so genannter
Indikationskonferenzen auf der Grundlage ausführlicher
medizinisch-psychiatrischer und psychologischer Diagnostik im monatlichen
Turnus für jeden Klienten und ermöglicht so ein individuelles
Behandlungsprogramm mit unterschiedlichen Behandlungsschwerpunkten und
flexibler Kombination einzelner Behandlungselemente. Der Behandlungsplan wird
in weiteren Indikationskonferenzen überprüft und fortgeschrieben.
Übergeordnetes Behandlungsziel im Sinne der
Leistungsträger ist die Wiederherstellung bzw. die Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit auf der Grundlage einer Abstinenzfähigkeit. Zur
Erreichung dieser Ziele wird die Fähigkeit zur Konflikt- und
Krisenbewältigung wie auch die Entwicklung von
Rückfallbewältigungskompetenzen gefördert mit dem Ziel, eine
unabhängige und zufriedene Lebensführung zu entwickeln. Dazu werden
neue Einstellungen und Verhaltensweisen zu einer selbst gesteuerten,
strukturierten Alltagsbewältigung einerseits, wie auch andererseits eine
Problematisierung häufig diagnostizierter Störungen der Beziehungs-
und Kontaktaufnahme, insbesondere im familiären Kontext
gefördert.
Die Einrichtungen der Fachklinik arbeiten mit einem die komorbiden
Patienten integrierenden Gesamtbehandlungskonzept mit wesentlichen
spezifischen, für die psychisch vulnerablen Patienten wichtigen
Modifikationen gegenüber den traditionellen
Drogenentwöhnungsprogrammen [1].
Die Frage nach der Ätiologie bzw. der gegenseitigen Bedingtheit
der beiden Erkrankungen ist dabei klinisch nur schwer zu beantworten, da viele
verwendete Drogen hohe psychopharmakologische Effekte aufweisen und so als
psychoseverursachend oder zumindest mitauslösend zu betrachten sind.
Andererseits wird die Hypothese der Entwicklung einer Suchtabhängigkeit
infolge eines Selbstmedikationsversuchs zur Bewältigung psychotischen
Erlebens diskutiert. Für die Arbeit der Fachklinik wird das Modell der
interaktiven Komorbidität im Sinne von Gross [2]
präferiert, wodurch ganz pragmatisch das Glatteis diagnostischer
Kausalitätsabwägungen umgangen wird (zur theoretischen Fundierung und
Begründung des Behandlungskonzeptes siehe [3]).
Ergebnisse empirischer Untersuchungen zeigen
eine gute Compliance dieser Patienten mit dem Behandlungsprogramm, was sich
unter anderem in einer geringen Abbruchquote manifestiert [4.]
Ergebnisse einer Vergleichsuntersuchung
Hinsichtlich diverser soziodemografischer Eingangs- und
Verlaufsdaten liegen uns für einen über siebenjährigen Zeitraum
Vergleichsdaten für die Patientengruppen mit und ohne zusätzliche
Psychose vor:
Untersuchungszeitraum 5/90-12/98
n = 869
davon komorbide Patienten
n = 366
Signifikante Unterschiede bei den Mittelwerten beider Gruppen
ergaben sich bei folgenden Items:
Komorbide Patienten
-
sind häufiger ledig
-
haben häufiger weiterführende Schulen besucht
-
sind beruflich besser ausgebildet
-
wohnen häufiger noch bei den Eltern
-
haben weniger Schulden
-
haben weniger Verstöße gegen das BtmG
-
waren weniger oft inhaftiert
-
waren dafür häufiger in der Psychiatrie
-
gaben Cannabis und Alkohol häufiger als ihre Hauptdrogen
an
-
waren weniger häufig rückfällig während der
Therapie
-
werden weniger häufig disziplinarisch entlassen
-
waren durchschnittlich länger in der Klinik
-
wurden weniger häufig wieder aufgenommen
Neben eher plausiblen Unterschieden bei den Eingangsdaten erscheinen
uns die Ergebnisse bei den Verlaufsdaten besonders erwähnenswert und
interpretationswürdig: Mag die geringe Quote an disziplinarischen
Entlassungen bei den komorbiden Patienten auch mit einer wohl toleranteren
„sanfteren” Umgangsweise der Therapeuten mit dieser
Personengruppe zu erklären sein, so lässt sich dennoch nicht
übersehen, dass komorbide Patienten während der Behandlung wesentlich
seltener rückfällig wurden und weniger häufig wieder aufgenommen
wurden, was durchaus auch einen Rückschluss auf den weiteren Verlauf nach
der Entlassung zulässt.
Anhand der vorliegenden Daten, auf dem Hintergrund einer inzwischen
15-jährigen Erfahrung mit diesem integrativen Konzept, dürfen wir
behaupten, dass eine integrative Behandlung komorbider Patienten mit dem
vorliegenden Konzept nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll und
erfolgversprechend ist.