Dass die Halswirbelsäule tatsächlich Kopfschmerzen hervorrufen, verstärken oder verlängern kann, ist relativ unumstritten: Es gibt einen Einfluss der Halswirbelsäule auf Kopfschmerzen. Die anatomische Grundlage hierfür ist die so genannte trigemino-zervikale Konvergenz, also die räumliche Nähe von Afferenzen aus dem trigeminalen und dem zervikalen System im Bereich des trigeminalen Nucleus. Die enge Nachbarschaft beider Systeme kann dazu führen, dass Informationen aus dem trigeminalen und dem zervikalen System vom Gehirn fehllokalisiert bzw. fehlinterpretiert werden [6], [7], [11], [12], [20].
Zentrale Mechanismen
Tatsächlich scheint die Prävalenz von zervikogenen Kopfschmerzen in der Bevölkerung, also Kopfschmerzen, bei denen die Halswirbelsäule die Ursache ist, nur etwa 0,4 – 2,5% auszumachen [21]. Migräne ist eine neurologische Erkrankung und mit ca. 16 – 20% weitaus häufiger [40]. Die Fachwelt ist sich einig, dass v. a. zentrale Mechanismen – im Hirnstamm und/oder im Hypothalamus – eine entscheidende Rolle für das Auftreten der Attacken haben, während das trigeminale System für die Symptome verantwortlich ist [1], [38]. Die früher gängige Meinung, dass es sich bei der Migräne um eine Erkrankung der Gefäße handelt, ist mittlerweile widerlegt, auch wenn die Gefäße am Krankheitsbild beteiligt sind [30].
Denkfehler Die hohe Prävalenz von Nackenschmerzen bei Migräne verleitet zu Verwechslungen der sekundären Kopfschmerzart „zervikogener Kopfschmerz“ mit der primären Kopfschmerzart „Migräne“. Dies geschieht allzu leicht dann, wenn nach den Kriterien von Sjaastad untersucht wird. Sjaastads Kriterien lassen bei der Diagnose zervikogener Kopfschmerzen auch assoziierte Symptome wie z. B. Übelkeit zu. Um solche Irrtümer zu vermeiden, greifen neurologische Kopfschmerzexperten zu den aktuellen Diagnosekriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (ICHD-III der International Headache Society, IHS).
Allodynie Warum leiden Migränepatienten so oft unter Nackenschmerzen? Manche Autoren verweisen auf eine generell erhöhte Empfindlichkeit von Migränikern. Gemessen wurde diese Hypersensitivität u. a. anhand von niedrigeren Druckschmerz-Schwellen [3]. Andere erkennen in diesem Phänomen eine Form der Allodynie, die wahrscheinlich nur unmittelbar vor und während der Attacken auftritt [20]. Dies würde bedeuten, dass vor oder während einer Schmerzattacke eine ansonsten indolente Spannung der Nackenmuskeln als schmerzhaft interpretiert wird. Zwischen den Attacken müssten Migränepatienten somit komplett „normal“, also nicht signifikant anders als Nicht-Migräniker sein. Einige Untersuchungen scheinen dies zu bestätigen [2], [26], während andere Studien von einer schlechteren Haltung [15], einer vermehrten Anzahl von Triggerpunkten [8], [14], [41] oder von Bewegungseinschränkungen [8], [41] im Vergleich mit Nicht-Migränikern berichten.
In einer bisher unveröffentlichten Literaturübersicht wurden ca. 25 Studien identifiziert, in denen eine Migränepopulation mittels eines körperlichen Tests untersucht wurde. Leider waren die Fallzahlen der meisten Studien sehr gering, die Diagnosekriterien uneinheitlich, die Verblindung der Untersucher nicht immer gewährleistet, so dass am Ende unklar bleibt, wie ein Patient mit Kopfschmerzen klinisch untersucht werden sollte.
11 Tests für Kopfschmerzpatienten
11 Tests für Kopfschmerzpatienten
Auf Grund dieser Unsicherheit wurde im Jahre 2016 eine Initiative gestartet, deren Ziel ein internationaler Konsens für die körperliche Untersuchung von Kopfschmerzpatienten war. An der Delphi-Studie nahmen 17 Experten teil, bewerteten Tests und schlugen andere Untersuchungsmethoden vor. Schlussendlich einigte sich das Gremium auf elf Tests, die als Minimaluntersuchung für Kopfschmerzpatienten angesehen werden können [32] ([Abb. 1]).
