Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2018; 78(01): 54-62
DOI: 10.1055/s-0043-123937
GebFra Science
Review/Übersicht
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Rolle von Indocyaningrün als Fluoreszenzfarbstoff in Kombination mit Nah-Infrarotlicht in der operativen Medizin zur Sentinellymphknoten-, Gefäß- und Lymphbahndarstellung – eine kritische Beurteilung der Möglichkeiten

Article in several languages: English | deutsch
Andreas Hackethal
1   Tagesklinik Altonaer Straße, Frauenklinik an der Elbe, Hamburg, Germany
,
Markus Hirschburger
2   Allgemeinchirurgie, Klinikum Worms gGmbH, Worms, Germany
,
Sven Oliver Eicker
3   Neurochirurgie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
,
Thomas Mücke
4   Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, St. Josefshospital, Krefeld-Uerdingen, Germany
,
Christoph Lindner
5   Gynäkologie und Geburtshilfe, Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg, Hamburg, Germany
,
Olaf Buchweitz
1   Tagesklinik Altonaer Straße, Frauenklinik an der Elbe, Hamburg, Germany
› Author Affiliations
Further Information

Correspondence/Korrespondenzadresse

Dr. Andreas Hackethal, MD, PhD
Tagesklinik Altonaer Straße
Altonaer Straße 59–61
20357 Hamburg
Oberbaumbrücke 1
20457 Hamburg
Germany   

Publication History

received 24 September 2017
revised 29 November 2017

accepted 30 November 2017

Publication Date:
22 January 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Moderne chirurgische Strategien zielen auf Reduktion von Trauma mit Nutzung funktioneller Darstellungsmethoden zur Verbesserung chirurgischer Ergebnisse. Die Relevanz von Indocyaningrün (ICG) als Fluoreszenzfarbstoff, zur Darstellung von Lymphknoten, Lymphbahnen, Gefäßen und Gewebegrenzen, wird in dieser Übersichtsarbeit interdisziplinär dargestellt und kritisch bewertet. Diese Arbeit basiert auf einer selektiven Literaturrecherche in PubMed, Scopus, Google Scholar und den klinischen Erfahrungen der Autoren. Aufgrund der einfachen, strahlungsfreien und komplikationsarmen Anwendung hat sich ICG in den letzten Jahren als eine wichtige klinische Indikatorsubstanz etabliert. In der onkologischen Chirurgie wird ICG zur Markierung von Sentinellymphknoten intensiv und mit vielversprechenden Ergebnissen genutzt und zeigt zum Teil verbesserte Detektionsraten im Vergleich mit den etablierten Verfahren. Durch Visualisierung und Quantifizierung von Gewebedurchblutungen kann ICG zu einer Verringerung von Anastomoseinsuffizienzen und Transplantatnekrosen führen. Die Darstellung von Organgrenzen, Grenzen von Lappenplastiken sowie deren postoperativer Vaskularisierung sind auch Gegenstand der wissenschaftlichen Evaluation. Die Kombination des leicht anwendbaren Farbstoffs ICG mit den technischen Möglichkeiten der intraoperativen und interventionellen Visualisierung hat das Potenzial, neue funktionelle Darstellungen zu ermöglichen und die bisher etablierten operativen Techniken, insbesondere die Sentineltechniken und Anastomosetechniken, zu erweitern und möglicherweise zukünftig abzulösen.


Einleitung

Die moderne operative Medizin verfolgt eine Traumareduktion bei gleich guten bzw. verbesserten Ergebnissen und nutzt zunehmend funktionelle Markierungsverfahren.

Indocyaningrün (ICG) unterstützt innovative chirurgische Techniken, beispielsweise durch Anfärbung von Organen und Tumorgewebe, durch intraoperative Darstellung der Vaskularisierung von Lappenplastiken oder Darmanastomosen und durch die Darstellung von Sentinellymphknoten [1], [2], [3], [4], [5], [6], [7], [8].

