Schlüsselwörter
taktische Medizin - Polizei - Rettungsdienst - bedrohliche Lagen - TEMS - Terrorismus
Abkürzungen
ABCDE-Konzept:
Airway, Breathing, Circulation, Disability, Exposure/Environment
BSR:
Bereitstellungsraum
CRBN-Lage:
chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren
DCR:
Damage Control Resuscitation
DCS:
Damage Control Surgery
DGAI:
Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin
DGU:
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
eFAST:
erweiterte fokussierte abdominelle sonografische Traumadiagnostik
FTS:
Field Triage Score
ILS:
Integrierte Leitstelle
LNA:
Leitender Notarzt
MANV:
Massenanfall von Verletzten
OrgL:
Organisatorischer Leiter Rettungsdienst
PEZ:
Einsatzzentrale der Polizei
PHTLS® :
Prehospital Trauma Life Support®
RAF:
Rote-Armee-Fraktion
SanEL:
Sanitätseinsatzleitung
TCCC:
Tactical Combat Casualty Care
TDSC® :
Terror and Disaster Surgical Care
TREMA:
Tactical Rescue and Emergency Medical Association
Einleitung
Jährlich werden weltweit über 30 000 Menschen durch Terrorattacken getötet [1]. Der geografische Schwerpunkt der Attacken liegt zwar eindeutig im Nahen Osten und
Nordafrika, doch auch Europa rückt zunehmend in den Fokus von Terroristen. Entsprechend
dem „Terrorism Index“, bei dem neben der Anzahl der Terroranschläge im jeweiligen
Land die Anzahl der durch die Attacken verletzten und getöteten Personen sowie der
durch die Anschläge verursachte Schaden berücksichtigt werden, nimmt Deutschland im
weltweiten Ranking bereits Platz 41/163 ein und steht damit nach Frankreich (29/163)
und Großbritannien (34/163) auf Platz 3 in Europa [1].
Terroristische Anschläge sind demnach in Deutschland Jahrzehnte nach der Bedrohung
durch die Rote-Armee-Fraktion (RAF) wieder zur Realität geworden. Die aktuellen Ereignisse
im Rahmen der Attacken in Ansbach, Würzburg, München und Berlin haben sehr deutlich
gezeigt, wie bedeutend die Auseinandersetzung mit der Thematik „bedrohliche Einsätze im zivilen Rettungsdienst“ ist und wie dringend Konzepte für die Bewältigung solcher Lagen benötigt werden [2]. Dabei sind sich die Experten nach den bisherigen Erfahrungen einig:
Merke
Die üblichen zivilmedizinischen Konzepte zur prähospitalen Bewältigung eines Massenanfalls
von Verletzten (MANV) sind nicht geeignet, um einen Terroranschlag notfallmedizinisch
adäquat zu beherrschen [3].
Ausschlaggebend dafür sind neben rein medizinischen vor allem einsatztaktische Gründe:
Medizinische Aspekte
Medizinisch ist bei einem (konventionellen) Anschlag mit einer hohen Anzahl schwer
und lebensbedrohlich verletzter Patienten zu rechnen. Wird der Anschlag mit Schusswaffen
oder Explosivstoffen geführt, steht die Gefahr des raschen Verblutungstodes im Vordergrund
[4].
Merke
Notfallmedizinisch haben demnach Maßnahmen zur Blutungskontrolle allerhöchste Priorität.
Das in der Notfallmedizin und insbesondere in der Traumaversorgung übliche prioritätenorientierte
ABCDE-Schema wird um ein vorangestelltes <C> für die Suche nach und das zeitkritische
Stoppen „kritischer Blutungen“ erweitert [5]. Dieses Vorgehen nach <C>ABCDE hat auch Eingang in die S3-Leitlinie Polytrauma- und Schwerverletztenversorgung gefunden
[6].
Sicherung und Wiederherstellen der Vitalfunktionen:
-
<C> – Critical Bleeding
-
A – Airway
-
B – Breathing
-
C – Circulation
-
D – Disability
-
E – Exposure/Environment
Anschlagsopfer, unverletzte Beteiligte sowie Einsatzkräfte sind in vielfältiger Weise
gefährdet: Zu nennen sind beispielsweise
-
der oder die noch nicht durch Polizeikräfte neutralisierte(n) Täter („active Shooter“),
-
multiple – evtl. auch zeitversetzte – Anschläge und/oder
-
eine dynamische Lage.
Merke
Bei einem Anschlag mit Schusswaffen und/oder Explosivstoffen ist mit einer hohen Anzahl
an schwer- und schwerstverletzten Patienten zu rechnen. Im Vordergrund steht dabei
die Gefahr des raschen Verblutungstodes. Maßnahmen zur Blutungskontrolle haben höchste
Priorität.