Merke
Minimaluntersuchung für Kopfschmerzpatienten
Die Minimaluntersuchung umfasst 11 Tests:
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aktives Bewegungsausmaß der HWS
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Haltung, v.a. Kopftranslation nach ventral
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BWS-Screening (aktive und passive Tests)
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oberer zervikaler Quadrant, kombinierte Bewegung
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kranio-zervikaler Flexionstest
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manuelle Gelenktestung der oberen HWS
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Reproduktion & Resolution
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Triggerpunkt-Palpation in Nacken und Gesicht
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Überprüfung der Muskelkraft des Schultergürtels
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passive physiologische Bewegungen der HWS
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Flexions-Rotations-Test
Abb. 1
Abb. 1 11 Tests für Kopfschmerzpatienten.
a Aktives Bewegungsausmaß der HWS, gemessen mit einem CROM.
b Kopftranslation nach ventral, gemessen mit einem CROM.
c BWS-Screening.
d Oberer zervikaler Quadrant.
e Kranio-zervikaler Flexions-Test.
f Manuelle Gelenktestung der oberen HWS.
g Reproduktion & Resolution (gehaltene Technik).
h Triggerpunkt-Palpation in Nacken und Gesicht.
i Überprüfung der Muskelkraft des Schultergürtels.
j Passive physiologische Bewegungen der HWS (oszillierende Technik).
k Flexions-Rotations-Test.(Quelle: K. Lüdtke (nachgestellte Situation))
Ziel der Kommission war die einheitliche Untersuchung auch unterschiedlicher Kopfschmerzarten. Ansonsten bestünde die Gefahr einer Fehldiagnose, oder ein Patient leidet unter mehr als einer Kopfschmerzart. In diesem Kontext berichten mehrere Autoren von koexistierenden Kopfschmerzarten – sei es eine Kombination aus Migräne und zervikogenem Kopfschmerz [39] oder aus Migräne und Spannungskopfschmerz [9], [43].
Praxis-Tipp
Bei der Befundung von Migränepatienten dürfen andere Tests nicht vernachlässigt werden, wenn die klinische Situation es erfordert.
Bei Kopfschmerz in Kombination mit Kiefersymptomen muss das Temporomandibular-Gelenk samt dazugehöriger Muskulatur mituntersucht werden [17].
Bei Schwindel ist die exakte neurologische/neurodynamische Untersuchung samt Gefäß- und Ligament-Tests für die obere Halswirbelsäule obligat.
Haben Experten immer Recht?
Haben Experten immer Recht?
Der Delphi-Survey wiederspiegelt die Meinung internationaler Experten. Aber sind die 11 Tests nützlich für die praktische Untersuchung von Kopfschmerzpatienten? Dies wurde im Rahmen einer Studie hinterfragt. Im Fokus standen zunächst Migräniker.
Studienkriterien Für die Studie wurden 138 Patienten mit hochfrequent episodischer oder chronischer Migräne sowie 73 Probanden ohne Kopfschmerzen untersucht. Für den Zeitpunkt der Untersuchung entscheidend war, dass alle Probanden am Untersuchungs-Tag keine Kopfschmerzen hatten (chronische Migräne) und dass Personen mit episodischer Migräne überdies in den 48 Stunden vor der Untersuchung kopfschmerzfrei waren. Diese Kriterien waren wichtig, um nicht eine vermeintliche Allodynie vor oder während einer Migräneattacke zu untersuchen. Stattdessen galt es, Dysfunktionen zu identifizieren, die auch in der schmerzfreien Zeit vorhanden sind. Gäbe es solche Dysfunktionen, könnten diese mittels Physiotherapie positiv beeinflusst werden.
Studienergebnis Die Analyse der Untersuchungen offenbarte, dass sich Patienten mit Migräne tatsächlich in sechs der elf Tests – es handelt sich um folgende Untersuchungen: Triggerpunkt-Palpation in Nacken und Gesicht, Flexions-Rotations-Test, BWS-Screening, manuelle Gelenktestung der oberen HWS, kranio-zervikaler Flexions-Test sowie Reproduktion & Resolution – signifikant von Personen ohne Kopfschmerzen unterscheiden [35]. Dabei zeigten rund 93% der Migräniker mindestens drei verschiedene Dysfunktionen.
Angesichts der Testergebnisse ist eine Allodynie-Erklärung nicht ausreichend für die Begründung der typischen Nackenschmerzen bei Migräne. Stattdessen scheint es, dass die Migräne mit muskuloskeletalen Dysfunktionen korrespondiert – insbesondere in Form von Druckdolenzen und Triggerpunkten in den Nackenmuskeln sowie Bewegungseinschränkungen der oberen Halswirbelsäule.
Folgestudie Besonders die Ergebnisse der manuellen HWS-Testung waren überraschend: Es wurden derart viele positive Befunde apparent, dass in einer Folgestudie mit 40 zusätzlichen Teilnehmern nur der Respons auf die manuelle Untersuchung mit der normalen oszillierenden Technik sowie einer gehaltenen Technik ausgewertet wurde ([Abb. 1 g] und [j]). Es zeigte sich, dass 80% der Migränepatienten empfindlich auf lokalen Druck reagierten und dass dabei mehr als die Hälfte einen ausstrahlenden Schmerz in die Migräneschmerz-Region verspürte [34].
