physiopraxis 2017; 15(10): 24-29
DOI: 10.1055/s-0043-113983
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Adduktorenzerrung – Lädierte Hinzieher

Philipp Hausser

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Publikationsdatum:
19. Oktober 2017 (online)

 

Die Diagnose Adduktorenzerrung fällt oft vorschnell, weiß Physiotherapeut Philipp Hausser. Dafür müssen jedoch bei der Untersuchung klar definierte Kriterien erfüllt sein. Dabei und auch in der Therapie helfen dem Therapeuten strukturierte Vorgehensweisen und dem Patienten spezielle Übungen.


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Philipp Hausser

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Hedda Rühle, Philipp Hausser ist Physiotherapeut, immatrikulierter MSc/OMT, Sportlehrer und Teilhaber zweier Praxen. Er unterrichtet an einer Physiotherapieschule und in der Fort- und Weiter bildung für die FOMT in den Bereichen Manuelle Therapie und orthopädische Themenkurse tätig.

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Abb.: S. Oldenburg (nachgestellte Situation)

Nicht selten erleben es Physiotherapeuten, dass der Patient schon vor der Anamnese und Untersuchung den Begriff „Adduktorenzerrung“ in den Mund nimmt. Gepaart mit einem gezielten Griff in den schmerzhaften Bereich – die Leistenregion. Die Adduktorenzerrung ist eine der wenigen Pathologien, die auch der Laie kennt. Je sportlicher der Patient, umso häufiger ist sie zudem bereits mit einer Selbsterfahrung verbunden. Auch in den Medien fällt der Begriff häufig, beispielsweise wenn ein Fußballprofi wegen einer Adduktorenzerrung oder Leistenproblemen pausieren muss. 70 Prozent der Fußballspieler haben während einer Saison Leistenbeschwerden [1]. Die Muskelverletzungen im Fußball an sich sind mit 30–35 Prozent aller Verletzungen beschrieben, davon betreffen wiederum 23 Prozent die Leistenregion [2]. Allein anhand dieser Zahlen wird die Häufigkeit der Beschwerden im Leistenbereich deutlich. Nicht jeder Leistenschmerz muss allerdings gleich ein muskuläres Problem sein, geschweige denn eine Adduktorenzerrung.

Klare Definitionen mussten her

Lange Zeit gab es sogar weder eine einheitliche Definition noch eine generelle standardisierte Klassifikation von Muskelverletzungen [2]. Das erschwerte die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen, und so entwickelten der Orthopäde und Sportmediziner Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und seine Kollegen 2013 auf der Münchener Konsensus-Konferenz zur Terminologie und Klassifikation von Muskelverletzungen die Idee einer gemeinsamen Sprache [3]. Sie definierten eine Muskelzerrung als eine indirekte Muskelverletzung ohne äußere Gewalteinwirkung und beschrieben sie als funktionelle bzw. neuromuskuläre Muskelläsion ohne strukturellen Schaden [3].

Die spindelförmige, aufgequollene und ödematöse Muskelzone bei einer Zerrung betrifft meist nur einen bestimmten Muskelabschnitt, häufig den Muskelbauch [2]. Kontinuitätsunterbrechungen im Muskelgewebe und Blutungen entstehen dabei nicht [2, 4]. Der Schmerz, der den Sportler letztlich daran hindert, weiterzumachen, vermuten Experten als hypoxämischen Schmerz. Demnach gäbe es einen Abschnitt im Muskelgewebe, der minderdurchblutet ist. Um dann die Gefahr, einen noch größeren Schaden zu nehmen, einzudämmen, sendet das Gewebe einen Reiz, den der Patient als Schmerz wahrnimmt und der ihn zum Abbruch der Aktivität zwingt.

Zu den am häufigsten betroffenen Muskelpartien an der unteren Extremität zählen die ischiokrurale Muskelgruppe, die Adduktoren, der M. quadriceps femoris und die Wadenmuskulatur. Genau in dieser Reihenfolge sind diese auch beschrieben. Die Adduktoren sind demnach sehr häufig von Verletzungen betroffen [5].