Die medizinische Nutzung von ICG in der Medizin wurde seit den 1950er-Jahren beschrieben [9]. Vor allem durch die aktuelle Entwicklung videoendoskopischer Techniken haben sich die medizinischen Anwendungsgebiete von ICG in unterschiedlichen Fachbereichen ausgeweitet. Das wissenschaftliche und klinische Interesse zur Nutzung von Indocyaningrün (ICG) hat in jüngster Zeit um ein Vielfaches zugenommen, in PubMed sind allein 1221 Publikationen von Januar 2016 bis August 2017 gelistet ([Abb. 1]). Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten von ICG und den vielversprechenden Ergebnissen soll in dieser Übersichtsarbeit der aktuelle Stand dieser Technik in verschiedenen operativen Disziplinen dargestellt und kritisch bewertet werden.

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Abb. 1 Publikationsanzahl „Indocyanine Green“ in PubMed in jeweiligen Zeiträumen.

Charakterisierung, Verstoffwechselung

ICG ist ein Tricarbocyanin-Farbstoff, der im Nah-Infrarotlicht bei 806-nm-Licht fluoresziert, d. h. nach Anregung Licht abgibt. ICG ist im hohen Maße wasserlöslich und bindet an β-Lipoproteine, insbesondere an Albumin. Aufgrund des hohen Eiweißgehalts der Lymphflüssigkeit reichert sich ICG in Lymphbahnen und Lymphknoten an. ICG-gefärbte Lymphknoten werden durch Lichtanregung nach 5 Minuten erkennbar und bleiben 60 Minuten markiert [10]. Die intravasale Halbwertszeit von ICG liegt bei 3 – 4 Minuten und die Elimination erfolgt über die Leber [11]. Zur intravenösen Anwendung ist ICG seit 1956 in den USA zugelassen. Die Injektion von ICG in Gewebe, wie es beispielsweise für eine onkologische Lymphknotendarstellung notwendig ist, befindet sich im Off-Label-Bereich.


Klinische Anwendung

ICG wird intraoperativ injiziert, ist dadurch logistisch leicht anwendbar und führt kaum zur OP-Zeitverlängerung [12]. Zur gynäkologischen Sentineldarstellung wird ICG in die Cervix uteri, seltener direkt in das Endometrium injiziert [13], [14]. Für die Fluoreszenzangiografie und Videoangiografie sowie die Darstellung von Lebergewebe sind intravenöse Applikationen des ICG nötig [15], [16], [17]. Die fluoreszierenden Eigenschaften von ICG können mittels Nah-Infrarotlicht dargestellt werden. Verschiedene Firmen bieten Nah-Infrarotlichtkameras zur offen-chirurgischen, mikroskopischen, laparoskopischen oder roboterunterstützten Darstellung von ICG an, die in einer Übersichtsarbeit verglichen wurden [18]. Moderne Bildverarbeitungsplattformen sind in der Lage, das normal sichtbare Operationsbild mit dem Fluoreszenzmodus im Nah-Infrarotbereich in Echtzeit zu kombinieren ([Abb. 2] und [3]). Darüber hinaus ist durch die farblich kodierte quantifizierte Darstellung von ICG eine Unterscheidung von zum Beispiel Lymphbahnen/Lymphknoten und aus dem Lymphsystem ausgetretenem ICG möglich ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Intraoperativer Screenshot einer ICG-Sentinelbiopsie im Bereich des rechten Beckens. a zeigt das HD-Weißlichtbild des Situs, b das Nah-Infrarotbild mit weißlich angefärbtem ICG-haltigen Gewebe. c zeigt das Kombinationsbild in HD mit Fluoreszenzgrün-Färbung. d zeigt die quantitative ICG-Darstellung des fluoreszenzhaltigen Gewebes, als Ausdruck eines Lymphknotens im Bereich der Fossa obturatoria.
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Abb. 3 Anwendungsbeispiele aus der Neurochirurgie. In a zeigt sich auf der kortikalen Oberfläche eine Flussverzögerung mit Minderdurchblutung (weißer Pfeil). Im maximalen Fluss zeigt sich dies besonders im farbkodierten Bild (b, blau dargestellte Areale). Exemplarisch ist in c die Möglichkeit der Messung von ROIs (Region of Interest) dargestellt. Je eine Arterie (grün), Vene (blau) und Kortex (rot) können ausgewählt werden. Ebenso könnten Infarktareale oder Tumorareale markiert werden. In d sind diese Regionen entsprechend quantitativ dargestellt. e ist die Aufsicht auf das Rückenmark bei einem Patienten mit spinaler arteriovenöser Fistel. Das suspekte Gefäß in der Weißlicht-Aufsicht (schwarzer Pfeil) füllt sich in der ICG-Videoangiografie entsprechend zu früh (f, weißer Pfeil) und kann als Fistelgefäß identifiziert werden.


