Anorexia nervosa
Epidemiologie
Für Frauen liegt die Punktprävalenz für das Risikoalter zwischen 15 und 35 Jahren
bei ca. 0,4%. Die Anorexie weist dabei die höchste Mortalitätsrate aller psychischen
Erkrankungen auf. Die Standardized Mortality Ratio (SMR) berücksichtigt die Sterblichkeitsrate
der Altersgruppe für den jeweiligen Zeitraum, wobei Werte > 1 eine Übersterblichkeit
ausdrücken. Für anorektische PatientInnen werden Werte zwischen 10,5 und 3,3 angegeben,
das heißt, es ist bei PatientInnen mit einer Anorexie mit einer drei- bis zehnfach
höheren Sterbewahrscheinlichkeit zu rechnen. Haupttodesursache sind somatische Komplikationen
im Rahmen der Unterernährung und Elektrolytentgleisungen, ein Drittel entfällt auf
Suizide.
Merke
Die Anorexia nervosa stellt eine schwere und bedrohliche psychische Erkrankung dar.
Dies muss Patienten und Familienangehörigen im Rahmen der Psychoedukation eindrücklich
vermittelt werden, da im Rahmen der Therapie allen Beteiligten eine hohe Motivation
abverlangt wird.
In Ländern mit Nahrungsmangel finden sich anorektische Erkrankungen weit weniger häufig.
So wurde z. B. in einer Untersuchung auf der karibischen Insel Curaçao [2] kein einziger Fall bei der schwarzen Bevölkerung, welche die Majorität der Bewohner
der Insel ausmacht, festgestellt.
Merke
Umweltfaktoren spielen neben genetischen Faktoren eine wichtige Rolle.
Besondere Risikogruppen sind Models, TänzerInnen und LeistungssportlerInnen, wobei
die Anorexia nervosa bei Mädchen und Frauen deutlich häufiger als bei Jungen und Männern
auftritt (Geschlechterverhältnis ca. 10 : 1).
Pathogenese
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
-
Vermeidung hochkalorischer Speisen und/oder
-
selbstinduziertes Erbrechen,
-
Abführen/Laxanzienmissbrauch,
-
übertriebene körperliche Aktivität,
-
Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.
Es besteht eine Körperschemastörung, das heißt, es besteht eine Wahrnehmungs- und Interpretationsstörung auf visuellen
und somatosensorischen Kanälen, sich als deutlich dicker zu empfinden, als dies objektiv
der Fall ist.
Merke
Häufig nehmen deutlich untergewichtige PatientInnen sich immer noch als zu dick wahr,
und es liegt die überwertige Idee vor, zu dick zu sein, die sich durch rationale Argumente
nicht korrigieren lässt. Zudem bestehen ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme.
Die endokrine Störung (Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse) findet Ausdruck in einer
sekundären Amenorrhö bei postpubertärer Anorexie. Bei Anorexie vor Eintritt der Pubertät
ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert, der Körper stellt sich
mit einem Wachstumsstopp und einer primären Amenorrhö auf das reduzierte Nährstoffangebot
ein.
Die Anorexie wird weiter unterteilt in zwei Subtypen:
-
den Purging-Typus, der mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme einhergeht, wie Erbrechen, Abführmittel-
oder Diuretikaabusus, bzw. in selteneren Fällen der bewussten inkorrekten Anwendung
von Insulin bei bestehendem Diabetes mellitus, sowie
-
den restriktiven Typus ohne aktive Maßnahme zur Gewichtsreduktion, stattdessen wird der Nahrungsmittelkonsum
insbesondere in Bezug auf hochkalorische Speisen stark eingeschränkt.
Diagnostik
Merke
Das wichtigste diagnostische Kriterium der Anorexia nervosa ist, dass das Körpergewicht
mindestens 15% unter dem zu erwartenden Gewicht liegt, ohne dass hierfür somatische
Ursachen eine ausreichende Erklärung darstellen.
Bei Kindern und Jugendlichen wurde vorgeschlagen, eine Gewichtsreduktion unter der
10. Altersperzentile als Untergewicht zu werten [3]. DSM 5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric
[4], US-amerikanischer Standard) verzichtet auf eine explizite Definition des Untergewichts.
Kritisch muss der Vorschlag gewertet werden, nach ICD 11 (International Classification
of Diseases, WHO, Europäischer Standard) bei Kindern und Jugendlichen nur eine Gewichtsabnahme
unter die 5. Altersperzentile als Untergewicht zu werten.
Bei Erwachsenen gilt aktuell als Grenze für das Gewichtskriterium ein BMI (Body Mass
Index = Körpergewicht zum Quadrat/Körpergröße) unter 17,5 (ICD-10) [5]. Dazu ist es essenziell, bei allen Patienten Körpergröße und Körpergewicht eindeutig
festzustellen. Zum Wiegen sollten die Patienten in Unterbekleidung und ohne Schuhe
mit einer geeichten Waage gewogen und ebenso gemessen werden.
Merke
Bei Kindern und Jugendlichen erfolgt die Auswertung der Messwerte anhand altersbezogener
Perzentilenkurven. Neben dem aktuellen Gewicht ist die Veränderung des Gewichts, z. B.
die Schnelligkeit einer Gewichtsabnahme, von entscheidender Bedeutung.
Früherkennung
Im pädiatrischen Setting sollte bei folgenden Risikofaktoren an das Vorliegen einer
Essstörung gedacht werden.
-
junge Frauen mit niedrigem Körpergewicht, insbesondere in Risikogruppen,
-
PatientInnen, die mit Gewichtssorgen kommen, aber nicht übergewichtig sind,
-
Mädchen und Frauen mit Zyklusstörungen oder Amenorrhö
-
PatientInnen, die in der körperlichen Untersuchung mangelernährt erscheinen, ohne
dass eine körperliche Ursache für die Mangelernährung festgestellt werden kann,
-
PatientInnen mit gastrointestinalen Symptomen,
-
PatientInnen mit wiederholtem Erbrechen ohne erkennbare Ursache,
-
Kinder mit Wachstumsverzögerung oder „Perzentilenknick“ bei der Gewichtsentwicklung.
Zum Screening eignet sich die Frage: „Machst Du Dir Sorgen wegen Deines Gewichts oder
Deiner Ernährung?“ bzw. an die Eltern gerichtet: „Machen Sie sich Sorgen wegen des
Gewichts oder der Ernährung Ihres Kindes?“ Hierbei ist wichtig, die Patienten einer
möglichst frühzeitigen Behandlung zuzuführen und die Essstörung zu identifizieren,
es dauert ansonsten sehr lange, bevor die Eltern oder nahestehende Personen mit dem
Anliegen der Abklärung einer Essstörung an den Kinderarzt oder Kinder- und Jugendpsychiater
herantreten.
Merke
Für eine Früherkennung sind entsprechende Aufklärung von Eltern und insbesondere professionellen
Betreuungspersonen sowie eine berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit sehr wichtig.
Psychopathologische und körperliche Merkmale
Körpergewicht und Selbstwertgefühl Leider ist eine Selbstbewertung als zu dick auch bei gesunden jungen Frauen in der
westlichen Kultur sehr häufig. Der Übergang zum pathologischen Ausmaß ergibt sich
erst durch die Häufigkeit und die Intensität, die derartige Gedanken annehmen. Die
PatientInnen verlieren die kritische Distanz zur Bewertung des eigenen Körpers, sodass
das Selbstwertgefühl der Betroffenen erheblich vermindert und die Lebensqualität deutlich
eingeschränkt wird.