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Tonus und Aufwärmen spielen eine Rolle

Eine Muskelzerrung bzw. eine funktionelle Muskelläsion kann unterschiedliche Ursachen haben. Eine große Rolle spielen vor allem neuromuskuläre Tonusregulationsstörungen, die beispielsweise durch Ermüdung, Muskelschwäche oder ein Muskelungleichgewicht zwischen Adduktoren und Abduktoren entstehen [2, 6–9]. Zudem kann es zu Muskelzerrungen kommen, wenn der Sportler sich nicht adäquat zur bevorstehenden Beanspruchung aufwärmt [2, 6] oder wenn ihm noch die entsprechende sportartspezifische Bewegungskoordination fehlt. Dann kann er oft schnelle – vor allem exzentrische –Bewegungen und ein großes Bewegungsausmaß nicht ausreichend kontrollieren [2, 6, 10]. Auch Faktoren wie eine verminderte Beweglichkeit, Muskelsteifigkeit oder Muskelverletzungen sind in der Literatur als Auslöser für funktionelle Muskelläsionen beschrieben. Dies trifft jedoch insbesondere auf die ischiokrurale Muskelgruppe und den M. quadriceps femoris zu, weniger auf die Adduktoren [11].

Zerrungen
sind indirekte funktionelle Muskelläsionen ohne strukturellen Schaden, die nicht durch äußere Gewalteinwirkung entstanden.


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Diagnostik im Ausschlussverfahren

Eine Muskelverletzung und ihre Klassifikation zu identifizieren, ist in der physiotherapeutischen Untersuchung schwierig bis nahezu unmöglich. Dem Arzt hilft hier die bildgebende Diagnostik in Form von Ultraschall oder der Magnetresonanztomografie, mit der er die Verletzung als strukturellen oder nicht strukturellen Schaden differenzieren kann. Der Physiotherapeut kann vielmehr anhand einer strukturierten Differentialdiagnostik die Hypothese muskuläre Problematik aufstellen.

Wichtig ist es hierbei, mit den möglichen schmerzauslösenden Strukturen der Leistenregion zu beginnen und Hinweise auf etwaige Red Flags zu beachten. Dies tat auch eine Expertenrunde auf der ersten „World Conference on Groin Pain in Athletes“ 2014 in Doha in Katar. Sie teilten den Leistenschmerz in sogenannte Subgruppen ein [12]:

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ABB. 2 Funktionsmassage der Adduktoren mit gebeugtem Knie
Abb.: S. Oldenburg (nachgestellte Situation)
  1. Subgruppe Leistenschmerzen:

    • adduktorenbezogene Beschwerden

    • iliopsoasbezogene Beschwerden

    • leistenbandbezogene Beschwerden

    • schambeinbezogene Beschwerden

  2. Subgruppe Hüftgelenk:

    • Femoroacetabuläres Impingement (FAI)

    • Arthrose/Arthritis

  3. Andere Ursachen:

    • Schmerzausstrahlung LWS

    • Schmerzausstrahlung SIG

    • Nervenkompression (N. femoralis)

  4. Nicht zu vergessen:

    • maligne Veränderungen

    • Stressfrakturen

    • viszerale Schmerzauslöser

    • lymphatische Veränderungen

1. Subgruppe Leistenschmerzen

Diese möglichen schmerzauslösenden anatomischen Strukturen sollte der Therapeut bei der Hypothese Adduktorenzerrung berücksichtigen und in der Differentialdiagnostik so gut es geht ausschließen. In der Subgruppe Leistenschmerz gelten dabei folgende Kriterien:

  • Ein adduktorenbezogener Leistenschmerz zeigt sich bei einer Palpation dieser Muskelgruppe sowie bei Widerstandstests in Adduktion und/oder einer Dehnungsprovokation.

  • Ein iliopsoasbezogener Leistenschmerz tritt bei einer Palpation dieses Muskels sowie bei Widerstandstests in Flexion und/oder auch bei einer Dehnungsprovokation auf.

  • Ein leistenbandbezogener Leistenschmerz äußert sich bei einer Palpation des Leistenbandes sowie bei Widerstandstests der Bauchmuskulatur bzw. beim Husten, Pressen und Niesen (Valsalva-Manöver).

  • Ein schambeinbezogener Leistenschmerz zeigt sich bei einer Palpation des Schambeins und der angrenzenden Knochen.