Gynäkologie

Radikalität in der modernen Onkologie sollte nicht eine undifferenzierte maximale Gewebeentfernung und Traumatisierung beinhalten. Aus den klinisch-wissenschaftlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wurde die chirurgische Radikalität beispielsweise beim Mammakarzinom, bei gleichbleibender onkologischer Sicherheit, immer weiter reduziert [19]. Das Sentinelkonzept stellt heute das operative Standardverfahren dar und ist wissenschaftlich auf höchstem Evidenzniveau belegt [19], [20], [21]. Auch für Vulva- und Zervixkarzinome sowie für Endometriumkarzinome (USA) haben die Sentinelkonzepte den Weg in die Leitlinien gefunden und sind bei bestimmten Befundkonstellationen zu bevorzugen [22] – [24].

Das Sentinelkonzept

Die Rationale des Sentinelkonzepts liegt in der Beobachtung, dass, nach peritumoraler oder interstitieller Injektion eines Markierungsstoffes oder Tracers wie beispielsweise ICG oder 99mTc, dieser via Lymphbahnen zu den Lymphknoten transportiert wird. Die erst markierten Lymphknoten werden als sog. Wächter- oder Sentinellymphknoten bezeichnet. Tumorfreie Sentinellymphknoten sind auf der Basis zahlreicher Studien repräsentativ für die weiteren Lymphknoten des jeweiligen Lymphabflussgebietes, sodass auf eine radikale Lymphadenektomie verzichtet werden kann. Hierdurch kommt es zur signifikanten Reduzierung der OP-Zeit und des chirurgischen Traumas inklusive möglicher operativer und postoperativer Komplikationen, wie beispielsweise Lymphödemen oder Lymphzysten.

Während der axilläre Lymphabfluss des Mammakarzinoms fast ausschließlich einseitig erfolgt, ist dies bei Genitaltumoren durch mögliche uni- oder bilaterale, oberflächliche oder tiefe Streuung wesentlich komplexer [25].

Als Grenzwerte für die Sentinelbiopsietechnik beim Mammakarzinom gelten Detektionsraten über 90% und eine Falsch-Negativ-Rate, als Korrelat der onkologischen Sicherheit, die nicht über 5% liegen sollte [26]. Für das Zervixkarzinom liegen die Detektionsraten um 80%, wobei das bilaterale Auffinden von Sentinellymphknoten zwischen 50 und 61% liegt [27].

Interdisziplinär hat sich bisher die Nutzung von Technetium-Kolloid (99mTc) mit und ohne gleichzeitiger Blauanfärbung, welches zur Detektionsratenverbesserung genutzt werden kann, und einer intraoperativen Gammasonden-Detektierung etabliert [20], [28], [29], [30]. Alle Markierungstechniken bedürfen einer Lernerfahrung bei Injektion und Detektion [31], [32]. Bei der Einführung der Sentineldarstellung zum axillären Staging wurde eine Lernkurve von 50 negativen Seninellymphknoten beobachtet [33].


Mammakarzinom

Das Sentinelverfahren wird seit über 20 Jahren in der primären operativen Therapie des klinisch nodal-negativen Mammakarzinoms eingesetzt. Heutiger Standard ist das Radioisotopenverfahren mittels Technetium-Kolloid (99mTc). Hierfür ist die Kooperation der Gynäkologie mit einer Nuklearmedizin erforderlich. Die Markierung des Wächterlymphknotens mittels Tc erfolgt üblicherweise in einem 2-Tages-Protokoll mit einer Dosis von 100 – 200 MBq und wird präoperativ durch eine Lymphabflussszintigrafie überprüft. Letztere Untersuchung wird u. a. mit Strahlenschutzbestimmungen begründet, obgleich es Daten gibt, die diese Überprüfung als verzichtbar für die operative Detektion der Lymphknoten zeigen [33]. Das 2-Tages-Protokoll und die mit den nuklearmedizinischen Maßnahmen verbundene Logistik ist für die heutige klinische Versorgung von Brustkrebspatientinnen ein Hemmnis.