Einsatztaktische Aspekte
Polizeikräfte
Einsatztaktisch hat für die Polizei die Kontrolle des oder der Täter bzw. der Bedrohung
zunächst allerhöchste Priorität, um weitere Opfer zu verhindern. Patienten und Rettungskräfte
sind der permanenten Gefahr eines oder mehrere Folgeanschläge ausgesetzt – dem sogenannten
Second Hit.
Rettungsdienst
Für Rettungskräfte ist es deshalb unbedingt erforderlich und sinnvoll, die Aufenthaltsdauer
im Gefahrenbereich zu vermeiden oder möglichst zu minimieren. Wie die Erfahrungen
aus vergangenen Anschlägen zeigen, können aber in der Einsatzsituation gefährliche
und nicht gefährliche Bereiche mitunter nicht sicher voneinander abgegrenzt werden.
Deshalb muss das notfallmedizinische Vorgehen grundsätzlich auf eine Minimierung der
prähospitalen Versorgungsphase abgestimmt sein.
Hierbei wird das notfallmedizinische Handeln klar von den einsatztaktischen Zwängen
bestimmt [8].
Eine erste notfallmedizinische Diagnostik und Versorgung wird erst außerhalb des Gefahrenbereichs
möglich werden. Tatsächliche Sicherheit kann unter Umständen erst fern von Anschlagsort
oder sogar erst in der erstversorgenden Klinik erreicht werden. Die sonst übliche
prähospitale Etablierung von stationären Versorgungsstrukturen (z. B. Aufbau eines
Behandlungsplatzes) verbietet sich aus einsatztaktischen Überlegungen.
Merke
Patienten und Rettungskräfte sind permanent der Gefahr eines Folgeanschlags (sogenannter
Second Hit) ausgesetzt. Das notfallmedizinische Vorgehen muss deshalb auf eine Minimierung
der prähospitalen Versorgungsphase abgestimmt sein.
Die Arbeitsgruppe (AG) „Taktische Medizin“ des Arbeitskreises Notfallmedizin der Deutschen
Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) befasst sich deshalb schon
seit Jahren intensiv mit den Besonderheiten solcher Einsatzlagen im zivilen Rettungsdienst
[3]. Zusätzlich gibt es erste Versuche, das rettungsdienstliche Vorgehen bei derartigen
Lagen systematisch anhand von Qualitätsindikatoren zu beschreiben und zu evaluieren
[9].
In diesem Beitrag beschreiben die Autoren die Besonderheiten von „bedrohlichen Lagen
im zivilen Rettungsdienst“ und versuchen, Hinweise für mögliche Handlungsoptionen
zu geben. Dabei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in diesem Artikel lediglich
auf die Thematik eines „konventionellen“ Anschlags eingegangen wird – die Problematik
„schmutzige Bomben“ sowie CBRN-Lagen bleiben unberücksichtigt, da sie den Rahmen des
Artikels deutlich sprengen würden. Zudem wird nicht auf spezielle Verletzungsmuster,
wie beispielsweise „Blast Injury“, detailliert eingegangen.
Situationsbewusstsein („Awareness“) und Alarmierungsgrundsätze
Situationsbewusstsein („Awareness“) und Alarmierungsgrundsätze
Bei Eingang erster Informationen zu einem Schadensereignis bei den Einsatzzentralen
der Polizei (PEZ) und/oder den Integrierten Leitstellen von Feuerwehr und Rettungsdienst
(ILS) muss nicht unmittelbar ein „Terroranschlag“ oder eine „Amoklage“ gemeldet oder
erkannt werden. Deshalb ist es notwendig, Rettungsdienst- und Leitstellenpersonal
dafür zu sensibilisieren, aus ähnlichen Informationen schnell das Bild einer „bedrohlichen
Lage“ entstehen zu lassen, entsprechend zu reagieren und frühzeitig zu kommunizieren.
Hinweise auf eine „bedrohliche Lage“ können sich aus der Örtlichkeit ergeben; fügen
sich Informationen zu einem Meldebild an exponierten Orten zusammen, steigt die Wahrscheinlichkeit
für eine „bedrohliche Lage“. Als exponierte Örtlichkeiten kommen in Betracht:
-
Veranstaltungen,
-
öffentliche Plätze,
-
Verkehrsknotenpunkte (Bahnhöfe, Flughäfen, Busterminal etc.),
-
öffentliche Verkehrsmittel (Busse, Bahnen etc.),
-
besondere Objekte (Regierungs-/Verwaltungsgebäude, technische Anlagen, Kliniken etc.).
