ergopraxis 2018; 11(01): 8-10
DOI: 10.1055/s-0043-120100
Gesprächsstoff
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Gesundheitskompetenz – Ergos haben Schlüsselrolle

Heide Weishaar
,
Eva-Maria Berens
,
Dominique Vogt
,
Svea Gille
,
Annett Horn
,
Sebastian Schmidt-Kaehler
,
Doris Schaeffer

Subject Editor:
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Publication History

Publication Date:
05 January 2018 (online)

 

Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und zu nutzen – das fällt mehr als jedem zweiten Deutschen schwer. Kein Wunder, wenn daher Patienten Übungen nicht umsetzen. Es fehlt an Gesundheitskompetenz. Wissenschaftler suchen nach Ursachen und Lösungen – Ergotherapeuten spielen dabei eine wesentliche Rolle.


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Wohl jeder Therapeut hat es schon einmal erlebt: Trotz mehrfacher Behandlung und ausführlichen Hinweisen macht der Patient seine Übungen nicht regelmäßig. Der Behandlungserfolg bleibt gering oder stellt sich gar nicht erst ein. Warum gestaltet sich die Behandlung nicht so wie erwünscht? Ein entscheidender Faktor könnte eine unzureichende Gesundheitskompetenz sein. Denn wenn Patienten Schwierigkeiten haben, mit Gesundheitsinformationen umzugehen, und es Therapeuten nicht gelingt, relevantes Wissen so zu vermitteln, dass Patienten es verarbeiten und verstehen können, hat das negative Auswirkungen auf den Behandlungsverlauf.

Diesen Schwierigkeiten und den notwendigen Voraussetzungen, mit gesundheitsbezogener Information umzugehen, wird in letzter Zeit vermehrt wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit geschenkt. Therapeuten können durch adäquate Kommunikation und Beratung im Umgang mit gesundheitlichen Fragestellungen die Gesundheitskompetenz der Patienten fördern und so eine zentrale Rolle übernehmen.

Vor allem chronisch Erkrankte haben Schwierigkeiten

Eine 2016 veröffentlichte repräsentative Studie der Universität Bielefeld zeigt, dass mehr als jeder zweite Deutsche – und somit eine Vielzahl der Patienten in der Ergotherapie – Schwierigkeiten hat, Gesundheitsinformationen zu verarbeiten [1]. Wissenschaftliche Studien belegen auch, dass Deutschland im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich abschneidet [2].

Einige Bevölkerungsgruppen sind besonders stark betroffen: Menschen mit geringem Bildungsniveau, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen im höheren Lebensalter und chronisch Erkrankte – also Menschen, mit denen Ergotherapeuten täglich arbeiten [1].

Gründe für die Probleme im Umgang mit Gesundheitsinformationen sind insbesondere die unzulängliche Kommunikation zwischen den Gesundheitsberufen und den Patienten, die Fülle von oft wenig nutzerorientierter oder sogar falscher und interessengeleiteter Information sowie die Komplexität des Gesundheitssystems. Auf individueller Ebene spielen die physische und psychische Belastung im Krankheitsfall eine Rolle.


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Alltag in vielerlei Hinsicht beeinflusst

Schwierigkeiten im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen haben für das Individuum und für die Gesellschaft weitreichende Konsequenzen. Sie machen sich in vielen Bereichen des Alltags bemerkbar: Bei der Auswahl einer Freizeitbeschäftigung, der Abwägung für oder gegen eine Behandlung, der Wahl des Arztes, des Krankenhauses und des Therapeuten oder der Frage, in welcher Form man zum Therapieerfolg beitragen kann. Für all diese Entscheidungen sind das Finden, Verstehen, kritische Bewerten und Umsetzen von digitaler, schriftlicher und mündlicher Information essenziell.

Ergotherapeuten haben das Potenzial, die Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken.

Es bestehen starke Wechselbeziehungen zwischen Gesundheitskompetenz, Gesundheitsverhalten, Nutzung des Gesundheitssystems und Gesundheitsstatus: Menschen, die Gesundheitsinformationen nicht so gut verarbeiten können, schätzen meist ihren eigenen Gesundheitszustand schlechter ein, führen häufig einen ungesunden Lebensstil und konsultieren vermehrt den Arzt oder ärztlichen Notfalldienst [1]. Die Ursachen für diese Wechselbeziehungen müssen jedoch noch erforscht werden.