Restriktives Essverhalten und Einschränkung der Kalorienzufuhr Das eigen- und fremdanamnestische Erfragen der Essgewohnheiten oder die direkte Verhaltensbeobachtung
bei stationär aufgenommenen Patienten stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik
dar.
Praxis
Typisches Essverhalten bei Anorexia nervosa
-
Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln
-
Auslassen von bestimmten Mahlzeitbestandteilen oder ganzen Mahlzeiten
-
Erwerb von Kalorienwissen und Kalorienzählen nach den Mahlzeiten
-
Abwiegen von Nahrungsmitteln
-
exzessiver Konsum von Flüssigkeiten vor den Mahlzeiten, um die Nahrungsaufnahme zu
begrenzen oder gar eine Flüssigkeitseinschränkung, insbesondere bei jüngeren Patienten
-
Veränderungen des Mahlzeitenrhythmus oder der Mahlzeitenstruktur, z. B. die Beschränkung
auf eine einzige Mahlzeit pro Tag oder die Reduktion auf Kleinstmahlzeiten
-
Vermeidung von Essen in der Gemeinschaft
Gewichtsreduzierendes Verhalten Es gibt eine Reihe von zielorientierten Verhaltensweisen, um Nahrung möglichst rasch
wieder aus dem Körper zu entfernen. Dazu dienen vor allem Erbrechen oder Laxanzien.
Erbrechen kann dabei automatisiert, entweder durch mechanische Reizung des Rachenraums
oder bei entsprechender Übung auch spontan induziert werden. Laxanzien werden regelmäßig
eingenommen. Zu den gewichtsreduzierenden Maßnahmen zählen auch exzessiver Sport und
Bewegung sowie Saunabesuche.
Standardisierte diagnostische Instrumente
Um die vorgenannten Verhaltensweisen von normalem Verhalten in der Adoleszenz, in
der Diäten durchaus ein häufiges Verhaltensmuster darstellen, abzugrenzen, sollte
die Diagnose nach den Kriterien des ICD 10 bzw. DSM 5 standardisiert erstellt werden.
Im Kindesalter (8 – 14 Jahre) steht die Eating Disorder Examination für Kinder (ChEDE)
als strukturierter Interviewleitfaden zur Verfügung, der auch durch einen Fragebogen
für Kinder (ChEDE-Q) ergänzt werden kann [6]. Das Interview basiert auf der Eating Disorder Examination (EDE) von Fairburn und
Cooper, einem strukturierten Experteninterview zur Klassifikation und Erfassung der
spezifischen Psychopathologie von Essstörungen bei Erwachsenen und Jugendlichen. Das
Interview sowie der Fragebogen erfassen in kindgerechter Sprache vier Subskalen zum
gezügelten Essverhalten, zu Sorgen über Essen, Gewicht und Figur. Als weiteres Fragebogenverfahren
kann das Eating Disorder Inventary (EDI-2) eingesetzt werden, das aus dem Erwachsenenbereich
stammt [7].
Das SIAP-EX (Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen
für Expertenbeurteilung) erfasst für Erwachsene und Jugendliche innerhalb von 30 – 60
Minuten als Expertendiagnostik den jetzigen Zustand und frühere Zeiträume anhand folgender
Subskalen: Körperschema und Schlankheitsideal, allgemeine Psychopathologie, Sexualität
und soziale Interaktion, bulimische Symptome, gegensteuernde Maßnahmen, Fastensubstanzmissbrauch,
atypische Essanfälle [8]. Das Instrument ist gut brauchbar für Diagnosestellung, Therapieplanung und Verlaufserhebung.
Es wird in Forschung und Praxis eingesetzt. Basierend auf diesem Instrument gibt es
die Fragebogenversion des Inventars zur Selbsteinschätzung (SIAB-S) [9].
Medizinische Diagnostik
Die medizinische Diagnostik dient zum einen der Gefahrenabwehr, um Komplikationen
durch das Untergewicht frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden, zum anderen differenzialdiagnostischen
Abwägungen, um andere körperliche Ursachen für die Kachexie auszuschließen. Neben
Körpergröße und Körpergewicht (BMI nach Altersperzentile) sollten immer Blutdruck und Puls bestimmt werden. Zudem sind zur Abschätzung der vitalen Gefährdung durch das Untergewicht
und Folgen des Erbrechens folgende Parameter zu erfassen:
-
Körpertemperatur
-
Inspektion der Körperperipherie zur Bestimmung von Durchblutung (Akrozyanose) und
Vorliegen von Ödemen
-
Herzgeräusche oder Erguss
-
Puls- und Blutdruckverhalten bei Lageänderung im Sinne des Orthostase-Tests
-
Elektrolyte (Natrium, Kalium, Chlorid, Phosphat, Magnesium)
-
Blutbild, Blutsenkung, Harnstoff, Kreatinin, Leberfunktionstest, Blutglukose, TSH,
Urinstatus
-
Elektrokardiogramm
Bei einem BMI < 15 bei Erwachsenen bzw. bei einem BMI unter der 3. Perzentile sollte
eine stationäre Krankenhausbehandlung erfolgen. Bei BMI < 12 besteht eine erhöhte
Mortalitätsrate durch ein entsprechendes Risiko kardialer Komplikationen.
Praxis
Gefährdungsindikationen
Wichtige Gefährdungsindikationen sind
-
eine Bradykardie mit einer Herzfrequenz von unter 40/min,
-
eine Tachykardie mit einer Herzfrequenz > 110/min,
-
ein Blutdruck von < 90/60 mmHg,
-
ein Abfall des Blutdrucks um mehr als 20 mmHg oder ein Anstieg der Herzfrequenz um
20 Schläge/min im Orthostase-Test.
Bei deren Vorliegen muss die Notwendigkeit einer stationären Behandlung überprüft
werden. Es empfiehlt sich die Durchführung eines Echokardiogramms zur Dokumentation
und Verlaufsbeurteilung eines eventuell vorliegenden Perikardergusses.
Bei Patienten mit Verdacht auf Erbrechen ist die Inspektion der Mundhöhle und der Speicheldrüsen von Bedeutung. In der Mundhöhle
finden sich häufiger Zahnschäden mit charakteristischen Mustern von Erosionen und
Veränderungen in der Mundschleimhaut. Die Ohrspeicheldrüsen und Zungengrundspeicheldrüsen
sind vergrößert. Darüber hinaus ist die Konzentration der Speichelamylase im Serum
bei Patienten mit Essstörungen bei Erbrechen erhöht. Ausgeprägte Zahnschäden durch
Säure bei Erbrechen können eine schwerwiegende lebenslange gesundheitliche Belastung
darstellen. Aus diesem Grund sind regelmäßige zahnärztliche Kontrollen und eine gezielte
Beratung zur Zahnpflege unerlässlich.
Es gibt eine Reihe von Hautveränderungen, die mit starkem Untergewicht einhergehen. Dazu gehören trockene Haut, Haarverlust,
Akne, Hautpigmentierungsstörungen, neurodermitische Hautveränderungen, generalisierter
Juckreiz, Hautinfektionen sowie eine typische Lanugobehaarung. In seltenen Fällen
werden diese Hautveränderungen als Allergien gedeutet und daraus weitere diätetische
Maßnahmen abgeleitet, die die Essstörungen verschlimmern.
Die Knochendichte ist bei Anorexia nervosa schon frühzeitig erheblich vermindert.