Wird bereits beim Eingang eines Anrufes die akute Bedrohung deutlich (z. B. Schüsse
im Hintergrund), kann es hilfreich sein, dem bedrohten Anrufer – ähnlich wie bei einer
Reanimation – lageangepasst Hilfestellung zu geben (z. B. bei einer Amoklage: „Suchen
Sie Deckung“, „Stellen Sie sich tot“ o. Ä.).
Merke
Eine „bedrohliche Lage“ ist mitunter nicht sofort als solche zu erkennen. Das Personal
der Rettungsleitstellen und des Rettungsdienstes muss deshalb sensibilisiert werden,
um aus den (wenigen) Informationen rasch das Bild einer „bedrohlichen Lage“ erkennen
zu können.
Wird durch den Disponenten von PEZ oder ILS eine „bedrohliche Lage“ erkannt, sollte
ein bekannter Alarmplan aktiviert werden und unmittelbar die Partnerleitstellen informiert,
der eigene Führungsdienst alarmiert und eine Verbindungsperson in die jeweils andere
Leitstelle entsandt werden, um einen bidirektionalen Informationstransfer zu gewährleisten.
Eine frühzeitige Alarmierung kann im Bedarfsfall die zeitkritische Verfügbarkeit von
Kapazitäten sichern. Dies gilt gleichermaßen für überörtliche Polizeikräfte, Spezialeinheiten,
Feuerwehren, Rettungsdienst, Katastrophenschutz und entfernter stationierte Rettungshubschrauber.
Allerdings sollten Ressourcen sinnvoll verwaltet werden; dies bedeutet, dass einer
frühzeitigen Alarmierung auch eine geeignete Koordinierung und mit Lageübersicht auch
wieder eine zeitnahe Deaktivierung folgen muss.
Bereitstellungsräume für diese Kräfte sollten im Vorfeld bekannt oder nach Alarmierung
zugewiesen werden. Diese Bereitstellungsräume sollten mit Bedacht gewählt sein, um
mit einer großen Ansammlung von Rettungsfahrzeugen im öffentlichen Raum kein Ziel
für einen weiteren Anschlag zu bieten.
Bereits eingesetzte Rettungskräfte sind über die „bedrohliche Lage“ in Kenntnis zu
setzen. Für die eingesetzten Rettungskräfte gelten dabei folgende Grundsätze:
Praxis
Grundsätze für das Vorgehen in bedrohlichen Lagen
-
Bei Verdacht auf Schusswaffen oder Sprengstoff der Grundsatz: Die Polizei klärt als
erstes die Lage vor Ort – nicht der Rettungsdienst!
-
Oberster Handlungsgrundsatz in einer derartigen Lage ist: „Die Rettungskräfte begeben
sich nicht in Gefahr“ – der Eigenschutz hat Priorität!
Führungsorganisation und Kommunikation zwischen den Diensten
Führungsorganisation und Kommunikation zwischen den Diensten
Ein Problem, welches sowohl nach den Anschlägen in Norwegen 2011 als auch nach den
Attentaten von Paris 2015 berichtet wurde, waren die mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten
zwischen Sicherheitskräften und Rettungsfachpersonal [10], [11]. Auch deshalb sollte die Führung des Einsatzes getrennt vom Regelrettungsdienst
über einen eigenen Funkkanal erfolgen.
Da einerseits die Polizei aus der PEZ geführt wird, andererseits der Rettungsdienst
eine Sanitätseinsatzleitung (SanEL) aus Leitendem Notarzt (LNA) und Organisatorischem
Leiter Rettungsdienst (OrgL) vor Ort installiert, muss auch der Polizeiführer vor
Ort für die Verantwortlichen des Rettungsdienstes erkennbar sein. Ebenso von Bedeutung
ist die Etablierung gemeinsamer interdisziplinärer Lagebesprechungen im weiteren Verlauf
des Einsatzgeschehens.
Merke
Alle Einsatzkräfte sind auch in „bedrohlichen Lagen“ wie bei jeder anderen Großschadenslage
in der Verantwortung, ihre Erreichbarkeit sicherzustellen [11].
Entsprechend dürfen Fahrzeuge ohne Auftrag nicht verlassen werden, um den Funk jederzeit
besetzt zu halten. Unter Umständen sind Kommunikationssysteme in einer „bedrohlichen
Lage“ überlastet [10] oder waren Teil des Anschlagsziels. Für die Phase mit eingeschränkter Kommunikation
müssen die Einsatzkräfte so ausgebildet sein, dass sie bis zur Etablierung einer gemeinsamen
Führungsstruktur vor Ort auch autark arbeiten können.