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2. Subgruppe Hüftgelenk

Im Rahmen einer Schmerzprovokation durch Widerstandstests sollte der Therapeut selbstverständlich immer auch an die anderen Subgruppen Hüfte, LWS und SIG denken, da die Muskelkontraktionen Kompressionsbelastungen in Gelenken auslösen [13]. Auch das Valsalva-Manöver gilt immer wieder als Schmerzauslöser im Bereich der LWS. Deshalb ist eine weitere Differentialdiagnostik notwendig. In der Subgruppe Hüftgelenk gelten hierbei diese Kriterien:

  • Eine Hüftpathologie im Sinne einer Arthrose oder Arthritis äußert sich durch multidirektionale Bewegungseinschränkungen in mehr als zwei Bewegungsrichtungen. Hinzu kommen morgendliche Unbeweglichkeit länger als 60 Minuten, eine Abweichung des Gangbilds (Trendelenburg, Duchenne) sowie eine Muskelschwäche – insbesondere der Abduktoren.

  • Eine Hüftpathologie im Sinne eines Femoroacetabulären Impingements (FAI) kommt dann in Frage, wenn intraartikuläre Tests positiv sind. Dafür eignet sich der sogenannte FADIR-Test in Flexion, Adduktion und Innenrotation. Zudem kann der Therapeut eine Labrumbeteiligung über den sogenannten Fitzgerald-Test (auch als Zirkumduktionstest bekannt) abklären [14, 15].


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3. Subgruppe „Andere Ursachen“

In der Subgruppe „Andere Ursachen“ schließt der Therapeut die folgenden Pathologien aus:

  • Die Beschwerden sind als Schmerzausstrahlung der LWS zu werten, wenn sie sich durch eine LWS-Bewegung in Flexion, Extension, Seitneigung und Rotation provozieren lassen. Wenn sich dann durch wiederholte Bewegungen der LWS eine bevorzugte Bewegungsrichtung zeigt und das Phänomen der Zentralisation eintritt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Schmerzausstrahlung der LWS [16].

  • Eine Schmerzausstrahlung vom SIG ist es dann, wenn Schmerzprovokationstests diese auslösen. Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, wenn zwei von fünf beziehungsweise drei von sechs Tests positiv sind [17].

  • An eine Nervenkompression ist dann zu denken, wenn bei der Neurodynamischen Testung und/oder bei der Nervenpalpation Beschwerden auftreten [18].


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4. Subgruppe „Nicht zu vergessen“

Bei erfolgloser mechanischer Provokation des muskuloskeletalen Systems könnte man auch an einen viszeralen Schmerzauslöser denken. Des Weiteren sollte man Gefäßproblematiken nicht außer Acht lassen und Hinweise auf Red Flags beachten, welche grundsätzlich keine Kontraindikationen für Physiotherapie sind, jedoch ärztlich betreut und oder abgeklärt gehören.

Ziel bei diesem möglichen differentialdiagnostischen Vorgehen ist es grundsätzlich, den für den Patienten typischen Schmerz auszulösen. Die Hypothese „muskuläre Problematik in den Adduktoren“ in der Subgruppe Leistenschmerzen kann der Therapeut also nur dann differentialdiagnostisch bestätigen, wenn er alle anderen Ursachen ausgeschlossen hat oder diese nicht den typischen Schmerz auslösen. Zudem sollten die Beschwerden bei Palpation der Adduktoren, bei Widerstand in Adduktion und/oder bei einer Dehnung der Adduktoren auftreten. Auch das spricht jedoch noch nicht zwangsläufig für eine Muskelzerrung.

Der Patient muss schmerzfrei sein, um in den Sport zurückzukehren, damit kein struktureller Schaden entsteht.


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Therapie an die Wundheilung anpassen

Auch bei der Therapie einer Adduktorenzerrung bietet es sich an, ebenso wie in der Diagnostik, strukturiert vorzugehen. Einen evidenzbasierten Ablauf gibt es bis dato nicht, deshalb beruhen die gängigen Vorgehensweisen meist auf Erfahrungsberichten [2, 19]. Bei der Behandlung orientiert sich der Therapeut an der Wundheilung. Auch wenn bei der funktionellen Muskelläsion makroskopisch kein struktureller Schaden nachweisbar ist, kommt es doch zu einer spindelförmigen, aufgequollenen und ödematösen Muskelzone. Dies lässt wiederum auf einen akuten Zustand schließen. Einen möglichen Behandlungsplan beschreiben Müller-Wohlfahrt und Kollegen (BEHANDLUNGSAUFBAU).

