Schlüsselwörter
Ayurveda - Allergie - Agni-Schwäche - Pancakarma - Immunsystem
Key words
Ayurveda - Allergy - Weakness of Agni - Pancakarma - Immunesystem
Abb. 1 (© anakondasp/Adobe Stock)
Als der österreichische Kinderarzt Clemens von Pirquet (1874–1929) vor mehr als hundert
Jahren den Begriff Allergie einführte, verstand er darunter verschiedene ungewöhnliche
Reaktionsarten des menschlichen Organismus [6]. Im Zuge der rasanten Entwicklung der Immunologie in den vergangenen hundert Jahren
hat sich das medizinische Verständnis für Allergien präzisiert und differenziert.
Heutzutage verstehen wir darunter allgemein formuliert eine unangemessene Überreaktion
des Immunsystems auf einen äußeren Stoff (Allergen), der im Allgemeinen eine solche
Reaktion nicht auslöst.
Es liegt auf der Hand, dass ein modern definierter Krankheitsbegriff sich nicht in
direkter Entsprechung in einer traditionellen medizinischen Wissenschaft wie dem Āyurveda
wiederfindet. Da man aber andererseits in der klinischen Praxis des Āyurveda in Deutschland
immer wieder beobachtet, dass allergische Krankheitsbilder sich durch eine angemessene
āyurvedische Therapie gut lindern lassen, seien hier einige Überlegungen zur āyurvedischen
Betrachtung von Allergien vorgestellt, auf deren Grundlage das individuelle therapeutische
Vorgehen geplant wird.
Der Āyurveda ist eine systematische medizinische Wissenschaft, die in eigentümlicher
Kontinuität jahrhundertealtes Wissen stetig um neue Erkenntnisse ergänzt und erweitert.
Moderne āyurvedische Autoren (vgl. etwa [10] [12] [13]) verwenden für Allergie oft den neu geprägten Sanskrit-Begriff Anūrjatā (wörtlich
etwa: „Schwäche der Abwehrkraft“) und beschreiben damit hauptsächlich eine Fehlfunktion
des Immunsystems. Dieser Neologismus in der Fachterminologie des Āyurveda ist jedoch
sowohl in Bezug auf die Epistemologie des Āyurveda als auch im Hinblick auf die āyurvedische
Praxis unbefriedigend.
Ayurvedische Einordnung allergischer Erkrankungen
Ayurvedische Einordnung allergischer Erkrankungen
Für die therapeutische Praxis und auch aus theoretischer āyurvedischer Sicht ist es
sinnvoller, zunächst von der allgemeinen Symptomatik auszugehen und dann den Versuch
zu unternehmen diese āyurvedisch einzuordnen.
Individuelle Unzuträglichkeiten und Zuträglichkeiten
Das Phänomen, dass manche Menschen auf alltäglich anzutreffende Stoffe mit einer Über-
oder Fehlreaktion des Organismus antworten, ist in der traditionellen āyurvedischen
Krankheitslehre durchaus bekannt. Gemeinhin erklärt man diese Symptomatik so, dass
das spezifische – aus heutiger Sicht sogenannte – Allergen für den jeweiligen Menschen
„unzuträglich“, (Sanskrit: asātmya), ist. Das Phänomen der individuellen „Unzuträglichkeit“
(asātmyatā) ebenso wie das Gegenteil, nämlich die sogenannte individuelle „Zuträglichkeit“
(sātmyatā) werden im Āyurveda differenziert beschrieben und klassifiziert. Selbstverständlich
wird man nicht alle Formen der so beschriebenen Asātmyatā aus moderner Sicht als allergische
Reaktionen verstehen, umgekehrt betrachtet kann man aber viele heute als allergisch
bezeichnete Reaktionen aus āyurvedischer Sicht unter diesem Begriff subsumieren.
Unzuträgliche Nahrungsmittel
Eine weitere Beobachtung aus der klassischen āyurvedischen Krankheitslehre stützt
ein solches Verständnis von Asātmyatā: In der traditionellen āyurvedischen Krankheitslehre
[7] wird nämlich in einer klassischen Beschreibung der sogenannten Visarpa-Erkrankung
auch der Genuss von unzuträglichen Nahrungsmitteln als ätiologischer Faktor genannt.