Merke
In einer „bedrohlichen Lage“ können die Kommunikationssysteme überlastet oder gar
zerstört sein. Die rettungsdienstlichen Einsatzkräfte müssen deshalb so ausgebildet
sein, dass sie bis zur Etablierung einer gemeinsamen Führungsstruktur vor Ort auch
autark arbeiten können.
Führen in einer „bedrohlichen Lage“ erfordert mitunter kurzfristige lageangepasste
Entscheidungen, welche unmittelbar umzusetzen sind. Dies setzt bei allen Beteiligten
ein „militärisches“ Verständnis von Disziplin voraus. Anweisungen von Führungskräften
werden auf der Basis umfangreicherer Informationen getroffen mit dem Ziel, das Vorgehen
der polizeilichen und rettungsdienstlichen Einsatzkräfte aufeinander abzustimmen,
keine weiteren Opfer zu riskieren und das eingesetzte Personal nicht zu gefährden.
Einsatztaktische Aspekte
Bei terroristischen Anschlägen oder Amokläufen besteht eine direkte Bedrohung der
Einsatzkräfte bei der Annäherung an die Opfer. Diese „bedrohliche Lage“ erfordert
ein Umdenken. Weder Ausbildung noch die Ausrüstung des Rettungsfachpersonals rechtfertigen
einen Aufenthalt im Gefahrenbereich. Ähnlich wie bei Bränden, bei denen die Menschenrettung
durch die Feuerwehr erfolgt, gilt bei „bedrohlichen Lagen“, dass die Polizei den Einsatz
leitet, Gefahrenbereiche definiert und Patienten aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich
dem Rettungsdienst zuführt.
Die Gefahrenbereiche werden eingeteilt in ([Abb. 1]):
-
unsicher,
-
teilsicher und
-
sicher.
Abb. 1 Gefahrenbereiche bei „bedrohlichen Lagen.(Quelle: Hossfeld B, Wurmb T, Josse F et
al. Massenanfall von Verletzten – Besonderheiten bei „bedrohlichen Lagen“. Anästhesiol
Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2017; 52: 618 – 629)
Merke
Die Einsatzleitung obliegt bei „bedrohlichen Lagen“ der Polizei. Durch die Polizei
werden auch die Gefahrenbereiche (unsicher – teilsicher – sicher) definiert.
Abhängig von der Gesamtlage können sich diese Gefahrenbereiche verändern. Es werden
stationäre, dynamische und multiple Szenarien unterschieden:
-
Bei einer stationären Lage handelt es sich um ein ortsfestes Ereignis. Dabei kann die Täterwirkung durch ein
stattgefundenes Ereignis (z. B. Explosion) präsentieren oder der oder die Täter sind
durch Polizeikräfte an einem Ort gebunden und können diesen nicht verlassen (z. B.
Geiselnahme in einem Gebäude). In diesem Fall sind die Gefahrenbereiche einfach zu
definieren.
-
Davon unterscheidet sich die dynamische Lage, in welcher der oder die Täter mobil und dadurch schlechter kalkulierbar sind. Ziel
der Polizei wird es sein, den oder die Täter zeitnah in eine stationäre Lage zu zwingen.
Solange dies nicht erreicht ist, können sich die Gefährdungsbereiche verschieben.
Zum Eigenschutz muss das Rettungsfachpersonal jederzeit auf die Anweisung der Polizei
flexibel reagieren können.
-
Mehrere zeitgleiche oder zeitversetzte (stationäre oder dynamische) Lagen ergeben
ein multiples Szenario mit dem Ziel, innerhalb einer Region ein möglichst großes Chaos zu verbreiten und
die Einsatzkräfte massiv zu überlasten.
Da die Entwicklung einer solchen „bedrohlichen Lage“ nie vorhersehbar sein wird, ist
die Bildung von Einsatzreserven sowohl prähospital als auch in den Kliniken eine wichtige
Maßnahme der Einsatzführung.
Second Hit
Eine besondere Bedrohung bedeutet der Second Hit: Dabei sind Hilfs- und Einsatzkräfte,
die nach einem Anschlag an die Einsatzstelle eilen, durch eine zweite oder dritte
Attacke bedroht [7]. Deshalb hat einsatztaktisch für die Polizei die Kontrolle des oder der Täter zunächst
allerhöchste Priorität, um weitere Opfer zu vermeiden.