Im Blutbild weisen etwa 34% der Patienten mit einer Anorexia nervosa eine Leukopenie auf. Deutliche
Veränderungen des Blutbilds im Sinne von Thrombozytopenie oder Leukopenie bis hin
zu Hämatokritveränderungen sind ein Gefahrenindikator, der eine Indikation für eine
stationäre Behandlung darstellen kann.
Elektrolyte sind grundsätzlich und insbesondere bei Verdacht auf intensives Erbrechen engmaschig
zu untersuchen, um einen Kaliummangel von < 3 mmol/l als Gefahrenindikator in Verbindung
mit EKG-Veränderungen zu erkennen. Insbesondere bei Dehydratation kann das Kalium
im Serum jedoch immer noch im Referenzbereich sein, obwohl das intrazelluläre Kalium
bereits erheblich vermindert ist. Im Rahmen der Wiederernährung und zur Vermeidung
eines Refeeding-Syndroms sollte auf eine Hypophosphatämie, Hypokaliämie und Hypomagnesiämie
geachtet werden.
Ein Refeeding-Syndrom äußert sich in Ödemen, neurologischer und kardiologischer Symptomatik
bis hin zum akuten Herzversagen. Es tritt auf, wenn es im Rahmen der Wiederernährung
zu Insulinausschüttung und Glukose-, Kalium-, Phosphat- und Magnesiumaufnahme in die
Zellen kommt, sodass extrazellulär ein Kalium-, Phosphat- und Magnesiummangel entsteht.
Dies ist insbesondere bei parenteraler Wiederernährung wichtig, da eine Hypophosphatämie
dann häufiger auftritt. Allerdings besteht eine Gefahr auch nach zu hohem oralen Kohlehydratkonsum
nach längerem Fasten, weshalb auch die Kalorienzahl für die orale Wiederernährung
bei starkem Untergewicht langsam gesteigert werden muss.
Bei einer Blutglukosekonzentration von < als 60 mg/dl muss eine stationäre Behandlung erwogen werden. Beim Auftreten
von Infektionskrankheiten oder Intoxikationen können lebensbedrohliche Hypoglykämien
auftreten. Aufgrund der verminderten Muskelmasse befindet sich Kreatinin meist im niedrigen Referenzbereich. Eine chronische Hypokaliämie bei häufigem Erbrechen und Laxanzienmissbrauch kann in seltenen Fällen bis hin zum
Nierenversagen durch eine hypokaliämische Nephropathie führen. Zum Ausschluss einer
nicht mit einer Essstörung in Beziehung stehenden Schilddrüsenerkrankung wird die routinemäßige Bestimmung von TSH empfohlen, um eine Kachexie bei Hyperthyreose
auszuschließen.
Differenzialdiagnostik
Generell sind bei untergewichtigen Patienten die folgenden Erkrankungen auszuschließen:
-
Tumorerkrankung
-
endokrine Erkrankung (Diabetes, Hyperthyreose, Nebennierenrindeninsuffizienz)
-
gastrointestinale Erkrankung (Sprue, zystische Fibrose, Ösophagusstenose, chronische
Okklusion der A. mesenterica superior, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)
-
infektiöse Erkrankungen: Tuberkulose, Parasitosen, systemische Pilzerkrankungen, HIV
-
psychiatrische Erkrankungen mit Appetitminderung (Depression, Angst- und Zwangsstörungen,
somatoforme Störungen, Schizophrenie)
-
Drogen- und Substanzmissbrauch
Auch wenn sich nur selten ein Bild ergibt, dass einer Essstörung ähnelt, sollten bei
Patienten mit häufigem Erbrechen differenzialdiagnostisch eine Tumorerkrankung des
Gehirns (insbesondere hypothalamische Tumoren), endokrinologische Erkrankungen sowie
gastrointestinale Erkrankungen wie Magen- und Duodenalulzera, chronische Pankreatitis
und Sklerodermie ausgeschlossen werden.
Fallbeispiel Victoria – Diagnostik
Patientin Victoria (Name geändert) war bei Erstmanifestation einer restriktiven Anorexia
nervosa 16;1 Jahre alt. Sie wurde bei ihrem ersten vollstationären Aufenthalt 4 Monate
lang behandelt. Die stationäre Wiederaufnahme erfolgte 6 Monate nach Entlassung und
dauerte 6 Monate. Initial wurde die Patientin aus einer internistischen Klinik verlegt,
zum zweiten Behandlungsabschnitt kam sie freiwillig aus dem familiären Kontext bei
erneuter Gewichtsabnahme.
Bei beiden Klinikaufenthalten zeigte die Patientin zu Beginn einen deutlich reduzierten
Allgemeinzustand mit einer intermittierenden Sinusbradykardie. Zudem ließ sich ein
kleinerer Perikarderguss in der Echokardiografie nachweisen. Laborchemisch fiel ein
niedriges FT3 auf. Sie zeigte eine sekundäre Amenorrhö. In der körperlichen Untersuchung
ergab sich ein altersentsprechender entwicklungsneurologischer Befund. In der allgemein-pädiatrischen
Untersuchung ließen sich eine Akrozyanose, Cutis marmorata sowie Lanugobehaarung feststellen.
Victoria berichtet, dass sie 6 Monate vor Aufnahme begonnen habe abzunehmen, um eine
Bikinifigur für den Sommer zu bekommen. Dabei habe sie Wert darauf gelegt, sich gesünder
zu ernähren. Ihr Gewicht habe zu diesem Zeitpunkt 56 kg bei 1,73 m Körpergröße (BMI
17,3 kg/m²; 17. Altersperzentile) betragen, womit sie sich zu dick gefühlt habe. Zeitgleich
habe sie begonnen, sich körperlich mehr zu bewegen. So habe sie Sit-ups gemacht, sei
vermehrt Fahrrad gefahren und habe in der Tanz-AG in der Schule mitgewirkt. Sie habe
zunehmend weniger gegessen, sodass sie bis zum Aufnahmezeitpunkt über einen Zeitraum
von 6 Monaten insgesamt 18 kg an Gewicht verloren habe. Die Kalorienzahl pro Tag habe
sie reduziert auf 500 kcal pro Tag. Dabei habe sie hochkalorische Lebensmittel vermieden.
Seit 2 Monaten habe sie zudem eine chronische Obstipation entwickelt. Diese würde
zurzeit mit einem Abführmittel behandelt werden.
Zum Aufnahmezeitpunkt in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik wiegt Victoria
39,7 kg (BMI 13,2 kg/m², < 1. Altersperzentile). Sie gibt an, dass sich ihre Gedanken
täglich um die Kalorienzufuhr sowie um ihr Gewicht drehen würden. Sie habe immer noch
das Gefühl, dass sie zu dick sei. Sie habe deutliche Ängste, wieder an Gewicht zuzunehmen.
Bei der zweiten Aufnahme berichtet Victoria, dass sie sich nach Entlassung in psychotherapeutische
Behandlung begeben habe, welche sie aber auf eigenen Wunsch beendet habe. Im Rahmen
eines Urlaubs mit ihrem leiblichen Vater habe es vermehrt Konfliktsituationen gegeben
und sie habe sich wieder zunehmend mit dem Thema Essen beschäftigt. Im Urlaub mit
der Mutter und dem Bruder sei es ebenfalls zu Konflikten gekommen. Sie habe wieder
begonnen, restriktiver zu essen mit ca. 1200 kcal pro Tag. Die Konflikte im familiären
Rahmen hätten sich im Verlauf immer weiter zugespitzt, und in einer sich aufschaukelnden
Spirale habe sich ihr Essverhalten weiter verschlechtert bis auf 250 kcal pro Tag.