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Ergotherapeuten können Schlüsselrolle für Gesundheitskompetenz übernehmen

Ergotherapeuten sind bei Gesundheitsfragen eine wichtige Anlaufstelle für Patienten. Sie stehen in intensivem und vertrauensvollem Kontakt zu ihnen und verfügen über Fachwissen zu Gesundheitsthemen. Sie können also Patienten im Umgang mit Gesundheitsinformation optimal unterstützen und eine Schlüsselrolle übernehmen.

Definition

Gesundheitskompetenz

Die Fähigkeit, mit gesundheitsrelevanten Informationen umzugehen, wird als Gesundheitskompetenz bezeichnet. Das Konzept der Gesundheitskompetenz stammt aus dem englischsprachigen Raum. Dort wird die Fähigkeit, Gesundheitsinformation zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, mit dem Begriff „Health Literacy“ umschrieben.

Gesundheitskompetenz wird von den individuellen Voraussetzungen und Ressourcen der Personen (Wissensstand, persönliche Einstellungen) und den strukturellen Bedingungen (Komplexität von Informationen, soziale Netzwerke, Umfeld) beeinflusst [3].

Dazu benötigen sie ein Bewusstsein für das Thema und für die Schwierigkeiten beim Umgang mit Gesundheitsinformationen. Sie müssen fähig sein, den Informations- oder Beratungsbedarf der Patienten zu identifizieren und diesem mit individuell angepasster, handlungsorientierter Kommunikation zu begegnen. Ziel ist hierbei die gemeinsame Entscheidungsfindung, bei der der Patient als Partner verstanden wird. Diese kann die Unabhängigkeit und Selbstmanagementfähigkeit des Patienten steigern und den kritischen Umgang mit Gesundheitsinformationen fördern.


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Es braucht besondere Kommunikationsstrategien

Die Beratung von Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz stellt besondere Anforderungen an die Kommunikationskompetenz. Zielführend ist es, wenn Therapeuten Strategien anwenden, die eine gemeinsame Entscheidungsfindung ermöglichen. Berücksichtigen sie in der Therapie die Patientenbedürfnisse und sprechen partnerschaftlich über die Wünsche des Patienten, Therapieziele, Therapie und Fortschritte, können Patienten lernen, autonom und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen.

Eine freundliche, zugewandte und empathische Grundhaltung des Therapeuten ist die Grundlage für eine offene Kommunikation und erleichtert es, die durch die geringe Gesundheitskompetenz bedingten Unsicherheiten anzusprechen. Therapeuten sollten das Vorwissen ihrer Patienten erfragen und in die Kommunikation integrieren. Sprechen sie langsam und in klaren, leicht verständlichen Sätzen und vermeiden Fachbegriffe, erleichtern sie es Patienten, die Infos besser aufnehmen zu können. Visuelle Medien stützen die Erinnerungsleistung und Informationsverarbeitung. Therapeuten sollten Patienten ermutigen, Fragen zu stellen, wichtige Aspekte der Kommunikation in eigenen Worten zu wiederholen und sie dabei unterstützen, konkrete Handlungsschritte zu entwickeln.

Evidenzbasierte Techniken zur Gesprächsführung sowie geeignete Qualifizierungsmaßnahmen helfen, effektive und adäquate Kommunikation zu erlernen, zu praktizieren und diese zu reflektieren (MATERIAL- UND METHODENSAMMLUNG).


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Auf relevante Informationsquellen verweisen

Ergotherapeuten können Patienten im Umgang mit Gesundheitsthemen unterstützen, indem sie im Rahmen der Behandlung gut verständliche, wissenschaftlich fundierte und unabhängige Informationen bereitstellen oder auf diese verweisen. Sie selbst sind hervorragend geeignet, um existierende Infos, zum Beispiel zu Therapieoptionen, Hilfsmitteln oder gesundheitsbewusstem Verhalten, im Alltag zu bewerten. Eine adäquate Unterstützung der Patienten heißt nicht, dass Therapeuten über alle bestehenden Angebote informiert sein oder diese bereithalten müssen. Sie sollten jedoch fähig sein, Infos zu bewerten und auf qualitativ hochwertige Infoquellen zu verweisen, beispielsweise die digitalen Plattformen www.gesundheitsinformation.de oder www.washabich.de.

Oft genügen aber spezielle Gesundheitsinformationen alleine noch nicht. Viele Patienten benötigen auch Infos zum Gesundheitssystem, zu Prozessen und formalen Abläufen (z. B. bei Entlassung oder Überweisung) und zu ihren Rechten als Patient. Auch hier können Therapeuten als Lotsen im Gesundheitssystem agieren.