Für Rettungskräfte ist es unter diesem Gesichtspunkt unbedingt erforderlich und sinnvoll,
die Aufenthaltsdauer im Gefahrenbereich zu minimieren. Wie die Erfahrungen aus vergangenen
Anschlägen zeigen, können aber in der Einsatzsituation sichere und unsichere (sowie
– besonders schwierig – teilsichere) Bereiche mitunter nicht klar voneinander abgegrenzt
werden. Deshalb muss das notfallmedizinische Vorgehen grundsätzlich auf eine Minimierung
der prähospitalen Versorgungsphase abgestimmt werden. Hierbei wird das notfallmedizinische
Handeln klar von den einsatztaktischen Zwängen bestimmt [8]:
Je größer die Bedrohung, desto geringer die Möglichkeit zur individualmedizinischen
Versorgung ([Abb. 2]).
Abb. 2 Darstellung der Bedrohung und der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten in den Gefahrenbereichen.
Je größer die Bedrohung, desto weniger ist eine medizinische Versorgung möglich.(Quelle:
Hossfeld B, Wurmb T, Josse F et al. Massenanfall von Verletzten – Besonderheiten bei
„bedrohlichen Lagen“. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2017; 52: 618 – 629)
Merke
Bei „bedrohlichen Lagen“ wird das notfallmedizinische Handeln klar von den einsatztaktischen
Zwängen bestimmt.
Eine erste notfallmedizinische Diagnostik und Versorgung werden erst nach Verlassen
des Gefahrenbereichs möglich werden. Tatsächliche Sicherheit kann unter Umständen
erst fern vom Anschlagsort oder sogar erst in einer erstversorgenden Klinik erreicht
werden. Die sonst übliche prähospitale Etablierung von stationären Versorgungsstrukturen
(z. B. Aufbau eines Behandlungsplatzes) verbietet sich aus einsatztaktischen Überlegungen,
da damit ein großes „weiches Ziel“ entstünde, welches nur unter Schwierigkeiten durch
Polizeikräfte zu schützen wäre.
Ziel und Strategie des Konzeptes
Ziel und Strategie des Konzeptes
Oberstes Ziel des Konzeptes ist, das Überleben einer möglichst hohen Zahl von Verletzten
bzw. Beteiligten zu ermöglichen und dabei gleichzeitig die Gefährdung von Patienten
und Beteiligten sowie der eingesetzten Rettungskräfte so gering wie möglich zu halten.
Das prähospitale Management folgt dabei der in der Infobox zusammengefassten Strategie:
Die prähospitale Versorgung folgt der Strategie:
„Stop the bleeding and clear the scene.“
Dies bedeutet
-
rasche Identifizierung der Patienten, die infolge einer Blutung am ehesten zu versterben
drohen,
-
Kontrolle solcher Blutungen durch Tourniquet-Anlage oder Kompression,
-
schnelle Rettung der Patienten aus der „unsicheren“ Zone und
-
zeitkritischer Transport in die Klinik [9].
Die notfallmedizinischen Maßnahmen folgen dabei den einsatztaktischen Gegebenheiten.
Da im unsicheren Bereich ausschließlich Polizeikräfte zum Einsatz kommen sollten,
erlangt die Ausbildung von Polizisten in Triage und Blutstillungsmaßnahmen besondere
Bedeutung.
Die (Vor-)Triage im unsicheren Bereich muss in Anbetracht der Bedrohung einfachsten
Grundsätzen folgen. In Anlehnung an den Field Triage Score (FTS) [13] kann in der gebotenen Kürze der Zeit lediglich eine Einteilung in „mit Lebenszeichen“
oder „ohne Lebenszeichen“ erfolgen, um bei jenen mit Lebenszeichen einfache Blutstillungsmaßnahmen
(z. B. Anlage eines Tourniquets bei stark blutenden Extremitäten) zu ergreifen und
diese zeitnah dem Rettungsdienst an sicheren Übergabepunkten zuzuführen (Einrichten
eines gesicherten Korridors zur Evakuierung von Patienten oder Betroffenen).
Als solche Übergabepunkte sind sogenannte „geschützte Patientenablagen“ im teilsicheren
Bereich vorgesehen. Dies können z. B. Gebäude oder Räume sein, deren Ein- und Ausgänge
mit wenigen Mitteln für die Polizei zu überwachen sind. Je nach Schadenslage und Ressourcen
können solche „geschützten Patientenablagen“ mit dem Personal und Material von 1 – 3
Rettungswagen und einem Notarzt ausgestattet werden. Dies ermöglicht zum einen eine
rettungsdienstliche Vorsichtung der eintreffenden Patienten (z. B. nach dem mSTaRT-Algorithmus
[14]) sowie einen ersten notfallmedizinischen Bodycheck mit erweiterter Versorgung.