Trotz dessen bleibt bei dieser Untersuchung unklar, welche Struktur überhaupt schmerzempfindlich reagiert: Bei der Palpation von Gelenken kommt es auch zur Stimulation von Haut, Gefäßen, Muskeln, Bindegewebe, Faszien und Nervenfasern. Gleichzeitig ist ungewiss, warum Personen mit Migräne so deutliche Auffälligkeiten im Vergleich zu kopfschmerzfreien Personen aufweisen. Beeinflusst nun die Halswirbelsäule die Migräne; oder ist es die Migräne, die durch rezidivierende Muskelanspannungen die Empfindlichkeit und Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule verändert?
Evidenzbasierte Migräne-Therapie
Evidenzbasierte Migräne-Therapie
Der Einfluss einer HWS-Dysfunktion auf Migräne lässt sich also nur schwer abschätzen. Um diese Frage zu klären, kann die spezifische Therapie der in den elf Tests befundeten Dysfunktionen dienlich sein. Falls also eine HWS-Behandlung die Migräne-Symptomatik in jeglicher Form – Anzahl der Kopfschmerztage pro Monat, Intensität und Dauer der Kopfschmerz-Attacken – positiv beeinflusst, so würde dies die Relevanz der Halswirbelsäule für die Migräne bestätigen.
Diesbezügliche randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) existieren nicht. Die dünne Evidenzlage spiegelt sich in nationalen und internationalen Migräne-Therapie-Leitlinien, die vorrangig Medikamente empfehlen. Bei den Arzneimitteln handelt es sich um Triptane für die Behandlung akuter Attacken; für chronische Migränepatienten werden Präventionsmedikamente gutgeheißen, um die Frequenz der Schmerz-Attacken zu reduzieren. Alternativen gibt es für die Betroffenen kaum – wenn überhaupt werden Entspannungstechniken, Biofeedback oder aerobes Training empfohlen [5].
Die Rolle der Physiotherapie
Eine aktuelle Analyse der Effektivität aktiver physiotherapeutischer Interventionen führt vor Augen, dass – mit Ausnahme einer einzigen Studie, die ein multimodales Programm untersuchte – bei Migränepatienten bislang lediglich die Effektivität aeroben Trainings evaluiert wurde [33]. Bei Spannungskopfschmerzen wurden physiotherapeutische Übungen, Manuelle Therapie sowie auch Triggerpunkt-Behandlungen mit etwas Erfolg eingesetzt [13], [19]. Zervikogene Kopfschmerzen reagieren zuverlässig auf die Therapie von Triggerpunkten im Bereich der Nackenmuskulatur und auf die Manuelle Therapie der Halswirbelsäule [10], [22], [27].
De facto gibt es außer aerobem Training und Entspannungsverfahren keine evidenzbasierte physiotherapeutische Behandlung von Migräne. Eine wichtige Rolle, die auch in den Kompetenzbereich der Physiotherapie fällt, spielt die Edukation.
Migräne-Trigger Es scheint eine Reihe von Faktoren zu geben, welche die Migräne triggern. Insbesondere sind dies Stress, unregelmäßige Schlaf- und Essenszeiten sowie individuelle Faktoren. Im Allgemeinen sind potentielle Trigger-Faktoren bis dato noch nicht ausreichend untersucht. Möglich wäre, dass der Heißhunger auf Schokolade, Rotwein oder Käse bereits ein Teil der Migräne-Attacke ist und nicht – wie oftmals angenommen – diese Lebensmittel die Migräne auslösen. Dies würde erklären, warum bestimmte Lebensmittel manchmal zu Migräne führen und ansonsten völlig problemlos in größeren Mengen konsumiert werden können. Selbst der Einfluss von Wetterumschwüngen lässt sich wissenschaftlich nicht bestätigen, wenngleich Migräniker oft von diesem Phänomen berichten [25].
Aktivität statt Abhängigkeit Für die Physiotherapie ist es wichtig, da es sich bei der Migräne um eine chronische Erkrankung handelt, bei der Strategien des Selbstmanagements sinnvoller sind als jegliche Abhängigkeit von einem Therapeuten. Im Vordergrund sollen – entsprechend der Untersuchungsergebnisse aus den 11 Tests – aktive Behandlungselemente stehen. Wenn z. B. die Untersuchung der Brust- und Halswirbelsäule Steifigkeiten offenbart, können mobilisierende Übungen der entsprechenden Region Linderung verschaffen. Bei schlechter Skapula-Kontrolle oder bei auffälligem kranio-zervikalem Flexionstest empfehlen sich stabilisierende Übungen für Schultergürtel und Halswirbelsäule. Dehnungen oder andere Weichteiltechniken helfen bei aktiven Triggerpunkten.
Physiotherapie wird keine Migräne heilen, aber die hohe Prävalenz von Zeichen und Symptomen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule macht zumindest eine Reduktion der assoziierten Symptome denkbar. Wenn sich bewahrheitet, dass muskuloskeletale Dysfunktionen ein Migräne-Trigger sind, ist nach einer erfolgreichen Behandlung der Dysfunktion eine Reduktion der Kopfschmerztage pro Monat sehr wahrscheinlich.