Bereits frühzeitig wurde die Nutzung von ICG zur axillären Sln-Biopsie (Sln: Sentinellymphknoten) untersucht [35]. Weitere Studien, die vor allem im asiatischen Raum durchgeführt wurden, ergaben, dass die Kombination von ICG und Blaufarbstoff sicher in der Anwendung und hoch sensitiv war. Im Vergleich beider Techniken zeigte ICG die höhere Detektionsrate [1], [36], [37], [38], [39]. Zwei aktuelle Publikationen ergaben für die axilläre Sln-Biopsie mit ICG Detektionsraten bis zu 100% [40], [41]. Auch in Deutschland wurde ICG beim Mammakarzinom untersucht und als valide, praktikabel sowie hinsichtlich der Ergebnisse der Tc-Technik als vergleichbar, jedoch als patientenfreundlicher eingestuft [42]. Die Anwendung von ICG vor einer Axillaoperation ist einfach: unmittelbar vor Operationsbeginn erfolgt die Injektion periareolär intradermal. Eine Detektion von Lymphknoten ist bereits nach wenigen Minuten möglich. Als optimale ICG-Konzentration werden 3 – 6 μg/ml angegeben [43]. Eine kosmetisch störende Hautverfärbung wie bei der Blaufarbstoff-Methodik tritt nicht auf. Aufwendige logistische und kostenintensive, z. B. strahlenschutzbezogene Maßnahmen sind entbehrlich. Die reinen Verbrauchskosten von ICG betragen weniger als ein Viertel der Tc-Technik, die zeitlichen und personellen Ressourcen nicht miteinberechnet.

In 2 Metaanalysen aus 2016 und 2017, die 19 bzw. 12 Studien mit ca. 2500 bzw. 1700 Patienten auswerteten, werden die Detektionsraten von ICG in der Axilla mit 93 – 100% angegeben; sie erweisen sich damit z. T. als der Technetium-Kolloid-Technik (± Blau) überlegen [1], [44].

Zusammenfassend gibt es eine umfangreiche Daten- und Evidenzlage, die zeigt, dass die ICG-Technik für das axilläre Staging beim Mammakarzinom sehr gut geeignet ist. Die Ressourcenersparnis im Vergleich zur Tc-Technik ist ein erheblicher Vorteil, der im Hinblick auf die absehbare Entwicklung der klinischen Versorgung der Brustkrebspatientinnen, bei sehr kurzer stationärer Liegezeit bzw. ambulantem Potenzial, für diese Methodik spricht.


Zerivx- und Endometriumkarzinom

Rusicto et al. beschrieben in einer Metaanalyse, dass die Verwendung von ICG zur Sentineldarstellung bei frühen Zervix- und Endometriumkarzinomen dem heutigen Standard von 99mTc und Blau gleichwertig sei [45]. Mehrere aktuellere Publikationen fanden signifikant bessere Gesamtdetektionsraten und bilaterale Detektionsraten bei der Verwendung von ICG im Vergleich zu herkömmlichen Markierungsverfahren ([Tab. 1]) [2], [46], [47].

Tab. 1 Ergebnisse der aktuellen Studie zur Sentinellymphknoten-Darstellung mit Blau, Technetium + Blau und Indocyaningrün bei Zervix- und Endometriumkarzinomen, die zeitlich nach der Metaanalyse von Ruscito et al. 2016 [45] veröffentlicht wurden (Eriksson [46], Beavis [47], Buda [2]). Die Daten der Metaanalyse von Lin [3] beim Endometriumkarzinom sind zusätzlich aufgeführt.

Publikation

Entität

Parameter

Blau

Technetium + Blau

Indocyaningrün

Eriksson et al. 2017 [46]

n = 472

Zervix- und Endometriumkarzinome

Detektionsrate

81%

95%

bilaterale Detektionsrate

54%

85%

Beavis et al. 2016 [47]

n = 30

Zervixkarzinom

Detektionsrate

100%

bilaterale Detektionsrate

87%

Buda et al. 2016 [2]

n = 144

Detektionsrate

95%

100%

bilaterale Detektionsrate

76,3%

98,5%

Lin et al. 2017 [3]

n = 2236

Endometriumkarzinom

Detektionsrate

76% (71 – 81%)

86% (82 – 90%)

93% (89 – 96%)

Sensitivität

90% (79 – 96%)

92% (84 – 96%)

87% (76 – 93%)

