Gesundheitswesen 2000; 62(2): 59-63
DOI: 10.1055/s-2000-10413
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Werden Kinder im Rahmen der Begutachtung zur Bestimmung von Pflegebedürftigkeit richtig eingestuft?

S. Lange, M. Albrecht, J. Dammann, S. Saleem, U. Wessel
  • FH Osnabrück
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Zusammenfassung

In dem vorliegenden Pilotprojekt wurden die in den Begutachtungsrichtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen (BRi) zur Bestimmung von Pflegebedürftigkeit bei Kindern vorgegebenen Altersangaben zum selbstständigen Beherrschen der in § 14 SGB XI genannten Verrichtungen des täglichen Lebens untersucht. Die Altersangaben für gesunde, normal entwickelte Kinder dienen bei der Beurteilung kranker Kinder als Vergleichsmaßstab und haben maßgebliche Bedeutung für die Anerkennung von Pflegebedürftigkeit. Nur bei einem Kind, welches in dem für eine bestimmte Verrichtung angegebenen Alter noch nicht in der Lage ist, diese zu beherrschen, kann Hilfebedarf in der jeweiligen Verrichtung anerkannt werden. Das Projekt gliederte sich in zwei Abschnitte:

  1. Vergleich der Altersangaben in den BRi zu den einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens für gesunde und normal entwickelte Kinder im Alter von 1-12 Jahren mit Altersangaben der Fachliteratur.

  2. Vergleich der Altersangaben aus den BRi zu den einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens für gesunde und normal entwickelte Kinder im Alter von 1-12 Jahren mit denen einer retrospektiven Befragung der gleichen Zielgruppe.

Im ersten Abschnitt des Pilotprojektes wurde eine Literaturanalyse zum Thema, die den deutschsprachigen Bestand an Fachbüchern umfasste, durchgeführt. Es wurden dabei Altersangaben für Kinder gesucht, die den Verrichtungen des täglichen Lebens nach SGB XI zuzuordnen waren. Anschließend wurden diese mit den Altersangaben der BRi verglichen.

Im zweiten Abschnitt des Projektes wurden 81 Mütter und Väter gesunder, normal entwickelter Kinder im Alter von 1 bis 12 Jahren mittels eines Fragebogens befragt. Sie sollten retrospektiv einschätzen, ab welchem Alter ihre Kinder die einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens selbstständig beherrschten.

Der Vergleich der Altersangaben der BRi mit den Altersangaben der Literaturanalyse ergab nur in einer Verrichtung eine Übereinstimmung. Bei allen anderen lagen die Altersangaben der BRi über den Altersangaben der Fachliteratur. Auch beim Vergleich der Altersangaben der BRi mit den Altersangaben der Fragebogenerhebung lagen die der BRi über denen aus der Fragebogenerhebung.

Die Ergebnisse der Literaturanalyse und der Fragebogenerhebung legen nahe, dass die Altersangaben der BRi zum selbstständigen Beherrschen der Verrichtungen des täglichen Lebens nicht der altersgemäßen Entwicklung gesunder, normal entwickelter Kinder im Alter von 1-12 Jahren entsprechen. Das Fazit des vorliegenden Pilotprojektes besteht darin, dass Zweifel an einer bedarfsgerechten Beurteilung von pflegebedürftigen Kindern als gerechtfertigt erscheinen. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenn die Daten erneut in einer repräsentativen, prospektiven Studie überprüft werden würden.

Are Children Correctly Classified in Expertises Concerning Their Need for Care?

This project deals with assessment directives issued by the leading statutory care insurance companies to define the need for care of children at certain ages in coping with the activities of daily life specified by the German Social Legislation.

The ages in question relate to healthy, normally developed children. They are used as a measure of comparison for the assessment of diseased children. Besides, they have a decisive significance in defining the need for care. Only if a child is not able to perform a certain activity, although it is meant to be able to do so at that age, can we define the need for help and assistance, i.e. care.

The project is divided into two sections.

  1. Comparison of age mentioned in the assessment directives for each of the daily life activities of healthy and normally developed children aged 1 to 12 years with the age mentioned in technical literature.

  2. Comparison of age mentioned in the assessment directives for each ot the daily life activities of healthy and normally developed children at the age of 1 to 12 years with those mentioned in retrospective interviews with the same group of children.

In the first part of the project, an analysis of the literature dealing with the subject was done. The literature included the stock of technical literature in the German language. Studying the literature, ages for children could be isolated, that could be classed with the activities of daily life mentioned in the German Social Code. These ages were compared with those in the assessment directives.

In a second part of the project, 81 mothers and fathers of healthy, normally developed children aged 1 to 12 years were asked via a questionnaire. They were asked to estimate retrospectively from what age on their child had been able to perform certain activities of daily life without any help.

The comparison of ages mentioned in the assessment directives with those of the analysis of literature conformed only regarding daily life activity. Regarding the other activities of daily life the age for children was set higher in the assessment directives than in the literature. Comparing the age of children in the assessment directives with the results of the questionnaires the age was also set higher in the directives than shown by the results of the questionnaires.

The results of the literature analysis and the inquiry by questionnaires show that the ages mentioned in the assessment directives for an independent performance of daily life activities do not correspond to the development according to the age of healthy normally developed children aged 1 to 12 years. As a result of this project it seems to be justified to be doubtful about an adequate assessment of children who are in the need of care. Due to this reason it would be desirable to re-examine the data of the assessment directives by means of a new representative prospective study.

Literatur

  • 1 Begutachtungsrichtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen vom 21.3.1997. 
  • 2 Gesell A. Säugling und Kleinkind in der Kultur der Gegenwart. Übers. von Ilse Bargmann-Heckenbach Bad Nauheim; Christian Verlag 1965 5. Auflage. Gesell A. Das Kind von fünf bis zehn. Übers. von Herbert A. Frenzel Bad Nauheim; Christian Verlag 1964 5. Auflage
  • 3 Hurlock EB. Die Entwicklung des Kindes. Beltz Verlag Weinheim, Berlin, Basel, Wien; 1972 3. Auflage
  • 4 Griffiths R. Entwicklungsskalen (GES) zur Beurteilung der Entwicklung in den beiden ersten Lebensjahren. Übers. von Ingeborg Brandt Weinheim/Basel; Beltz Verlag 1983
  • 5 Frankenburg WK, Dodds JB. Denver Developmental Screening Test. In: Rennen-Allhoff B, Allhoff Entwicklungstests für das Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo; Springer Verlag 1987
  • 6 Holle B. Die motorische und perzeptuelle Entwicklung des Kindes. Weinheim; Psychologie Verlags Union 1996 4., neu ausgestattete Auflage
  • 7 Kiphard EJ. Probleme der sensomotorischen Entwicklungsdiagnostik im Kleinkind- und Vorschulalter. In: Müller HJ, Decker R., Schilling F. Motorik im Vorschulalter; Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. Band 1 Schorndorf; Karl Hofmann Verlag 1975
  • 8 Straßburg HM, Dachender W, Kreß W. Entwicklungsstörungen bei Kindern. Lübeck, Stuttgart, Jena, Ulm; Gustav Fischer Verlag 1997
  • 9 Michaelis R, Niemann G. Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. Stuttgart; Hippokrates Verlag GmbH 1995

Saskia Lange

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