Rechtlich betrachtet darf Ergotherapie gemäß § 11 der Heilmittelrichtlinie (HMR) nur
in einer Therapiepraxis oder als Hausbesuch erbracht werden. Aus medizinischen Gründen
kann der Arzt auch einen Hausbesuch in einer Tageseinrichtung oder einem Pflegeheim
verordnen. Weitere Optionen sieht die HMR nicht vor. Sie folgt damit der klassischen
Linie ärztlich-ambulanter Behandlung: Der Patient geht zum Arzt oder dieser kommt
zu ihm nach Hause, wenn er wegen gesundheitlichen Einschränkungen dessen Praxis nicht
erreichen kann.
Die meisten Therapieziele beziehen sich auf den Alltag
Die meisten Therapieziele beziehen sich auf den Alltag
Für die Ergotherapie sind in den Rahmenempfehlungen [1] in § 3 die Ziele wie folgt
festgeschrieben:
-
(2) „Den besonderen Belangen psychisch kranker, behinderter oder von Behinderung bedrohter
sowie chronisch kranker Menschen ist bei der Versorgung mit Heilmitteln Rechnung zu
tragen.“
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(3) „Die Ergotherapeutin … und die Krankenkassen haben darauf hinzuwirken, dass die
Versicherten eigenverantwortlich durch gesundheitsbewusste Lebensführung, Beteiligung
an Vorsorge- und aktive Mitwirkung an Therapiemaßnahmen dazu beitragen, Krankheiten
zu verhindern und deren Verlauf und Folgen zu mildern.“
Jede Ergotherapeutin weiß: Viele in der Ergotherapie gesteckten Ziele beziehen sich
auf den Alltag. Das spiegelt auch die Leistungsbeschreibung der Heilmittelrichtlinie
wider. Diese sieht Ergotherapie beispielsweise indiziert bei Störungen der Selbstversorgung
und der Alltagsbewältigung, im Verhalten, der Beweglichkeit und Geschicklichkeit sowie
im Bereich der interpersonellen Interaktionen und Beziehungen. Daraus leiten sich
Maßnahmen ab wie
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Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) in therapeutischen, alltagsnahen oder Alltagssituationen,
-
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) in therapeutischen, alltagsnahen oder Alltagssituationen,
-
Training der Alltagskompetenzen unter Berücksichtigung von Hilfsmitteln,
-
handlungsorientiertes Training,
-
Beratung und Schulung zur Durchführung von Aktivitäten individuell wichtiger Lebensbereiche
etc.
Die Neufassung der Rahmenempfehlungen von 2016 bezieht sich dabei ausdrücklich auf
die ICF und deren Konstrukte.
Alltag ist umfassender als Kochen, Putzen und Anziehen
Alltag ist umfassender als Kochen, Putzen und Anziehen
Es stellt sich daher die Frage, was mit Alltag gemeint ist. Philosophen und Sozialwissenschaftler
beschreiben Alltag als ein sehr viel umfassenderes Konstrukt als das (sich wiederholende)
Kochen von Eintopf, Putzen der Badewanne und Anziehen der Hose (S. 10). Sie erkennen
Alltag als Gegenwartswirklichkeit, die beeinflussbar ist und einem sozialen Kontext
entspringt und nicht zwangsläufig und ausschließlich im häuslichen Umfeld stattfindet.
Alltagswelten – oder moderner – Lebenswelten sind überall dort anzutreffen, wo Aufgaben,
Bedürfnisse und Rollen gelebt werden. Diesem Verständnis von Alltag kommt die Profession
Ergotherapie insgesamt mit ihren oben genannten Handlungskategorien sehr nah. Wenn
es allerdings um ambulante Ergotherapie geht, bleibt davon wenig übrig.
Gesundheit und Alltag sind eng miteinander verwoben
Gesundheit und Alltag sind eng miteinander verwoben
Laut Richtlinien und Rahmenempfehlungen ist es Aufgabe der ambulanten Ergotherapie,
die Alltagsbewältigung zu verbessern. Deshalb ist es notwendig, den persönlichen Alltag
des Klienten anzuschauen. Und der spielt sich an verschiedenen Orten zu verschiedenen
Zeiten ab, mit unterschiedlichen Aufgaben und Rollen, selbstgewählt oder fremdbestimmt.