Zum Zeitpunkt der zweiten Aufnahme wiegt Victoria 43,1 kg (BMI 14,3 kg/m², < 1. Altersperzentile).
Als belastende Faktoren beschrieb Victoria bei beiden stationären Aufenthalten ein
konfliktreiches Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere zu ihrem Vater. Die Eltern
hätten sich 3 Jahre zuvor getrennt. Die Mutter habe damals recht zügig eine neue Beziehung
begonnen, welche Victoria nicht akzeptieren wollte. Der Vater habe sich im Rahmen
der Trennung zweimalig wegen eines Burn-outs psychiatrisch behandeln lassen müssen.
Insgesamt schildert Victoria, dass sie bei ihren Eltern früh gelernt habe, Verantwortung
zu übernehmen. So habe sie häufig im häuslichen Rahmen Aufgaben der Mutter übernommen
sowie als Streitschlichter zwischen den Eltern agiert. Manchmal habe sie das Gefühl
gehabt, dass sie mit dieser Rolle überfordert gewesen sei. Victoria besucht die gymnasiale
Oberstufe mit exzellenten Leistungen. In der Intelligenzdiagnostik (Wechseler-Intelligenztest
für Erwachsene, WIE) erzielte die Patientin einen Gesamt-IQ-Wert im oberen Durchschnittsbereich.
Als jüngeres Kind habe sie öfter an Trennungsängsten gelitten.
Therapie
Phasen der Therapie
Die Therapie der Anorexia nervosa gliedert sich in mehrere gestufte Phasen, die in
dieser Reihenfolge durchgeführt werden sollten:
-
Aufbau von Therapiemotivation, soweit möglich
-
Gewichtsrestitution und Normalisierung des Essverhaltens
-
Rückfallprophylaxe: Bearbeitung von Risiko- und ggf. „auslösenden“ Faktoren und/oder
Konflikten, Aufbau alternativer Interessen, Persönlichkeitsentwicklung
Da eine Bearbeitung von „Ursachen“ für die Essstörung eine gewisse Neuroplastizität
voraussetzt, kann diese effektiv meist erst nach zumindest teilweiser Normalisierung
des Untergewichts erfolgen, wenn wieder ausreichend Nährstoffe für Anpassungsprozesse
im Gehirn zur Verfügung stehen.
Merke
Unabhängig von auslösenden Faktoren entwickelt die Mager„sucht“ spätestens im Krankheitsverlauf
eine Eigendynamik.
Deshalb müssen die PatientInnen – wie bei anderen Suchtformen auch – zunächst wieder
erlernen, ein höheres Gewicht und mehr Nahrungsaufnahme zu tolerieren, bevor ein gesundes
Essverhalten über das Entwickeln eigener Interessen, Wahrnehmung und Regulation von
Emotionen, Genusstraining sowie sozialer Interaktion und Persönlichkeitsentwicklung
abseits von Leistungsansprüchen stabilisiert werden kann. Insoweit ist die Psychotherapie
bei stark untergewichtigen Patientinnen zu Beginn der Therapie geprägt von Beziehungsaufbau,
Psychoedukation, Motivationsbildung und supportiver Therapie zur Compliance zum Stufenplan.
Sukzessive erfolgt bei höherem Gewicht und je nach Aufnahmebereitschaft der Patientin
mit ihr zusammen die Erarbeitung ihrer persönlichen Faktoren, die die Erkrankung auslösten,
aufrechterhalten und auch in Zukunft Risikofaktoren darstellen. Es erfolgt der Aufbau
alternativer Verhaltensweisen abseits der Beschäftigung mit Essen und Gewicht. Dies
ist entscheidend dafür, dass ein erreichtes höheres Gewicht dauerhaft gehalten werden
kann (Rückfallprophylaxe).
Wirkfaktoren und Durchführung der Psychotherapie
Obwohl ausreichende empirische Evidenz fehlt, besteht Einigkeit aller Experten darüber,
dass eine psychotherapeutische Behandlung der Anorexia nervosa unabdingbar ist.
Einzelne Ziele sind:
-
Wiederherstellen und Halten eines für Alter und Größe angemessenen Körpergewichts
-
Normalisierung des Essverhaltens
-
Behandlung körperlicher Folgen von Essverhalten und Untergewicht
-
Beeinflussung der dem Störungsbild zugrunde iegenden Schwierigkeiten auf emotionaler
kognitiver und interpersoneller Ebene
-
Förderung der sozialen Integration, die oft mit einem Nachholen verpasster Entwicklungsschritte
verbunden ist
Die meisten Behandlungsansätze berücksichtigen heute die folgenden Bereiche: Verhaltensprobleme
im Hinblick auf fehlende Mahlzeitenstrukturen, Essrituale, selektive Nahrungsauswahl
sowie kognitive Fehlannahmen der Patienten und psychodynamische Aspekte wie Selbstwert-
und Körpererleben, Entwicklung der Geschlechtsidentität, Umgang mit Affekten, Regulation
von Nähe und Distanz in Beziehung, Perfektionismus sowie die Familiendynamik. In der
Regel ist ein multimodales Vorgehen angemessen, das zusätzlich auch psychoedukative
Anteile und Ernährungsberatung beinhaltet. In vielen Fällen werden psychische Schwierigkeiten
erst nach Besserung der körperlichen Situation zugänglicher. Es liegen erste Wirksamkeitshinweise
sowohl für die kognitiv-behaviorale Therapie als auch für psychodynamische Therapieansätze
und die Familientherapie vor. Auch eine multisystemische Behandlung ist möglich. Spezifische
Therapiemethoden sind einem unspezifischen Vorgehen vorzuziehen. Eine Diätberatung
alleine ist nicht ausreichend.
Therapiemotivation und Verhaltenstherapie
Insbesondere schwer betroffene Kinder und Jugendliche mit einer Anorexia nervosa weisen
zum Zeitpunkt der Behandlung nur eine geringe Eigenmotivation auf. Hier kommt die
Bedeutung der Mager„sucht“ besonders zum Tragen. Die Anorexie kann identitätsstiftenden
Charakter besitzen, und die PatientInnen sind nicht selten stolz auf ihre körperliche
Erscheinung und ihr Gewicht. Hinzu kommen Schamgefühle zur Erkrankung und Gefühle
geringer Selbstwirksamkeit sowie Selbstwertprobleme. Deshalb kommt der Therapiemotivation
und der Gestaltung der therapeutischen Beziehung eine besondere Bedeutung zu.
Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist die Einbeziehung der Eltern bzw. Sorgeberechtigten
in den therapeutischen Prozess essenziell. Dabei ist es wichtig, dass der Therapeut
als unparteiisch wahrgenommen wird. Der Therapeut sollte weder als Verbündeter der
Eltern gegen das Kind noch als Verbündeter des Kindes gegen die Eltern auftreten und
wahrgenommen werden. Zu Beginn der Behandlung werden Kinder- und Jugendliche nicht
selten von den Sorgeberechtigten geschickt. Hier ist extrem wichtig, dass die Kinder
bzw. Jugendlichen die Erfahrung machen, dass der Therapeut ihr gestörtes Essverhalten
nachvollziehen kann und nicht verurteilt.
In der Verhaltenstherapie wird in der diagnostischen Phase großer Wert darauf gelegt,
die PatientInnen über das weitere Vorgehen diagnostischer Erhebungen, Therapiestrategien
und den Ablauf zu informieren. Über diese Psychoedukation wird versucht, eine tragfähige
therapeutische Beziehung herzustellen. Zu diesem Ziel setzt der Therapeut im Erstgespräch
Strategien ein, die der Entpathologisierung von Gedanken, Gefühlen oder Verhaltensweisen
dienen, über die die Patienten in der Regel nur unter starken Scham- und Schuldgefühlen
berichten.