Allerdings kann sich die Gefährdungslage um eine solche „Geschützte Patientenablage“
z. B. durch Bewegung des oder der Täter jederzeit ändern. Aus diesem Grund dürfen
Patienten hier nicht lange verweilen, sondern müssen zeitnah in Kliniken im sicheren
Bereich weiter transportiert werden. Darüber hinaus muss das eingesetzte Personal
jederzeit bereit sein, auf Weisung der Polizei den Bereich zu räumen und nötigenfalls
mit Patienten zu verlegen.
Cave
Neben dem Second Hit bedeuten Attentäter, die sich unter die Patienten mischen, um
die Anschlagszone zu verlassen oder in vermeintlich sicheren Bereichen ein weiteres
Mal zuzuschlagen, eine besondere Bedrohung für die eingesetzten Kräfte.
Entsprechend müssen Patienten vor der Übergabe an den Rettungsdienst sowie erneut
vor dem Eingang zur Notaufnahme/Klinik seitens der Polizei auf Waffen oder Sprengmittel
überprüft und ggf. entwaffnet werden.
Praxistipp
Neben Waffen sollte auch auf den Transport persönlicher Gegenstände wie Taschen oder
Rucksäcke verzichtet werden, da dies einfacher ist, als diese gründlich auf den Inhalt
hin zu überprüfen. Dies bedeutet einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit der eingesetzten
Kräfte.
Notfallmedizinische Taktik
Notfallmedizinische Taktik
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass mit mehreren Anschlagsorten in zeitlicher und
räumlicher Nähe gerechnet werden muss [15]. Darüber hinaus laufen die üblichen rettungsdienstlichen Aufgaben (akute Erkrankungen,
Unfälle etc.) weiter [16]. Deshalb müssen zusätzliches Personal und Fahrzeuge aus Bereitschaften und/oder
benachbarten Bereichen frühzeitig in sichere Bereitstellungsräume alarmiert werden.
Um auf weitere Anschläge in zeitlicher oder räumlicher Nähe [17] reagieren zu können, dürfen nicht alle zur Verfügung stehenden Kräfte unmittelbar
zur Einsatzstelle entsendet werden. Nur so bleibt die Handlungsfähigkeit erhalten,
jederzeit auf neue Einsätze oder sich parallel entwickelnde Lagen reagieren zu können.
Die notfallmedizinische Versorgung in „bedrohlichen Lagen“ orientiert sich am Konzept
„Tactical Combat Casualty Care“ (TCCC-Konzept) [18] des Militärs und somit an den Strukturen des Prehospital Trauma Life Support (PHTLS)
[19]. Danach erfolgen die möglichen notfallmedizinischen Maßnahmen in Abhängigkeit von
der taktischen Lage und der damit verbundenen Bedrohung in drei Phasen:
-
Care under Fire im unsicheren Bereich
-
Tactical Field Care im teilsicheren Bereich
-
Tactical Evacuation Care im sicheren Bereich
Als Grundlage für die Ausbildung können im deutschsprachigen Raum die Empfehlungen
der TREMA (Tactical Rescue and Emergency Medical Association) [20] dienen:
Gemäß dieser Empfehlung gilt es, in der Situation, in der sich der Patient noch unter
direkter Bedrohung befindet (Care under Fire), zunächst den Auftrag weiter durchzuführen, ggf. die eigene Deckung zu halten und
weitere Verletzte oder Opfer zu vermeiden. Dementsprechend werden sich die Polizeikräfte
in der unsicheren Zone zunächst an der Lösung der Lage beteiligen, da die Kontrolle der taktischen
Situation den besten Schutz für die Betroffenen darstellt.
Währenddessen können Patienten zur Eigeninitiative angeleitet, also z. B. aufgefordert
werden, sich in einen besser geschützten Bereich zu bewegen (ggf. kriechend). Bleibt
Zeit für Maßnahmen durch die Polizei, beschränken sich diese auf das Stillen von Extremitätenblutungen
mittels Tourniquet [21], bevor die Patienten in die oben beschriebenen „geschützten Patientenablagen“ transportiert
und an den Rettungsdienst übergeben werden.
Erreicht der Patient (allein oder mit der Polizei) einen teilsicheren Bereich und
ist somit nicht mehr unter direkter Bedrohung, können eine erste ausführlichere Untersuchung
beginnen und erste Maßnahmen eingeleitet werden (Tactical Field Care).
Merke
Auch in der „geschützten Patientenablage“ hat die Sicherheit der Helfer und der Patienten
höchste Priorität.