Kann der Mensch diese Aufgaben und Rollen ausfüllen, hat er gemäß ICF die Voraussetzung
für ein gesundes Leben. Die ICF spricht von „funktionaler Gesundheit“, welche Körperstrukturen
und Funktionen umfasst, ebenso wie das Konzept der Aktivitäten und das Konzept der
Teilhabe an Lebensbereichen [7]. Denn spätestens mit der Definition der WHO: „Gesundheit
ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens
und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ [8] lässt sich feststellen:
Gesundheit ist auch von Faktoren abhängig, die sich der individuellen Lebenswelt bzw.
dem Alltag zuordnen lassen.
Wenn Gesundheit und Alltag so eng miteinander verwoben oder sogar abhängig voneinander
sind, muss dann nicht jede Form medizinischer Behandlung zwingend auch ein „Funktionieren“
im Alltag anstreben? Umso mehr, da ein Nichtausfüllen dieser Rollen krankheitsstiftende
Konsequenzen haben kann, wie Sozialpsychologin Marie Jahoda für das Lebensfeld Arbeit
zeigte [9].
Therapie im echten Leben macht Transfer überflüssig
Therapie im echten Leben macht Transfer überflüssig
Doch durch den in der Heilmittelrichtlinie nicht definierten Begriff Alltag sind den
Ergotherapeuten die Hände gebunden. In der Praxis oder im Hausbesuch kann lediglich
ein eingeschränkter Anteil persönlicher Lebenswelt erfasst und behandelt werden. Unter
Umständen lassen sich die Lebensfelder, die dem Klienten für seine Genesung am wichtigsten
sind und die auch aus medizinischer Sicht relevant sind, nicht ansprechen. In Behandlungssettings
der Produktivität und Freizeit können Ergotherapeuten kaum aktiv werden.
Werden jedoch Alltagstätigkeiten nicht im direkten Lebensfeld trainiert oder adaptiert,
braucht es einen Transfer von der Intervention in das normale Leben. Dieser bringt
Effizienzverluste mit sich, weil das persönliche, soziale und physikalische Lebensumfeld
nur bedingt simulierbar sind. Manche auftretenden Alltagsprobleme sind in der Praxis
nicht erkennbar.
Im Unterschied zu ärztlich-ambulanter Behandlung, die zum großen Teil aus Medikation
besteht, handelt es sich bei der Ergotherapie um komplexe Handlungsabläufe, die von
ihrer Umgebung beeinflusst werden. Ob Arbeitsfähigkeiten in einer simulierten Werkstatt
oder im echten Betrieb befundet und trainiert werden, macht einen großen Unterschied.
Kassen lehnen Therapie im Lebensumfeld ab
Kassen lehnen Therapie im Lebensumfeld ab
Wenn Ergotherapie die persönliche Alltagsfähigkeit wiederherstellen soll, braucht
es eine klare Definition von Alltag und davon, in welchen Lebensfeldern Alltag stattfindet.
Die Ergotherapie muss sich in Anlehnung an die Definitionen von Thiersch und Schütz
fragen:
-
Welche Lebensfelder sind Schauplatz und Zielgebiet des Handelns?
-
Welche motivierenden Anforderungen gibt es für gesundheitsförderliche Betätigungen?
-
Wie kann man diese am effektivsten beeinflussen?
Die Antworten werden nicht immer zu einer Behandlung in der Praxis oder zu Hause passen.
Vor allem wenn es um mehr als funktionale Übungen und häusliche Aufgabenbewältigung
geht (Fallbeispiel, S. 9).
Doch leider ist eine therapeutische Maßnahme wie im Fallbeispiel beschrieben nicht
möglich, da nur eine Behandlung in der Praxis oder zu Hause erlaubt ist. Eine Nachfrage
bei mehreren Kassen stieß auf eine durchgehende Ablehnung, obwohl die Maßnahme mit
den Zielen und den Leistungsbeschreibungen kongruent wäre. Aus anderen Fachbereichen
ist dieses Dilemma ebenfalls bekannt: Klienten und Heilmittelerbringer zielen gemäß
den Heilmittelrichtlinien auf eine Alltagshandlung ab, die gesundheitsförderlich ist,
doch erlaubt ist die Maßnahme nicht.
Forderung: Teilhabeorientierte Maßnahmen sind Therapie
Forderung: Teilhabeorientierte Maßnahmen sind Therapie
Man kann davon ausgehen, dass Therapie im echten Lebensumfeld sehr viel effektiver
ist als die Simulation oder ein Rollenspiel. Verhaltenstherapeutische Ansätze wie
Konfrontationsübungen machen sich diese Erkenntnisse schon längst zunutze. Das Verweigern
der oben beschriebenen Maßnahme erschwert es, die vorgesehenen Ziele zu erreichen.