Bei der Erarbeitung des Modells der Störung muss interaktiv und nicht direktiv vorgegangen
werden. Die Patienten werden angeleitet, das Erklärungsmodell anhand von Beispielen,
die die eigene Person betreffen, durchzuspielen. Sie sollen Zweifel und Fragen frei
äußern und eigene emotionale Erfahrungen und Bedürfnisse berichten. Mögliche Einwände
werden antizipiert und in das Erklärungsmodell integriert. Die Patienten sollen nach
der Methode des geleiteten Entdeckens offene Fragen selbst beantworten. Dies gilt
auch für die Ableitung des Veränderungsmodells, d. h. für den Therapievorschlag. Hierzu
finden übliche Methoden der kognitiven Therapie Anwendung, z. B. Fragen, was spricht
für bzw. gegen eine Gewichtszunahme.
Merke
Wichtig ist, dass sich die PatientIn nach Möglichkeit in ihren Bedürfnissen und ihrer
Emotionalität verstanden und gesehen fühlt, und den Arzt/dieÄrtzin nicht als verlängerten
Arm der Eltern zur Durchsetzung von Nahrungsaufnahme erlebt.
Zum Abschluss fasst der Therapeut die besprochenen lang- und kurzfristigen Vor- und
Nachteile für oder gegen die Therapie noch einmal zusammen. Er greift Bedenken der
PatientIn auf und zeigt Verständnis für emotionale Konsequenzen und Entscheidungen.
Auf Basis der Spiegelung körperlicher und sozialer Einschränkungen durch die Erkrankung
versucht der Therapeut soweit möglich eine Eigenmotivation der Patienten herzustellen.
Dabei ist im Kindes- und Jugendalter die besondere Fürsorgepflicht der Eltern zu beachten,
da eine Eigenmotivation der Patienten nicht immer zu erreichen ist. In dieser Hinsicht
sind sehr klare Vereinbarungen und Grenzen, z. B. auch im Rahmen von ambulant schriftlich
gefassten Therapievereinbarungen, notwendig, insbesondere bei fehlender Eigenmotivation
und Krankheitseinsicht, z. B. bei starker Körperschemastörung, als Einstieg in die
Therapie. Der Arzt bewegt sich im Spagat zwischen Verständnis für emotionale Konflikte
und Probleme der Patienten bei gleichzeitig sehr klaren Vereinbarungen und auch Grenzsetzungen
in Bezug auf das Essverhalten und die Gewichtsentwicklung.
Psychodynamische/tiefenpsychologisch fundierte Therapie
Im Rahmen der psychodynamischen Therapie wird auf die wichtigen Übertragungsprozesse
zwischen Therapeut und Patient fokussiert. Die therapeutische Haltung wird ein dynamisches
Wechselspiel aus psychoedukativen und genuin psychotherapeutischen Behandlungsstrategien.
Neben einer empathischen Solidarisierung mit den Patienten kann auch das Sprechen
eines Machtworts im Sinne einer strukturierenden Maßnahme erforderlich sein. Der Therapeut
kann die Hilfs-Ich-Funktion bei wichtigen Entscheidungsprozessen im Hier und Jetzt
übernehmen.
Demgegenüber steht das Durcharbeiten repetitiver neurotischer, insbesondere interpersoneller
Verhaltensmuster. Für die Lebensphase charakteristisch sind zumeist ein Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt
und die damit einhergehende ambivalente Beziehung zu Vater oder insbesondere Mutter.
Diese Problematik findet sich in der Regel rasch in der therapeutischen Beziehung
wieder und kann konstruktiv genutzt werden.
Durch das problematische Selbstwerterleben erscheint die ressourcenorientierte Psychotherapie
ein wichtiger notwendiger Aspekt, sodass Fähigkeiten und bisher erbrachte Leistungen
besonders hervorgehoben werden müssen. Hierzu bietet eine wohlwollende, die Ressourcen
der Patientin fördernde Übertragungsbeziehung die Möglichkeit, positive Korrekturen
im Selbstwerterleben zu machen.
Ein wichtiges weiteres Therapieelement psychodynamischer Behandlungsmethoden ist das
Durcharbeiten der Symptombildung als Ausdruck der Wiederholung des Konfliktgeschehens
in der therapeutischen Beziehung.
Fallbeispiel Paula – Autonomiekonflikte bei Essstörungen
Paula (Name geändert) solidarisiert sich regelhaft mit ihrem Vater gegen ihre Mutter,
die völlig verzweifelt um eine stationäre Aufnahme ersucht, da sie ständig in Konflikte
mit ihrer Tochter in Bezug auf das Essen gerät. Die Mutter versucht, Paula zu kontrollieren,
um Erbrechen zu vermeiden, sie ist schwer enttäuscht von ihrer Tochter, die sie belügt
und Essen verschwinden lässt. Zuletzt kam es zu Handgreiflichkeiten, als die Mutter
versuchte, Paula zum Essen zu zwingen. Der Familienalltag wird durch Paula kontrolliert
und bestimmt, die durch ihr Nichtessen gegenüber den Eltern am längeren Hebel sitzt.
In der Therapie kommt es rasch dazu, dass Paula den Essensplan zunächst als persönlichen
Machtkampf mit dem fallführenden Therapeuten und dem Pflege- und Erziehungsdienst
ansieht. Sie ist zum Klinikaufenthalt nicht freiwillig bereit und wird von den Eltern
familiengerichtlich auf der geschützten Station untergebracht. Zunächst verweigert
Paula jegliche Nahrungsaufnahme. Sie versucht, ihren Vater dazu zu bewegen, sie aus
der schrecklichen Klinik zu holen. Die behandelnde Therapeutin merkt, wie sie durch
gewichtsmanipulierendes Verhalten und „Verweigerung“ der Patientin zunächst wütend
wird, nimmt die Emotion wahr und reflektiert diese. Sie ist zwar sehr konsequent in
ihrem Verhalten, um den Stufenplan zur Gewichtszunahme umzusetzen, zeigt sich aber
im professionellen Kontakt weiter empathisch, freundlich und unterstützend, da sie
die „Verweigerung“ der Erkrankung und nicht einer absichtlichen Entscheidung der Patientin
zuschreibt. Sie benennt das Autonomiestreben der Patientin und lässt keinen persönlichen
Machtkampf um die Gewichtszunahme entstehen. Sie supervidiert das Pflege- und Erziehungsteam
dementsprechend.
Eine wichtige therapeutische Herausforderung besteht darin, den Autonomiekonflikt
der Patientin zu erkennen und zu vermeiden, selbst in der unreflektierten Gegenübertragungsreaktion
(d. h. den Gefühlen, die die Patientin durch ihr Verhalten beim Arzt auslöst) in einen
Machtkampf zu geraten. Stattdessen ist hilfreich, in Bezug auf den gestuften Essensplan
auf evidenzbasierte Standards zu verweisen („das müssen wir so machen“) und Schritt
für Schritt ein Verständnis bei der Patientin für eigenständiges, selbstbestimmtes
Handeln abseits des Essens zu entwickeln. Dazu werden Macht- und Autonomiekonflikte
im Rahmen der Therapie entsprechend benannt und beleuchtet. Selbstwirksamkeit und
Nichtessen werden entkoppelt. Eine angemessene Abgrenzung von den Eltern und Konfliktlösestrategien
(anstelle von „Ich kontrolliere euch durch mein Nichtessen“) werden erarbeitet.