Der Rettungsdienst, ggf. unterstützt durch einen Notarzt, führt eine (Vor-)Sichtung durch, verschafft sich einen ersten Eindruck von den Patienten und versucht, kritische
Blutungen, wenn nicht bereits geschehen, jetzt zu stoppen. Dazu stehen neben Tourniquets
an Extremitäten auch Verbandmittel für Kompression und Wundpacking unterstützt durch
moderne Hämostyptika zur Verfügung [22]. Eine notfallmedizinische Versorgung nach üblichen zivilen, individualmedizinischen
Kriterien (Tactical Evacuation Care) erfolgt erst auf dem Weg in die erstversorgende Klinik bzw. erstin den Notaufnahmen
dieser Kliniken.
In „bedrohlichen Einsatzlagen“ wird das notfallmedizinische Handeln eindeutig durch
die taktische Lage bestimmt. Dabei hat sich im militärischen Umfeld das Konzept „Tactical
Combat Casualty Care“ (TCCC-Konzept) bewährt. Die „bedrohliche Einsatzlage“ im zivilen
Umfeld unterscheidet sich diesbezüglich nicht von der im militärischen Umfeld.
Sicherung der erstversorgenden Kliniken
Sicherung der erstversorgenden Kliniken
Wie bereits beschrieben, verbietet sich die Etablierung stationärer Versorgungsstrukturen
im prähospitalen Bereich (z. B. zeltgestützter Behandlungsplatz), da sonst nicht zu
schützende „weiche“ Ziele entstünden. Die für den Schutz einer solchen Infrastruktur
nötigen Polizeikräfte sind im Rahmen einer bedrohlichen Einsatzlage mit vielfältigen
anderen Aufgaben ausgelastet und stehen somit nicht zur Verfügung.
Merke
Ziel der Vorkehrungen sollte es sein, zumindest die Notaufnahmen der erstversorgenden
Kliniken zu „sicheren“ Bereichen zu machen.
-
Das bedeutet auch, dass mit der Aktivierung des Krankenhausalarmplans mit den entsprechenden
Führungs- und Personalstrukturen [23] Besucher und ambulante Patienten aufgefordert werden, die Klinik zu verlassen.
-
Aus- und Eingänge sollten über ein Schließkonzept verfügen, welches einen Zugang zur
Klinik ausschließlich über die Notaufnahme ermöglicht.
-
Zudem sollten zur Lenkung der Patienten und Besucherströme alle Ausgänge personell
besetzt werden.
-
Durch den Verzicht auf prähospitale Versorgungsstrukturen könnten die dafür geplanten
ehrenamtlichen Katastrophenschutz-Einheiten direkt an die Notaufnahmen alarmiert werden,
um dort personell zu unterstützen. Auch dies erfordert Absprachen und gemeinsame Übungen
im Vorfeld.
Innerklinische Erstversorgung
Innerklinische Erstversorgung
Je nach Entfernung zum Anschlagsort kommen Patienten u. U. unkontrolliert und selbstständig
in die Notaufnahme(n) der erstversorgenden Klinik(en), noch bevor eine offizielle
Alarmierung über die Rettungsleitstelle erfolgt. Eine Vigilanzschulung des Notaufnahmepersonals
für „ungewohntes Patientenaufkommen“ kann helfen, frühzeitig einen MANV zu erkennen.
Den Notaufnahmen kommt in der Bewältigung „bedrohlicher Lagen“ eine besondere Bedeutung
zu. Sie sind nicht nur die erste Behandlungseinrichtung in der sicheren Zone, die
der Rettungsdienst erreicht, sondern vielfach auch Anlaufpunkt für Leichtverletzte
werden, welche die Klinik ohne Rettungsdienst erreichen. Deshalb ist eine organisierte
Sichtung aller eintreffenden Patienten bereits vor der Notaufnahme unerlässlich. Dies
ermöglicht es, Betroffene und Patienten besser zu kanalisieren und nur die Patienten
in die Notaufnahme einzulassen, welche tatsächlich akut behandlungsbedürftig sind.
Das Thema Entwaffnung muss ebenfalls in die Planungen für eine Sichtung außerhalb
der Notaufnahme aufgenommen werden.
Patienten mit Schuss- und Explosionsverletzungen (v. a. des Rumpfes) weisen eine hohe
Letalität auf [24]. Gerade im Massenanfall oder bei einer taktischen Lage erreichen diese Patienten
die notwendige chirurgische Intervention oft nicht in der gebotenen Kürze der Zeit
und versterben vor Erreichen einer notfallmedizinischen/notfallchirurgischen Versorgung.
Für die vor der Notaufnahme eintreffenden Patienten steht die Entscheidung über eine
zeitkritisch notwendige Operation deshalb im Vordergrund.