Vor dem Hintergrund des eingeforderten Effektivitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots
ist dies umso unverständlicher.
In einem aktuellen Positionspapier der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation [11]
wird dieser Konflikt im Hinblick auf die Förderung der Teilhabe diskutiert. Die Organisation
empfiehlt, auch im Finanzierungsbereich der GKV die Teilhabeorientierung als therapeutische
Leistung der Heilmittelerbringer zu verankern. Diese Anforderung ergäbe sich schon
aus den Zielen des § 26 SGB IX, an denen alle kurativen Leistungen auszurichten seien,
nämlich „mithin an der Förderung der Teilhabe“. Eine explizite Einschränkung der Heilmittelversorgung
auf kurative Behandlung sei deshalb nicht sachgerecht.
Abgesehen von einem wenig verwunderlichen Tauziehen um die leistungsrechtliche Verantwortung
zweier Versorgungssysteme ergänzt das Positionspapier die zuvor dargelegte Perspektive
über Aufgaben und Ansprüche der künftigen Heilmittelversorgung: der tradierte, kurativ-funktionale
Behandlungsraum muss sich öffnen hin zu Support, Therapie und Beratung im wirklichen
Alltag und Leben der Klienten. Dies kann das Ziel der Profession Ergotherapie weiter
befördern, Betätigung zu ermöglichen. Lassen wir im Heilmittelsektor eine Behandlung
zu im Sinne eines Shared Decision Making, in dem die Klienten über ihre Leistungen
und wo sie diese erhalten mitbestimmen, hat das weitreichende Folgen: Motivierte und
informierte Klienten, die mitbestimmen und den klaren Nutzen für ihr alltägliches
Leben erkennen, berichten über eine höhere Lebensqualität und Symptomreduktion [12].
Unsere medizinisch orientierte traditionelle Sichtweise ist überholt. Praxis und Hausbesuch
sind nur ein Bruchteil der individuellen Lebenswelt und der dort bestehenden Betätigungsprobleme.
Und genau die möchten wir doch verändern.
Fallbeispiel – So kommt die Ergotherapie in den Alltag
Eine Ergotherapiepraxis erfasst bei psychiatrisch erkrankten Klienten das Bedürfnis,
sich sportlich zu betätigen. Durch Ärzte, Psychotherapeuten, Freunde und Familie wurden
sie immer wieder dazu aufgefordert. Doch ihre Symptome stehen ihnen im Weg: Antriebslosigkeit,
mangelndes Selbstvertrauen verbunden mit Scham, sozialen Ängsten, Phobien, Panikattacken,
Rückzug bis hin zur Isolation.
Einige schaffen es nur zu den Praxisterminen, ihre Wohnung zu verlassen, lassen sich
ansonsten durch Angehörige oder Betreuer versorgen. Manche leiden zudem unter extremer
Gewichtszunahme durch die Medikation. Aufgrund ihrer Erkrankung scheitert etwa Nordic
Walking oder Joggen in Eigenregie an fehlendem Antrieb. Vereinssport oder Gesundheitskurse
erzeugen Ängste, Scham und soziale Phobien. Die Klienten haben ein Betätigungsproblem,
dessen Überwindung zur Gesundung beitragen könnte.
Der Behandlungsauftrag auf der Verordnung lautet: „Verbesserung im Verhalten und der
zwischenmenschlichen Interaktion/Kommunikation“. Dies können Ergotherapeuten effizienter
im direkten Umfeld erreichen und nicht durch Üben körperlicher Aktivitäten. Sport
in der Praxis ist also keine Lösung, ebenso wenig zu Hause. Selbstständige Aktivitäten
außer Haus schaffen die Klienten aber wegen ihrer Erkrankung nicht.
Als Lösung böte sich an, Klienten im Rahmen der Therapie in ein Fitnessstudio zu begleiten.
Dort werden sie von Trainern an Geräten und in Kurse eingewiesen und betreut. Die
Ergotherapeuten vermitteln den Klienten Sicherheit, stärken deren Selbstbewusstsein
in der Interaktion und üben den Umgang mit evtl. auftretenden Panikattacken. Die ergotherapeutische
Intervention besteht also nicht in der Anleitung der sportlichen Aktivität, sondern
in der Motivation und Begleitung zu dieser Aktivität hin, damit diese auf Dauer eigenverantwortlich
wahrgenommen werden kann, ganz im Sinne der Rahmenempfehlungen [1].
Abb.: S. Schaaf