Die Übertragungsfokussierung wird begrenzt durch den Behandlungsvertrag, in dem klare
Grenzen und Strukturen gebende Handlungselemente in Bezug auf ein zu definierendes
Zielgewicht festzuhalten sind. Jeder Vertragsverstoß ist im Zusammenhang mit dem aktuellen
psychodynamischen Konflikt zu thematisieren.
Rolle der Angehörigen
Der Einbezug der Familie in die Therapie ist eine unabdingbare Voraussetzung. Zunächst
werden wichtige Informationen, in der Regel im Beisein der Betroffenen gegeben in
Hinblick auf:
-
Ursachen von Essstörungen,
-
aufrechterhaltende Bedingungen,
-
Prognose und zu erwartenden Verlauf,
-
körperliche Risiken und mögliche Folgeschäden,
-
adäquate Behandlungsmöglichkeiten,
-
individuelle Behandlungsplanung,
-
Methoden der Psychotherapie,
-
Risiken und Nebenwirkungen der Behandlung,
-
Empfehlung für den Umgang mit der Patientin.
Materialien werden hierzu u. a. durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
unter www.bzga-essstoerungen.de bereitgestellt.
Ambulante Therapie
Die ambulante Behandlung der Anorexia nervosa sollte primär psychotherapeutisch erfolgen.
Ergänzend sollte der niedergelassene Pädiater ein körperliches Monitoring durchführen.
Das Hinzuziehen einer mit Anorexia nervosa erfahrenen Ernährungsberaterin kann sinnvoll
sein. Vor Beginn der ambulanten Therapie sollten die Rahmenbedingungen mit der Patientin
und den Sorgeberechtigten klar besprochen werden, insbesondere im Hinblick auf den
Umgang mit Wiegeterminen, dem Vorgehen bei Gewichtsabnahme, Kontakten zum Hausarzt
und der Einbeziehung der Familie. Die Wirksamkeit der ambulanten Psychotherapie sollte
kontinuierlich anhand des Gewichtsmonitorings überprüft werden. Der niedergelassene
Kinderarzt, der Psychotherapeut, Sozialarbeiter, Ernährungsberater und Familientherapeut
sollten sich regelmäßig untereinander absprechen. Bei einer Verschlechterung oder
stagnierenden Entwicklung sollte eine Kombination von Behandlungsmethoden im ambulanten
Rahmen oder aber ein tagesklinischer oder stationärer Behandlungsabschnitt erwogen
werden. Bis zum Erreichen des Sportgewichts (s. u.) sollten Eingrenzungen des Sportunterrichts
und des Schulbesuchs erwogen werden. Nach Abschluss der stationären und wöchentlichen
ambulanten Psychotherapie sollten in regelmäßigen Abständen für mindestens ein Jahr
Folgetermine angeboten werden, die die Rezidivprophylaxe und die Aufrechterhaltung
des Therapieergebnisses zum Ziel haben.
Stationäre Therapie
Praxis
Kriterien für eine stationäre Behandlung
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rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (> 20% über 6 Monate)
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gravierendes Untergewicht (unterhalb der 3. Altersperzentile)
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fehlender Erfolg einer ambulanten Behandlung
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soziale oder familiäre Einflussfaktoren, die den Therapieprozess stark behindern (z. B.
soziale Isolation, problematische familiäre Situation, unzureichende soziale Unterstützung)
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ausgeprägte psychische Komorbidität
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körperliche Gefährdung oder Komplikationen
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geringe Krankheitseinsicht
-
Überforderung im ambulanten Setting, da dies zu wenig strukturierte Vorgaben bieten
kann (Mahlzeitenstruktur, Essensmengen, Rückmeldung zum Essverhalten, Motivationsbildung)
Die stationäre Behandlung sollte an Einrichtungen erfolgen, die ein spezialisiertes,
multimodales Behandlungsprogramm anbieten können. Bei körperlich bedrohlichen Zuständen
und fehlendem Einverständnis zur stationären Aufnahme ist der Einstieg in die Behandlung
im Rahmen von Zwangsmaßnahmen mit geschlossener stationärer Unterbringung nach § 1631b
BGB erforderlich. Hierzu stellen die Sorgeberechtigten einen entsprechenden Antrag
beim Familiengericht. Das Familiengericht genehmigt die stationäre Behandlung, auch
die Zwangsernährung, gegen den Willen der PatientIn.
Die Zwangsernährung kann durch verstärkte Aufsicht erfolgen, sowie bei völliger Verweigerung
der Nahrungsaufnahme auch mit einer Magensonde. Auch in diesem Fall ist darauf zu
achten, Zwangsmaßnahmen ausführlich zu begründen und sobald wie möglich die Zwangsernährung
durch eine eigenständige Nahrungsaufnahme durch die Patienten wieder zu ersetzen.
Jede Form von Zwangsmaßnahmen muss dem Ausmaß der körperlichen Bedrohung in angemessenem
Umfang gegenüber stehen. Während der Therapie berücksichtigt der Therapeut in seiner
Gesprächsführung die ambivalente Änderungsmotivation der PatientIn, die zwar gerne
die körperlichen Schwierigkeiten mit dem Untergewicht loswerden, aber nicht vom Körperschema
her zunehmen möchte.
Je nach den Fortschritten der Patientin auf einem Stufenplan ([Abb. 1]) wird eine Zunahme von Freiheiten und Vergünstigungen im Stationsalltag von der
Erfüllung von Gewichtszielen abhängig gemacht. Der Therapeut sollte vermeiden, in
die Rolle einer sanktionierenden Erziehungsperson zu rutschen, um mit erhobenem Zeigfinger
darüber zu wachen, dass die PatientIn der Nahrungsaufnahme folgt. Nach Möglichkeit
gibt der Therapeut die Verantwortung für die Veränderung an die Patienten zurück und
vermeidet auf diese Weise die Ausbildung von Widerstand. Das heißt, je stärker der
Therapeut versuchen würde, die Patientin davon zu überzeugen, dass sie doch zunehmen
solle, umso stärker würde die Patientin argumentativ im Sinne eines Bumerang-Effekts
ihre eigene Position verteidigen.
Abb. 1 Stufenplan bei stationärer Behandlung.
Praxis
Beispiel für einen Stufenplan bei stationärer Behandlung
Aufnahmegewicht 38,9 kg bei 1,61 m (BMI 15). Beginn mit 1400 kcal/Tag, später schrittweise
Erhöhung der Kalorienzahl bis auf 2400 kcal/Tag.