Hinzu kommt, dass Muskulatur prinzipiell einen guten Selbstheilungsverlauf hat. Daher heilen diese Art von Verletzungen, vor allem bei Freizeitsportlern, häufig ohne Probleme und von selbst. Trotzdem sollte der Therapeut berücksichtigen, dass aus einer funktionellen Muskelläsion immer ein struktureller Schaden entstehen kann. Deshalb ist es wichtig, dass der Patient schmerzfrei ist, bevor er sportliche Aktivitäten wieder aufnimmt.

Philipp Hausser

Behandlungsaufbau

Therapie nach Wundheilungsphasen
(mod. nach Müller-Wohlfahrt 2013) [2]:

1. Akutphase

Am Tag der Verletzung:

  • Belastung reduzieren

  • schmerzauslösende Bewegungen vermeiden

  • nach Bedarf Eisanwendungen (5–15 Minuten, um Haut auf unter 13 Grad Celsius abzukühlen) [20]

  • Salbenverbände

Tag 1 nach der Verletzung:

  • nach Bedarf Eisanwendungen (s. o.) [20]

  • Elektrotherapie (Schmerzlinderung und Stoffwechselanregung)

  • klassische Massage/Funktionsmassage (ABB. 1 und 2, S. 24/26)

  • Stoffwechsel-, Lauf-, Ergometertraining und, wenn vorhanden, Bewegungsbadtraining – Cave: ohne Schmerz

2. Subakutphase/Aktivitätsphase

Tag 2 nach der Verletzung:

  • siehe Tag 1 nach der Verletzung, nur mit erhöhter Intensität

  • aerobes Lauftraining (ca. 20 Minuten)

  • leichte dynamische Mobilisationsübungen (ABB. A–D, S. 28)

  • Physikalische Therapie

    • Thermotherapie (z. B. heiße Rolle, Fango, Wärmepackung)

    • Elektrotherapie (Schmerzlinderung und Stoffwechselanregung)

  • klassische Massage/Funktionsmassage (ABB. 1 und 2, S. 24/26)

  • Weiterhin sollten keine Schmerzen entstehen.

Tag 3 nach der Verletzung:

  • Lauftraining (länger als 20 Minuten, mit wechselnder Geschwindigkeit)

  • dynamische Mobilisationsübungen (ABB. A–D, S. 28)

  • Physikalische Therapie

    • Thermotherapie (z. B. heiße Rolle, Fango, Wärmepackung)

    • Elektrotherapie (Schmerzlinderung und Stoffwechselanregung)

  • klassische Massage/Funktionsmassage (ABB. 1 und 2, S. 24/26)

  • Weiterhin sollten keine Schmerzen entstehen.

3. Vermehrte Aktivitätsphase/Trainingsphase

Tag 4–5 nach der Verletzung:

  • Wiederaufnahme des vollen Trainingsumfangs

  • Physikalische Therapie

    • Thermotherapie (z. B. heiße Rolle, Fango, Wärmepackung)

    • Elektrotherapie (Schmerzlinderung und Stoffwechselanregung)

  • klassische Massage/Funktionsmassage (ABB. 1 und 2, S. 24/26)

  • Weiterhin sollten keine Schmerzen entstehen.

4. Wettkampfphase

Um den Leistungsstand des Patienten zu analysieren und eine Empfehlung für den Wiedereinsteig in den Sport zu geben, eignen sich Assessments zum „Return to Activity“. Zudem sind Präventionsprogramme wie das FIFA 11+ aus dem Fußball (PHYSIOPRAXIS 9/17, S. 22) sinnvoll [21, 22].


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Abb.: S. Oldenburg (nachgestellte Situation)
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ABB. 2 Funktionsmassage der Adduktoren mit gebeugtem Knie
Abb.: S. Oldenburg (nachgestellte Situation)