Material- und Methodensammlung

Verständlich informieren und beraten

Effektive Techniken für die Kommunikation mit Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz sind Teil einer Broschüre, welche die Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz herausgegeben hat [4]. Die 24 zumeist international erprobten Materialien und Methoden widmen sich diesen Schwerpunkten:

  • Was sollte ich zum Thema Gesundheitskompetenz wissen?

  • Wie erkenne ich eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz?

  • Was ist im Gespräch zu beachten?

  • Was ist bei der Erstellung von Gesundheitsinformationen zu beachten?

  • Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden?

Die Sammlung kann man sich kostenlos herunterladen unter: www.uni-bielefeld.de/ gesundhw/ag6/downloads/Material-_und_Methodensammlung.pdf


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Gute Voraussetzungen in Krankenhäusern und Therapiepraxen schaffen

Damit Therapeuten gesundheitskompetent agieren können, müssen Gesundheitseinrichtungen entsprechende Rahmenbedingungen bieten. Denn Organisationskultur, Führungsstil, Gestaltung der Einrichtung und Personalpolitik können die Kommunikation über gesundheitsbezogene Themen erleichtern. Zum Beispiel durch das Gestalten einer nutzerfreundlichen Umgebung durch Patientenleitsysteme und Schulung von Personal in Kommunikationstechniken.

Therapeuten sollten fähig sein, Infos zu bewerten und auf hochwertige Quellen zu verweisen.


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So möchte Deutschland die Gesundheitskompetenz verbessern

Die Weltgesundheitsorganisation hat kürzlich herausgestellt, wie wichtig die Förderung der Gesundheitskompetenz ist [5]. Deutschland geht das Problem durch die im Juni 2017 gegründete Allianz für Gesundheitskompetenz an. In ihr arbeiten Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums, der Spitzenorganisationen im Gesundheitswesen und der Gesundheitsministerkonferenz der Länder zusammen [6], um bestehende Ansätze und Maßnahmen im Gesundheitswesen zu bündeln, zu stärken und besser aufeinander abzustimmen sowie neue zu entwickeln.

Darüber hinaus erarbeiten 15 internationale Experten den „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“: Empfehlungen, über die sich die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland verbessern lässt. Der Aktionsplan konzentriert sich auf drei Handlungsschwerpunkte:

  • Gesundheitskompetenz in allen Lebenswelten zu fördern und zu erhalten;

  • das Gesundheitssystem gesundheitskompetent und nutzerfreundlich zu gestalten;

  • mit chronischer Krankheit gesundheitskompetent zu leben.

In die Entwicklung des Plans sind Entscheidungsträger aus allen Teilen der Gesellschaft einbezogen. Anregungen und Veränderungsvorschläge werden durch Einzelgespräche und Anhörungen systematisch eingeholt und diskutiert. Im Juli 2017 wurde über die bisherigen Eckpunkte des Plans in einer Konsultationsveranstaltung beraten. Insgesamt 60 Entscheidungsträger aus Politik und Praxis, darunter auch Therapeuten, diskutierten über die Handlungsschwerpunkte, die damit verbundenen Empfehlungen und mögliche Kooperationen.


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Ergotherapeuten für gesamtgesellschaftliche Strategie wichtig

Ergotherapeuten sind nah am Patienten und haben ein erhebliches Potenzial, um die Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken. Dennoch sind sie auf der politischen Bühne bislang wenig präsent. Die laufenden Aktivitäten zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz bieten große Chancen für den Berufsstand, denn das Thema erfährt eine öffentliche Aufmerksamkeit. Beteiligen sich möglichst viele Ergotherapeuten an der Entwicklung und Umsetzung des Nationalen Aktionsplans, übernehmen sie gesellschaftliche Verantwortung und tragen entscheidend dazu bei, dass Patienten in Zukunft aktiver an ihrer gesundheitlichen Versorgung mitwirken können. Das stärkt die Rolle der Ergotherapie in der Gesundheitsversorgung.

Heide Weishaar, Eva-Maria Berens, Dominique Vogt, Svea Gille, Annett Horn, Sebastian Schmidt-Kaehler, Doris Schaeffer

Mitwirken

Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz

Projektleiterin ist Prof. Doris Schaeffer. Der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz wird am 19.2.2018 in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung der Öffentlichkeit vorgestellt. Für weitere Informationen steht Dr. Heide Weishaar gerne zur Verfügung: weishaar@hertie-school.org.


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