Nun ähnelt Visarpa nach seiner klassischen Beschreibung sehr stark dem modernen Krankheitsbild
der Urtikaria, die unter anderem ja auch Symptom einer Allergie vom Soforttyp sein
kann. Dieser direkte Bezug zwischen āyurvedischer „Unzuträglichkeit“ und einer aus
moderner Sicht allergisch bedingten Erkrankung, zeigt, dass es offensichtlich durchaus
sinnvoll sein kann, allergene Reize als asātmya zu beschreiben.
Agni-Schwäche
Ein weiterer Aspekt zur āyurvedischen Einordnung von Allergien ergibt sich aus dem
traditionell beschriebenen Phänomen, dass manche Menschen auf den Genuss von frischer
Milch mit Durchfall reagieren. Diese Symptomatik wird im Āyurveda so erklärt, dass
eine Schwäche des sogenannten Agni besteht. Mit Agni bezeichnet man in diesem Zusammenhang
die „Verdauungskraft“ des Menschen im weitesten Sinne. Ein geschwächter Agni kann
nach āyurvedischer Anschauung dazu führen, dass sich „unverdaute Stoffwechselprodukte“
(Āma) im Organismus ansammeln. Unter den Symptomen einer solchen Belastung mit „unverdauten
Stoffwechselprodukten“ und dann unter anderem auch vermehrter Schleimsekretion findet
sich etwa auch eine Symptomatik, die wir heutzutage als allergische Rhinitis verstehen
können. Insofern kann man manche allergischen Reaktionen, insbesondere den sogenannten
Heuschnupfen auch gut als Symptomatik einer Agni-Schwäche betrachten. Aber hier, wie
schon in Bezug auf das Konzept der Unzuträglichkeit, gilt, dass Begriff und Konzept
der „Stoffwechselkraft“ (Agni) im Āyurveda weiter gefasst sind als bei der Erklärung
allergischer Reaktionen notwendig. Viele allergische Reaktionen gehen also mit einer
Agni-Schwäche einher, aber eine Agni-Schwäche ist nicht nur Ursache für allergische
Reaktionen.
Individuelle Faktoren
Darüber hinaus wird die jeweils individuelle klinische Ausprägung allergischer Reaktionen
nach āyurvedischer Auffassung durch eine Vielzahl von individuellen Faktoren beeinflusst.
Zuallererst ist hier die Grundkonstitution (Prakṛti) eines Menschen zu nennen [4]. Diese Grundkonstitution eines Menschen, die zwar angeboren ist, deren Merkmale
sich aber erst im Laufe des Lebens ausprägen, bestimmt individuelle Krankheitsdiathesen,
aber auch die individuelle Krankheitsreaktion. So könnte man z. B. allgemein formulieren,
dass Menschen mit vāta-dominierter Konstitution bei einer Allergie eher zu allergischer
Rhinitis neigen, Menschen mit pitta-dominierter Konstitution eher zur Konjunktivitis
und Menschen mit kapha-bedingter Konstitution eher zu Ödembildung. Selbstverständlich
sind hier alle möglichen Mischformen möglich. Zudem sind nach āyurvedischer Anschauung
Körper und Psyche stets so eng miteinander verbunden, dass eine stetige wechselseitige
Beeinflussung stattfindet. Das bedeutet, dass allergische Reaktionen des Körpers stets
auch die Psyche affizieren und umgekehrt, die psychische Verfassung auch die Ausprägung
von allergischen Reaktionen beeinflusst (für eine diesbezügliche Beobachtung aus moderner
Sicht vgl. [15]).
Bei der āyurvedischen Diagnosestellung sind deshalb über die genaue Einschätzung der
individuellen Krankheitserscheinungen und des Krankheitsverlaufs hinaus stets auch
die individuelle Konstitution und die psychische Verfassung zu betrachten [4]. In der klinischen Praxis des Āyurveda in Deutschland zeigt sich, dass eine Behandlung,
die auf dieser Grundlage und insbesondere auch unter Berücksichtigung von „Stoffwechselkraft“
(Agni) und „Zuträglichkeit“ (Sātmyatā) erfolgt, häufig zu einer signifikanten Linderung
allergischer Beschwerden führt.