Jüngste Daten einer prospektiven, multizentrischen Kohortenstudie zum Vergleich von Sentinellymphknotenentfernung und kompletter Lymphadenektomie beim Endometriumkarzinom (FIRES Trial) ergeben eine hohe Sensitivität von 97,2% bei einem negativen Vorhersagewert von 99,6%, um akkurat Lymphknotenmetastasen eines Endometriumkarzinoms zu erkennen [48]. Rossi et al. schlussfolgern in dem viel beachteten Lancet-Oncology-Artikel, dass die Sentinellymphknotenbiopsie die diagnostische (Staging-)Lymphadenektomie sicher ersetzen kann [48].



Viszeralchirurgie

ICG wird in der Viszeralchirurgie zur objektiven Durchblutungsmessung bei kolorektalen Anastomosen eingesetzt. Weitere Anwendungsgebiete ergeben sich aus der Elimination von ICG über die Leber und Gallenwege. ICG wird zur Cholangiografie und Detektion subkapsulärer Lebertumore genutzt. Aufgrund biliärer Exkretionsstörungen reichert sich ICG bei hepatozellulären Karzinomen, aber auch bei nicht tumorösem Lebergewebe um Metastasen von Adenokarzinomen an.

Ein neues und noch experimentelles Anwendungsgebiet stellt die Detektion peritonealer Tumorherde kolorektaler Karzinome durch ICG dar. Neuere Studien zeigen, dass eine Detektion im Rahmen zytoreduktiver Eingriffe möglich ist und es in fast einem Drittel der Fälle zu einer Änderung des geplanten Vorgehens führte [49], [50].

ICG-Fluoreszenzangiografie bei kolorektalen Anastomosen

Eine Anastomoseninsuffizienz (AI) nach kolorektalen Resektionen stellt eine schwere Komplikation mit erheblicher Morbidität und Mortalität dar. Insuffizienzen treten in einer Häufigkeit zwischen 3 und 19% auf, wobei vor allem tiefe anteriore Rektumresektionen mit einer erhöhten Insuffizienzrate vergesellschaftet sind [51], [52]. Risikofaktoren für eine AI sind multifaktoriell, eine gestörte Durchblutung spielt aber eine zentrale Rolle [52], [53].

Zur intraoperativen Abschätzung der Durchblutung stehen oft nur subjektive, klinische Tests zur Verfügung. Die Farbe der Darmwand, die Peristaltik, der Puls der zuführenden arteriellen Arkade sowie die Blutung aus der Schleimhaut werden zum Abschätzen der Durchblutung genutzt [54]. Als objektive Durchblutungsmessung hat sich die ICG-Fluoreszenzangiografie als vielversprechendste Technologie herauskristalisiert. In mehreren Fallserien konnte gezeigt werden, dass in bis zu 19% der Fälle die geplante Absetzungsstelle des Darmes geändert wurde und die Anastomoseninsuffizienzrate reduziert werden konnte [55], [56], [57]. Eine prospektive, multizentrische Studie (PILLAR II) fand für die Fluoreszenzbildgebung in 8% eine Revision der geplanten Resektionshöhe und die Insuffizienzrate lag bei 1,4% [58]. In einer Übersichtsarbeit der publizierten klinischen Studien an insgesamt 916 Patienten fand sich für die Fluoreszenzgruppe ein AI-Risiko von 3,3% im Vergleich zu 8,5% in der Gruppe ohne ICG-Fluoreszenzmessung [59]. In einer weiteren Übersichtsarbeit fand sich in 11 von 16 Arbeiten eine Änderung des chirurgischen Prozederes durch die ICG-Fluoreszenz und eine Reduktion der AI-Rate um 4 bzw. 11%. In einer Arbeit fand sich keine Verbesserung der AI-Rate in der Fluoreszenzgruppe [60].

Zusammenfassend ist die ICG-Fluoreszenzangiografie in der kolorektalen Chirurgie praktikabel und sinnvoll, wenngleich kontrolliert randomisierte Studien ausstehen.