Allerdings werden die üblichen apparativen diagnostischen Möglichkeiten einer Notaufnahme
(Bildgebung, Labor) im Massenanfall schnell zum limitierenden Faktor [25]. Sonografie (eFAST) mit mobilen Geräten kann zwar eine Hilfe bieten, dringende OP-Indikationen
müssen jedoch möglicherweise mit wenigen Befunden gestellt werden.
Praxistipp
-
Deshalb ist ein in Katastrophen-, Einsatz- oder Taktischer Medizin erfahrener chirurgischer
Fach- oder Oberarzt als zentraler operativer Notfallkoordinator erforderlich, der
entscheidet, bei welchem Patienten wann und in welchem Ausmaß eine operative Versorgung
erfolgen muss [26].
-
Dabei müssen die vorhandenen OP-Kapazitäten und mögliche Reserven mit betrachtet werden,
um stets noch Teams und Säle für absolute Indikationen bereit zu halten.
Um Komplikationen durch Organdysfunktionen infolge von Volumenmangel und Hypoxie zu
verhindern, muss diese operative Versorgung individuell auf das Nötigste beschränkt
werden. Hier müssen auch im zivilen Bereich die Prinzipien der Damage Control Surgery
(DCS) greifen [26], unterstützt durch die anästhesiologisch geführte Damage Control Resuscitation (DCR),
um zeitnah eine Korrektur des Säure-Basen-Haushaltes, eine Optimierung der Gerinnung,
Euvolämie und Normothermie anzustreben.
Um eine flächendeckende Befähigung deutscher Kliniken zu Damage-Control-Techniken
zu erreichen, hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) in Zusammenarbeit
mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr und der DGAI ein Kurskonzept zu Terror and Disaster Surgical Care – TDSC® entwickelt.
Da der Rettungsdienst in dieser Phase maximal ausgelastet ist, sollten bei Versorgungsengpässen
wann immer möglich nicht Patienten in eine andere Klinik transferiert werden (qualifizierter
Transport), sondern Spezialisten und Material ausgetauscht werden (z. B. per Taxi).
Kernaussagen
-
Die üblichen zivilmedizinischen Konzepte zur prähospitalen Bewältigung eines Massenanfalls
von Verletzten (MANV) sind nicht geeignet, um einen Terroranschlag notfallmedizinisch
adäquat zu beherrschen.
-
Bei einem Anschlag mit Schusswaffen und/oder Explosivstoffen ist mit einer hohen Anzahl
an schwer- und schwerstverletzten Patienten zu rechnen. Im Vordergrund steht dabei
die Gefahr des raschen Verblutungstodes. Maßnahmen zur Blutungskontrolle haben höchste
Priorität.
-
Patienten und Rettungskräfte sind permanent der Gefahr eines Folgeanschlags (sogenannter
Second Hit) ausgesetzt. Das notfallmedizinische Vorgehen muss deshalb auf eine Minimierung
der prähospitalen Versorgungsphase abgestimmt sein.
-
Eine „bedrohliche Lage“ ist mitunter nicht sofort als solche zu erkennen. Das Personal
der Rettungsleitstellen und des Rettungsdienstes muss deshalb sensibilisiert werden,
um aus den (wenigen) Informationen rasch das Bild einer „bedrohlichen Lage“ erkennen
zu können.
-
In einer „bedrohlichen Lage“ können die Kommunikationssysteme überlastet oder gar
zerstört sein. Die rettungsdienstlichen Einsatzkräfte müssen deshalb so ausgebildet
sein, dass sie bis zur Etablierung einer gemeinsamen Führungsstruktur vor Ort auch
autark arbeiten können.
-
Die Einsatzleitung obliegt bei „bedrohlichen Lagen“ der Polizei.
-
Durch die Polizei werden auch die Gefahrenbereiche (unsicher – teilsicher – sicher)
definiert.
-
In „bedrohlichen Einsatzlagen“ wird das notfallmedizinische Handeln eindeutig durch
die taktische Lage bestimmt. Dabei hat sich im militärischen Umfeld das „Tactical
Combat Casualty Care“ (TCCC-)Konzept bewährt. Die „bedrohliche Einsatzlage“ im zivilen
Umfeld unterscheidet sich diesbezüglich nicht von der im militärischen Umfeld.
-
Die prähospitale Versorgung folgt der Strategie: „stop the bleeding and clear the
scene“.
-
Ziel ist es, die Notaufnahmen der erstversorgenden Kliniken zu „sicheren“ Bereichen
zu machen.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Matthias Helm, Ulm.