Ayurvedische Therapie
Für die āyurvedische Behandlung allergischer Erkrankungen muss man zunächst bedenken,
dass dem Āyurveda ein umfassendes Verständnis von Therapie zugrunde liegt. Nicht nur
Arzneimittel und intensive Behandlungsverfahren wie die Pañcakarma-Therapie machen
die Behandlung einer Krankheit aus, sondern die Therapie beginnt mit dezidierten Empfehlungen
für Ernährung und allgemeine Lebensführung. In einer alten Sentenz [7] wird der Arzt zudem dazu angehalten, neben krankheitsbesänftigenden und ausleitenden
Therapien zuallererst die auslösende Ursache einer Krankheit auszuschalten.
Im Kontext allergischer Erkrankungen wäre hier also zunächst eine Allergenkarenz zu
empfehlen, soweit dies praktisch möglich ist. Auf der Grundlage des oben skizzierten
āyurvedischen Verständnisses von allergischen Erkrankungen ist dann, falls notwendig,
eine Stärkung der Verdauungskraft (Agni) ein wichtiges therapeutisches Ziel. Zu diesem
Zweck gibt es zunächst ausführliche Ernährungsempfehlungen. Dabei gilt der Grundsatz,
dass die Nahrung für den Menschen gut und leicht verdaulich sein muss. Durch zu schweres
Essen, durch Essen zu spät am Abend, in schlechter Stimmung oder ohne dass man Hunger
hat wird die Verdauungskraft oft überfordert und es entstehen Symptome einer Agni-Schwäche.
Auch regelmäßige körperliche Bewegung hilft, die Verdauungskraft zu stärken, ebenso
wie eine ausgeglichene Gemütslage. Deshalb sind sowohl der Rat zu regelmäßiger Bewegung
je nach individueller Belastbarkeit als auch die Förderung einer ausgeglichenen Gemütslage
aus āyurvedischer Sicht essenzielle Bestandteile der Empfehlungen für Patienten, die
unter Allergien leiden.
Bei all diesen Empfehlungen gilt aber zudem noch, dass sie stets auf das Individuum
mit seiner einzigartigen Konstitution zugeschnitten werden müssen. Ein solches therapeutisches
Vorgehen, welches die individuelle Konstitution berücksichtigt, scheint gerade auch
bei allergischen Erkrankungen sinnvoll und erfolgversprechend zu sein [8]. Im nächsten Schritt können dann auch Gewürze und pflanzliche Arzneien eingesetzt
werden, um den Agni zu stärken. Gerade im Zusammenhang mit allergischen Erkrankungen
muss man allerdings immer bedenken, dass jedes noch so harmlose Kraut oder Gewürz
potenziell allergen wirken kann. Selbst der im Āyurveda praktisch universal eingesetzte
Ingwer kann wohl, im Übermaß genossen, unerwünschte immunologische Phänomene hervorrufen,
wie eine kürzlich publizierte Kasuistik nahelegt [2]. Im Übrigen ist aber gerade Ingwer eine Arznei, die nach āyurvedischer Anschauung
die Verdauungskraft stärkt, ebenso wie z. B. Knoblauch und schwarzer Pfeffer in rechtem
Maße verwendet werden.
Spezifische allergische Erkrankungen müssen dann allerdings nach ihrer systematischen
Klassifikation (ob etwa Haut- oder Atemwegserkrankungen) behandelt werden (für allergische
Atemwegserkrankungen s. z. B. [5]). Die klinische Erfahrung mit Āyurveda in Deutschland zeigt zudem, dass die fachgerechte,
individuell geplante Durchführung einer Pañcakarma-Therapie [3] bei der großen Mehrheit der Patienten eine deutliche Linderung der allergischen
Symptomatik bewirkt. Das Therapiekonzept des Pañcakarma umfasst sowohl ausleitende
Therapieverfahren (z. B. einen Abführtag) als auch spezifische therapeutische Maßnahmen
zur Regulation und Stärkung des Organismus (z. B. Darmeinläufe aus Ölen oder Kräuterabkochungen).
Ebenso gehören verschiedenartige Ölmassagen zu Pañcakarma, die außerdem beruhigend
und stärkend auf Psyche und Körper wirken. Damit dient Pañcakarma ebenso wie andere
therapeutische Ansätze des Āyurveda primär dem Ziel, dass der Organismus sich wieder
selbst reguliert und nicht durch Überreaktionen des Immunsystems den Menschen krank
sein lässt.