ICG in der hepatobiliären Chirurgie

ICG ist im Rahmen von Leberfunktionsuntersuchungen seit über 20 Jahren im Einsatz. Die Darstellung von Gewebsstrukturen ist jedoch erst in den letzten Jahren relevant geworden. 2009 wurde die erste Fluoreszenzcholangiografie beschrieben [61]. Im Weiteren wurde eine Anreicherung in hepatozellulären Karzinomen und um Adenokarzinomherde beschrieben [62], [63]. Weitere Fortschritte führten zu einer Visualisierung von Segmentgrenzen, um präzisere anatomische Resektionen durchführen zu können [16], [64], [65]. Nach Split-Lebertransplantationen wurden Gefäßrekonstruktionen anhand von ICG-Fluoreszenzangiografie evaluiert [66].

Im Rahmen zunehmender minimalinvasiver robotischer Operationen auch im Bereich der hepatobiliären Chirurgie wurden erste Serien laparoskopisch robotischer Cholezystektomien mit ICG-Fluoreszenzcholangiografie publiziert [67], [68]. In einer Untersuchung ergab sich ein Hinweis auf eine reduzierte Komplikations- und Konversionsrate im Vergleich zur laparoskopischen Resektion [68].

Die Anreicherung von ICG in hepatischen Herdbefunden könnte für minimalinvasive Leberresektionen hilfreich sein, bei denen eine Palpation der Befunde nicht möglich ist. Die Detektionstiefe liegt bei lediglich 5 – 10 mm und es wurden falsch positive wie negative Befunde beschrieben; ein abschließendes Urteil über den Nutzen der ICG-Fluoreszenzbildgebung kann hier noch nicht getroffen werden [16], [66].



Plastische Chirurgie

Intraoperative ICG-Angiografie

In der plastisch rekonstruktiven Chirurgie gibt es eine Vielzahl an Verfahren zum Monitoring der verwendeten Gewebetransplantate, die jedoch unterschiedliche Limitationen und Möglichkeiten aufweisen [69], [70]. Einen etablierten Standard neben der rein klinischen Untersuchung gibt es daher bisher nicht. Im Rahmen der ICG-Angiografie kann zwischen 2 verschiedenen Aspekten unterschieden werden. Zum einen kann durch die ICG-Angiografie eine valide Aussage über die Gefäßanastomose und deren Durchgängigkeit getroffen werden [71], [72], zum anderen kann aber auch eine Prädiktion bezüglich der Durchblutung des transplantierten Gewebetransplantats erfolgen [73], [74]. Während diese Technik bereits früh beschrieben wurde [63] aber zunächst keine relevante Einführung in den klinischen Alltag zur perioperativen Beurteilung der Durchblutung der Transplantate fand, wurde die objektive Beurteilung durch die Implementierung in das Operationsmikroskop und durch eine spezielle Software unterstützt [74], [75], [76]. Diese Interpretationsmöglichkeit basiert auf einer direkten quantitativen Real-Time-Flussmessung, welche die Durchblutung als anschauliches Ergebnis sichtbar macht und sowohl die Anastomosen in der unmittelbar postoperativen vulnerablen Phase als auch Gewebetransplantate evaluieren kann.

Die Anwendung der oben genannten Software kann über externe Programme wie IC-VIEW oder IC-CALC (Pulsion Medical Systems AG; München, Deutschland), SPY 2001 Imaging System (Novadaq, Bonita Springs, Fl.) oder SPY Elite® System (LifeCell Corp., Branchburg, NJ, USA) erfolgen. Eine Besonderheit stellt jedoch das FLOW® 800 Tool (FLOW 800; Carl Zeiss AG; Oberkochen, Deutschland) dar, welches bereits im Operationsmikroskop integriert ist und somit eine intraoperative Anwendung und Analyse erlaubt. Hierdurch können sowohl Flussanalysen durch einen Berechnungsprozess des emittierten Fluoreszenzsignals erstellt werden als auch eine Farbkodierung für die Fluoreszenzintensität erzeugt werden ([Abb. 4]) [74], [75], [76], [77], [78]. Durch diese Möglichkeit der intraoperativen Analyse an Mikroanastomosen, aber auch des Gewebetranplantats wurde die intraoperative Beurteilung der Lappenplastik wesentlich erleichtert und somit die Erfolgsrate verbessert [79], [80], [81]. Die Durchblutung lässt sich mithilfe der analytischen Daten valide bestimmen, um im postoperativen Verlauf Komplikationen der Anastomose oder der Gewebedurchblutung im Endstromgebiet zu detektieren [74], [75], [80], [82], [83], [84].