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Phase I:
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Stufe 1: 39 kg – alle Mahlzeiten gerichtetes Essen, 60 min Ruhezeit nach allen Mahlzeiten,
15 min Ausgang/Tag mit Erwachsenen
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Stufe 2: 39,5 kg – zusätzlich Beschulung auf Station eingeführt
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Stufe 3: 40 kg – eine Aktion nach Wunsch der PatientIn
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Phase II:
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Stufe 4: 40,5 kg – 15 min Ausgang mit Jugendlichen, 30 min Ausgang mit Erwachsenen
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Stufe 5: 41 kg – 2 h Beschulung in der Klinikschule, 1 Zwischenmahlzeit freies Essen
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Stufe 6: 41,5 kg – Ruhezeit auf 45 min nach Zwischenmahlzeiten reduziert, 60 min Ausgang
mit Erwachsenen, zweimal 15 min Ausgang mit Jugendlichen
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Stufe 7: 42 kg – Aktion nach Wunsch der PatientIn, 2 Zwischenmahlzeiten freies Essen,
Ruhezeit nach Zwischenmahlzeiten auf 30 min reduziert
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Phase III:
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Stufe 8: 42,5 kg – 3 h Beschulung in der Klinikschule, Erwachsenenausgang zeitlich
unbegrenzt, 15 min Alleinausgang
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Stufe 9: 43 kg (Sportgewicht) – Sport kann wieder durchgeführt werden, Frühstück freies
Essen, 30 min Ruhezeit nach allen Mahlzeiten, 30 min Ausgang mit Jugendlichen
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Stufe 10: 43,5 kg – Aktion nach Wunsch der PatientIn, alle Zwischenmahlzeiten freies
Essen, zweimal 30 min Ausgang mit Jugendlichen
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Phase IV:
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Stufe 11: 44 kg – 4 h Beschulung in der Klinik- oder Heimatschule, 30 min Alleinausgang
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Stufe 12: 44,5 kg – Abendessen freies Essen, 30 min Ruhezeit nur noch nach den Hauptmahlzeiten
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Stufe 13: 45 kg – Aktion nach Wunsch der PatientIn, 60 min Ausgang mit Jugendlichen
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Phase V:
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Stufe 14: 45,5 kg – Klinik- oder Heimatschule bis zum Mittagessen, zweimal 30 min
Alleinausgang
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Stufe 15: 46 kg – keine Ruhezeiten mehr, Mittagessen freies Essen
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Stufe 16: 46,5 kg – Aktion nach Wunsch der PatientIn, 2 Wochen Gewicht bei freiem
Essen halten, Ausgang mit Jugendlichen unbegrenzt, danach Entlassung (Zielgewicht
25. Altersperzentile – niedrigere Zielgewichte führen zur erhöhtem Rückfallrisiko)
Kontakte zu den Eltern/Bezugspersonen sollten nach Möglichkeit unabhängig vom Stufenplan
geplant werden, da der Einbezug der Familie in die Therapie einen wichtigen Wirkfaktor
darstellt. Aktivitäten, Reduktion von Ruhezeiten, mehr Ausgang und Freiheiten beim
Essen stellen dagegen häufig sehr geeignete Verstärker (Belohnungen) dar, die jedoch
individuell nach Wirksamkeit für die PatientInnen angepasst werden. Der obenstehende
Stufenplan dient lediglich als Beispiel zur Illustration, andere Gestaltungen sind
möglich. Das Aufteilen der Gewichtszunahme in überschaubare Zwischenziele reduziert
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung („Das schaffe ich nie“) gerade zu Beginn der Behandlung.
Cave
Vorsicht ist bei komorbider depressiver Symptomatik geboten, da dann der belohnende
Effekt von Aktivitäten und Ausgang überprüft werden muss.
Welche Gewichtszunahme ist zu erwarten? Im ambulanten Rahmen nahmen Patienten mit
Anorexia nervosa bei einem Ausgangs-BMI von 15,6 durchschnittlich pro Woche um 260 g
bei 1,65 m Körpergröße zu. Bei stationärer Behandlung waren dies 530 g pro Woche bei
einem Anfangs-BMI von 14,6 (S3-Leitlinie Essstörungen).
Therapeutische Aufgaben wie die Exposition gegenüber der eigenen Figur oder ein veränderter
Essensstil werden sukzessive eingeführt. Diese therapeutischen Aufgaben werden als
Verhaltensexperiment eingeführt, indem die Patienten angehalten werden, selbst herauszufinden,
wie sie mit ihrem Verhalten ihre Gefühle verändern können. Wichtig ist, dass der Therapeut
das Konzept der Selbstverantwortung für den Therapieerfolg als Haltung verinnerlicht
und authentisch vermitteln kann. Die Übergabe der Verantwortung an die Patientin erfolgt
schrittweise und dosiert, im Extremfall von einer Zwangseinweisung mit Ernährung mit
Magensonde über den Stufenplan bis hin zum völlig freien Essen. Aufgrund der Häufigkeit
von Autonomiekonflikten bei Essstörungen ist auch in der Arzt-Patienten-Beziehung
ein umsichtiger Umgang mit Macht und Verantwortung notwendig.
Krankheits- und Behandlungsverlauf
Der Verlauf der Erkrankung erstreckt sich in der Regel über mehrere Jahre und ist
sehr variabel. Die mittlere Dauer bis zu einer Remission betrug in einer Studie [10] durchschnittlich sechs Jahre. In einer Übersichtsarbeit [11] finden sich Heilungsraten von knapp 50%. 30% der Patienten besserten sich, wiesen
aber noch eine Restsymptomatik auf, dagegen kam es bei 20% zu einem chronischen Verlauf.
Je länger die Katamnese-Zeiträume waren, desto mehr remittierte Patientinnen fanden
sich. Nach zehn Jahren waren dies 73%. Desto höher lag allerdings auch die Sterberate.
Die Sterberate ist in der Regel auf medizinische Komplikationen und Suizide zurückzuführen.
Die Prognose von jungen PatientInnen hat sich in den letzten zwei Dekaden deutlich
verbessert und scheint in den meisten Fällen günstiger zu sein als bei erwachsenen.
In jüngeren 10-Jahres-Katamnesen [12] fanden sich bei Nachuntersuchungen im Jugendalter erstmals stationär behandelter
Patienten keine Todesfälle mehr.
Merke
Da der Heilungsprozess in der Regel einen Zeitraum von vielen Monaten, wenn nicht
Jahren umfasst, macht er einen Gesamtbehandlungsplan erforderlich, bei dem das stationäre,
teilstationäre bzw. tagesklinische und ambulante Setting ineinander verzahnt agieren.
Die Patientinnen sollen grundsätzlich frühzeitig behandelt werden, um die akute Symptomatik
zu behandeln und eine Chronifizierung zu vermeiden. Trotz intensiver therapeutischer
Bemühungen weist die Mehrzahl der PatientInnen nach einer stationären Behandlung zumindest
noch Restsymptome der Erkrankung auf, was eine gute Nachsorge und Rückfallprophylaxe
erforderlich macht. Eine entsprechende Vernetzung der Therapeuten ist zur Sicherstellung
der therapeutischen Kontinuität erforderlich. Die Behandlung soll störungsorientiert
sein und körperliche Aspekte der Erkrankung berücksichtigen.
Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte die Vermittlung in eine spezialisierte
therapeutische Wohngruppe nach § 35a SGB VIII (Eingliederungshilfe bei seelischen
Behinderungen) erwogen werden, wenn die Unterstützung in der häuslichen Situation
nicht ausreichend oder gesundheitsfördernd ist. Eine Wohngruppe sollte auch in Betracht
gezogen werden, wenn eine chronifizierte Essstörung vorliegt, die zur sozialen Isolation
führt oder bei der Probleme in der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben bestehen.
Fallbeispiel Victoria – Therapie
Die Behandlung erfolgte in einem multimodalen Behandlungskonzept mit einem verhaltenstherapeutischen
Stufenplan zur Gewichtsrestitution, der Teilnahme an Ergo- sowie Körpertherapie im
Einzel- und Gruppensetting, zweimal pro Woche einzelpsychotherapeutischen Terminen,
Ernährungsberatung, Kochgruppe, „Mensa-Gruppe“ zur Einübung des Essens auswärts sowie
alle 14 Tage familientherapeutischen Sitzungen mit der Patientin und ihren Eltern
sowie einer 14-tägigen Elterngruppe.