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Abb. 4 Farbkodierte Darstellung (FLOW® 800) der zuführenden (gelb-orange) Arterie und der abführenden Vene (grün) eines mikrovaskulären Latissimus-dorsi-Gewebetransplantats nach erfolgreicher Anastomosierung.


Neurochirurgie

Die Anfang der 2000er-Jahre eingeführte Videoangiografie ist als heutige im Operationsmikroskop integrierte Fluoreszenz-Videoangiografie nicht mehr aus modernen neurochirurgischen Operationssälen wegzudenken [85], [86].

Vaskuläre Neurochirurgie

ICG wird vorrangig in der vaskulären Neurochirurgie zur Darstellung von Gefäßpathologien (Angiome, Aneurysmen), deren Ursprungsort, zur Unterscheidung von vorbeiziehenden Gefäßen, die nicht zur Pathologie gehören, Übertritten von venösen in den arterielle Blutkreislauf (Fisteln) und vor allem zur intraoperativen Überprüfung des Behandlungserfolgs nach Ausschaltung von Fisteln oder Aneurysmata eingesetzt.

In der zerebralen Angiomchirurgie (AVM), Chirurgie von duralen Fisteln (dAVF) [87] und Aneurysmata [88] sowie der Behandlung von spinalen Gefäßpathologien ([89], [Abb. 3 ] e und f) wird die ICG-Videoangiografie verwendet und zeigt eine über 90%ige Übereinstimmung mit der digitalen Subtraktionsangiografie als Goldstandard zur Darstellung von vaskulären Prozessen [88]. Für die intraoperative Subtraktionsangiografie ist allerdings ein Hybrid-OP mit Angiografiemöglichkeit oder eine intraoperative Schnittbildgebung notwendig. Die Operationszeit würde sich mit diesen Verfahren deutlich verlängern, daher sind sie weitestgehend zugunsten von ICG verlassen.

Die Weiterentwicklung der Videoangiografie ist die farbkodierte sowie die (semi-)quantitative Videoangiografie ([Abb. 3 ] c und d) die weitere Informationen zur regionalen Durchblutung liefern kann.


Zerebrale Tumorchirurgie

Da die Beurteilung der vaskulären Situation um maligne Prozesse im Bereich der zerebralen Tumorchirurgie ebenfalls von hohem Interesse ist, konnte auch hier die ICG-Videoangiografie Vorteile zeigen. Gerade in der Beurteilung von vorbeiziehenden bzw. ernährenden und drainierenden Gefäßen kann die Gefäßdarstellung intraoperativ bei der Resektion maligner Prozesse von Nutzen sein [90].


Beurteilung des zerebralen Traumas

In einer gerade veröffentlichten Arbeit wurde die quantitative ICG-Videoangiografie angewendet, um verschiedene Parameter des Blutflusses in den zerebralen Gefäßen bei der dekompressiven Kraniektomie beim traumatischen Hirnschaden zu bestimmen. Eine deutliche Korrelation zum Hirndruck und dem klinischen Outcome nach 3 Monaten konnte gefunden werden. Hier scheint die ICG-Videoangiografie in der Zukunft auch einen Beitrag zur Prognosebeurteilung liefern zu können [91].



Schlussfolgerung

Die medizinische Nutzung von ICG ist einfach, strahlungsfrei und sicher und führt sowohl bei der interstitiellen als auch intravasalen Nutzung zu hervorragenden Markierungsergebnissen. Die Detektionsraten von ICG-gefärbten Sentinellymphknoten sind mindestens gleichwertig, mitunter den etablierten Techniken sogar überlegen. Darüber hinaus ist ICG für die Sentineldarstellung kostengünstiger und logistisch einfacher als Protokolle, bei denen Technetium-Kolloid (99mTc), häufig durch Nuklearmediziner unter Einhaltung des notwendigen Strahlenschutzstandards, am Tag vor der Operation appliziert wird [19], [20].

In der mehr als 50-jährigen Anwendung von ICG sind Nebenwirkungen eine Seltenheit. Nach insgesamt 240 000 Applikationen von ICG beschreibt Garski insgesamt nur 4 Unverträglichkeitsreaktionen [92].

Obwohl die intravasale ICG-Injektion seit den 1950er-Jahren zugelassen ist und klinisch regelhaft genutzt wird, liegt die interstitielle Injektion von ICG im Off-Label-Bereich.