Zu Beginn der Behandlung wurde mit der Patientin ein Zielgewicht vereinbart. Anhand
dieses Zielgewichts wurde ein verhaltenstherapeutisch orientierter Stufenplan entwickelt
mit Gewichtszunahmen von 0,5 kg/Woche. Bei vor der Aufnahme deutlich restriktivem
Essverhalten von maximal 500 kcal/Tag wurde die Ernährung zunächst mit 700 kcal/Tag
wieder begonnen und im Verlauf bis zu 2400 kcal/Tag in 200-kcal-Schritten erhöht.
Dies erfolgte unter regelmäßigen laborchemischen Kontrollen. Es zeigten sich vereinzelnd
Auffälligkeiten in den Transaminasen sowie im Phosphat, dies jedoch nur zu Beginn
der Behandlung.
Zu Beginn erfolgte eine engmaschige Betreuung durch den Pflege- und Erziehungsdienst
mit vorgerichteten Speisen und festem Essensplan. Des Weiteren wurden nach den Mahlzeiten
Ruhezeiten von 1 Stunde festgelegt. Es erfolgten 3 Hauptmahlzeiten und 3 Nebenmahlzeiten.
Einmal pro Woche wurde die Patientin durch eine Ökotrophologin beraten. Mit zunehmender
Gewichtsentwicklung wurden vermehrt Mahlzeiten frei gegessen, sodass die Patientin
eigenständig ihre Teller vorbereitete. Zudem wurde mit steigendem Gewicht die Autonomie
der Patientin zunehmend unterstützt und so die Eigenverantwortung dargestellt. Die
Gewichtskontrollen wurden anfänglich täglich durchgeführt, im Verlauf nur noch einmal
pro Woche. Zum Ende des stationären Aufenthalts waren alle Mahlzeiten für die Patientin
frei zusammenstellbar. Sie besuchte die Heimatschule. Eine teilstationäre Phase erleichterte
den Übergang ins häusliche Umfeld.
Im Verlauf der Gewichtsrehabilitation zeigten sich immer wieder Anspannungsmomente
mit vermehrtem Bewegungsdrang nach den Mahlzeiten. Im Bereich des Körperbilds zeigte
sie Unsicherheiten mit Ängsten vor einer nicht zu stoppenden Gewichtszunahme. Zudem
berichtete die Patientin über das Gefühl, dass ihr Körper bereits völlig unförmig
sei und sie sehr darunter leide. Es kam zur Gewichtsmanipulation mit „Auftrinken“.
Immer wieder berichtete die Patientin von ihrer Angst und Ambivalenzen, die Erkrankung
loszulassen Sie empfand deutliche Vorteile durch die Erkrankung, die ihr völlige Kontrolle
über sich und Sicherheit gab.
Bei Entlassung nach dem ersten Behandlungsabschnitt gab Victoria an, dass sie keine
Schwierigkeiten mehr habe mit ihrer Erkrankung und dass sie nun gut vorbereitet sei.
Zum Zeitpunkt des zweiten Erkrankungsgipfels berichtet die Patientin, dass sie auch
nach der ersten Behandlung weiterhin täglich an die Kalorien und das Gewicht gedacht
habe. Dies habe sie zunächst aushalten können, sie sei jedoch eingebrochen, nachdem
sie wieder vermehrt Konflikte im häuslichen Umfeld erlebt habe. Danach sei sie wieder
in alte Verhaltensmuster zurückgefallen.
In Bezug auf ihr inneres Erleben berichtete Victoria von einer inneren Distanziertheit
und Kühle zu ihren Emotionen. Im Verlauf der Gewichtssteigerung kam es vermehrt zu
emotionalen Einbrüchen und es zeigten sich vermehrt depressive Anteile sowie wütende
Affekte. Diese konnte sie nur schwer aushalten. In diesem Rahmen beschrieb sie ebenfalls
ihre Ängste und Überforderungsbefühle, erwachsen und zur Frau zu werden. Zum einen
wisse sie, dass sie bereits seit Längerem viele Aufgaben übernehmen würde und auch
könne. Allerdings wünschte sie sich manchmal wieder, ein Kind zu sein und die Verantwortung
abgeben zu können an die Eltern.
Hinsichtlich ihrer Eltern zeigte Victoria deutlich wütende und enttäuschte Affekte
bezüglich der Trennung sowie des Wegganges des Vaters. Victoria hing sehr am Bild
einer heilen Familie mit ihr als Kind, und schwankte zwischen einer großen Nähe und
Anhänglichkeit sowie Konflikten mit ihrer Mutter. Victoria musste lernen, von den
kindlichen Versorgungswünschen Abstand zu nehmen, ihre Konflikte mit den Eltern in
reifer Weise anstelle über das Essverhalten auszutragen und ihre negativen Gefühle
dabei auszuhalten. Sie konnte für sich annehmen, dass ihr restriktives Essverhalten
unter anderem dazu diente, eigene Versorgungswünsche, negative Gefühle und die eigentlichen
Konflikte mit ihren Eltern abzuwehren und zu kontrollieren. Daneben konnte sie erkennen,
dass sie die Erkrankung im Sinne einer Sucht zunehmend im Griff hatte und einen schlechten
Ersatz für ihr eigentliches Leben darstellte. Die Gewichtsphobie besserte sich allerdings
erst, als Victoria ein entsprechendes Gewicht im Sinne einer Expositionstherapie (Konfrontation
und Gewöhnung) über einen ausreichend langen Zeitraum halten konnte.
Zusammenfassend zeigte sich eine Scheinautonomie mit Übernahme von elterlichen Aufgaben,
vor dem Hintergrund eines nicht ausreichend gelösten Autonomie-Versorgungs-Konflikts.
Im Bereich des Selbstwerts erzeugte die beschriebene Essproblematik eine deutliche
Selbstwertstabilisierung und ein Gefühl, die Kontrolle über ihren Körper und ihre
Emotionen zu haben.
Katamnese: Nach der zweiten stationären Behandlung begab sich die Patientin in eine
ambulante tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie erreichte das Abitur und
erfuhr keine erneute Gewichtsentgleisung. Die Psychotherapie wurde für insgesamt 3
Jahre fortgesetzt. Nach dem zweiten stationären Behandlungsabschnitt zog die Patientin
von zu Hause aus in eine eigene Wohnung mit unterstützenden ambulanten Jugendhilfemaßnahmen.
Es kam vereinzelt zu Gewichtsschwankungen, jedoch ohne erneute stationäre Behandlungsbedürftigkeit.
Nach abgeschlossenem Abitur folgte ein 6-monatiges Praktikum in einer sozialen Einrichtung.
Danach begann die Patientin das Studium der Humanmedizin und zeigt zum aktuellen Zeitpunkt
(22 Jahre) eine normale Gewichtsentwicklung. Aktuell sind keine psychiatrischen oder
psychotherapeutischen Behandlungen mehr notwendig.
Fazit
Ziel der Behandlung sind eine Normalisierung des Körpergewichts und des Essverhaltens
sowie die Bewältigung der psychischen Schwierigkeiten. Niedergelassenen pädiatrischen
Kollegen kommt eine wichtige Rolle bei der Ersterkennung und der begleitenden körperlichen
Betreuung der PatientInnen mit Anorexia nervosa zu. Sie sollen Betroffene dazu motivieren,
eine psychotherapeutische Behandlung aufzunehmen und sie von medizinischer Seite,
z. B. im Rahmen von regelmäßigen Gewichtskontrollen, unterstützen.