Limitiert wird die Methode der ICG Videoangiografie auf der einen Seite durch die geringe Eindringtiefe, denn nur oberflächliche Prozesse können evaluiert werden, andererseits dadurch, dass zwischen 2 Videoangiografien einige Minuten liegen müssen, damit das initial injizierte ICG aus dem venösen und arteriellen System wieder abgeflutet ist. Wissenschaftliche Daten zur Nutzung von ICG sind hervorragend, allerdings werden weitere prospektiv randomisierte Studienergebnisse notwendig sein, um diese Methode im klinischen Alltag zu festigen.



Conflict of Interest/Interessenkonflikt

AH: Perform live surgery and participation in expert meetings for Olympus.
AH: Durchführung von Live-Operationen, Teilnahme an Expertenmeetings für Olympus.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Dr. Andreas Hackethal, MD, PhD
Tagesklinik Altonaer Straße
Altonaer Straße 59–61
20357 Hamburg
Oberbaumbrücke 1
20457 Hamburg
Germany   


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Fig. 1 Number of “Indocyanine Green” publications in PubMed over various periods.
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Fig. 2 Intraoperative screen shot of fluorescence ICG sentinel lymph node biopsy in the right pelvis. a HD white light image of the site, b near-infrared image at the same site with pale-stained ICG-containing tissue. c Combined HD image with fluorescent green color. d Quantitative ICG image of fluorescence-containing tissue indicating the presence of a lymph node in the obturator fossa.
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Fig. 3 Applications in neurosurgery. a shows reduced flow at the cortical surface with circulatory insufficiency (white arrow). At maximum flow this is particularly visible in the color-coded image (b, blue areas). c shows how ROIs (regions of interest) can be measured. Physicians can select an artery (green), vein (blue) or cortex (red). Areas of infarction or tumor areas can be highlighted. d shows the quantitative images for these regions. e Image of the spinal cord of a patient with a spinal arteriovenous fistula. Under white light illumination (black arrow), the suspicious vessel fills too quickly during ICG video angiography (f, white arrow), allowing it to be identified as a fistula vessel.
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Fig. 4 Color-coded imaging (FLOW® 800) of the afferent (yellow-orange) artery and the efferent vein (green) of a microvascular, latissimus dorsi tissue flap after successful anastomosis.
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Abb. 1 Publikationsanzahl „Indocyanine Green“ in PubMed in jeweiligen Zeiträumen.
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Abb. 2 Intraoperativer Screenshot einer ICG-Sentinelbiopsie im Bereich des rechten Beckens. a zeigt das HD-Weißlichtbild des Situs, b das Nah-Infrarotbild mit weißlich angefärbtem ICG-haltigen Gewebe. c zeigt das Kombinationsbild in HD mit Fluoreszenzgrün-Färbung. d zeigt die quantitative ICG-Darstellung des fluoreszenzhaltigen Gewebes, als Ausdruck eines Lymphknotens im Bereich der Fossa obturatoria.
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Abb. 3 Anwendungsbeispiele aus der Neurochirurgie. In a zeigt sich auf der kortikalen Oberfläche eine Flussverzögerung mit Minderdurchblutung (weißer Pfeil). Im maximalen Fluss zeigt sich dies besonders im farbkodierten Bild (b, blau dargestellte Areale). Exemplarisch ist in c die Möglichkeit der Messung von ROIs (Region of Interest) dargestellt. Je eine Arterie (grün), Vene (blau) und Kortex (rot) können ausgewählt werden. Ebenso könnten Infarktareale oder Tumorareale markiert werden. In d sind diese Regionen entsprechend quantitativ dargestellt. e ist die Aufsicht auf das Rückenmark bei einem Patienten mit spinaler arteriovenöser Fistel. Das suspekte Gefäß in der Weißlicht-Aufsicht (schwarzer Pfeil) füllt sich in der ICG-Videoangiografie entsprechend zu früh (f, weißer Pfeil) und kann als Fistelgefäß identifiziert werden.
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Abb. 4 Farbkodierte Darstellung (FLOW® 800) der zuführenden (gelb-orange) Arterie und der abführenden Vene (grün) eines mikrovaskulären Latissimus-dorsi-Gewebetransplantats nach erfolgreicher Anastomosierung.