Mit Achtsamkeitsübungen können Ergotherapeuten ihre Klienten unterstützen, im Hier
und Jetzt zu verweilen. Sie begleiten sie dabei, sich auf den gegenwärtigen Moment
zu fokussieren und die Körperempfindungen ganz bewusst wahrzunehmen.Abb.: Lydie/fotolia.com
(nachgestellte Situation)
Die heilende Wirkung von Achtsamkeit ist in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen
[1, 2]. Es liegt daher nahe, sie auch in ergotherapeutische Behandlungen einfließen
zu lassen, besonders in die Arbeit mit psychisch kranken Menschen. Allerdings wird
man leicht dazu verführt, Achtsamkeit als schnell zu erlernende Technik oder „Methode“
anzuwenden. Vielleicht weil wir etwas Neues ausprobieren möchten oder aus Hilflosigkeit,
wenn wir in einer Behandlung feststecken und nicht mehr weiterwissen. Wir sollten
uns allerdings bewusst machen, dass Achtsamkeit keine Technik darstellt. Man versteht
darunter ein Lebensprinzip: die innere Haltung, im gegenwärtigen Augenblick so wenig
reaktiv und urteilend und so offenherzig wie möglich zu sein. Diese Haltung unterscheidet
man von den Übungen, die dazu dienen, diese Haltung zu unterstützen.
Eine Schulung des Bewusstseins
Eine Schulung des Bewusstseins
Der Ursprung der Achtsamkeit liegt in den Meditationsformen, die Siddharta Gautama
(563 v. Chr.–483 v. Chr., gilt als Begründer des Buddhismus) lehrte und die in dieser
Form überliefert sind [3]. Man kann Achtsamkeit als Gewahrseins- oder Bewusstseinsschulung
bezeichnen. Wesentlich sind das bewusste Erleben des gegenwärtigen Moments sowie das
Annehmen desselben. Wenn du gefragt wirst: „Bist du jetzt präsent?“, würdest du wahrscheinlich
„ja“ antworten. Natürlich bist du zeitlich und räumlich orientiert. Du weißt, wo du
bist und was vor sich geht. Doch bist du wirklich ganz da? Mit all deinen Sinnen?
Oft ist uns nicht bewusst, dass ein Teil unserer Aufmerksamkeit woanders ist. Nicht
im Hier und Jetzt, sondern in der Vergangenheit oder in der Zukunft: beim Schmieden
von Plänen, beim Sich-Sorgen, beim Schwelgen in Erinnerungen, beim Lösen von Problemen
– aber nicht wirklich anwesend [4].
Achtsamkeit ist die innere Haltung, im gegenwärtigen Augenblick so wenig urteilend
und so offenherzig wie möglich zu sein.
Die Basis der Achtsamkeit stellt gewissermaßen die Fähigkeit zur Konzentration dar.
Die Konzentration richtet den Fokus der Aufmerksamkeit auf das jeweils gewählte Objekt,
meist den Atem und die Körperempfindungen. Im nächsten Schritt wird „beobachtet, um
zu beobachten“. Dabei geht es um das Erleben dessen, was gerade im Körper geschieht.
Alle Elemente des Beobachtungsgegenstandes werden gleichermaßen wahrgenommen, ohne
zu bewerten, ohne nach Lösungen zu suchen. Was wir während einer Achtsamkeitsübung
erleben, schauen wir mit einer annehmenden Haltung an. Darin liegt auch die Herausforderung:
die Dinge und Situationen anzunehmen – unabhängig davon, ob sie veränderbar oder unveränderbar
sind. Das ist keine passive, erduldende Haltung, sondern eine aktive, dem Erlebten
hinwendende Haltung. Sie ermöglicht einen Abstand zwischen uns selbst und der von
uns als schwierig erlebten Situation [5].
Achtsamkeit braucht Übung
Achtsamkeit braucht Übung
Indem wir das „Gewahr-sein“ üben, wird uns erst bewusst, wie sehr wir damit beschäftigt
sind, nicht in der Gegenwart zu sein. Der Grund dafür liegt darin, dass wir auf irgendeine
Art und Weise mit dem, was jetzt ist, nicht komplett einverstanden sind und etwas
daran ändern wollen. Das kann sich in einer zarten Unruhe äußern oder in starken,
unangenehmen Emotionen. Und schon verstricken wir uns im Denken. Unsere Aversion gegenüber
bzw. Ablehnung von Dingen, wie sie wirklich sind, hat ihre Gründe. Und auch diese
betrachtet man in den meditativen Übungen immer feiner, um so das eigene Leiden und
das anderer Menschen zu verstehen. Achtsamkeit macht Leiden häufig erst bewusst und
heilt erst durch das Annehmen desselben.
Dieses tiefe Gewahrsein übertragen wir auf Alltagssituationen, um dort angemessener
handeln zu können. Unsere Möglichkeiten zu reagieren, vergrößern sich immens. Ein
Beispiel: Eine Therapeutin muss häufig Vorträge halten. Früher konnte sie mehrere
Nächte zuvor aufgrund der Gedanken, sie könne versagen, nicht schlafen. Unterstützt
durch eine achtsame Haltung erkennt sie die stressverschärfenden Gedanken und beruhigt
diese gleichzeitig mit Atemübungen. Mittlerweile hält sie ihre Vorträge deutlich entspannter.
Achtsam in der Therapie
Wir können uns selbst als Therapeuten dauerhaft in einer achtsamen Haltung schulen.
Allein aus dieser Haltung heraus können wir Prozesse beim Klienten anregen, ohne zu
wissen oder zu steuern, was dieser damit macht. So „kultivieren wir eine gewisse Unsicherheit
bei uns selbst“ [6]. Die achtsame Haltung lehrt uns, innezuhalten und uns frei von
Vorlieben, Meinungen und Werten zu machen. Daraus kann sich eine Neugier entwickeln,
auf das zu warten, was von alleine geschieht. In unserer Haltung bleiben wir immer
präsent, verzichten auf Bewertung und vertrauen auf die Selbstorganisation des Klienten.
Dadurch fühlen sich Klienten angenommen und respektiert. Sie werden ermuntert, eigenaktiv
an ihrem Heilungsprozess mitzuwirken.
Indikationen für Achtsamkeitsübungen
Indikationen für Achtsamkeitsübungen
In der Ergotherapie stellen Achtsamkeitsübungen eine Möglichkeit dar, um gemeinsam
mit Klienten Ziele zu erreichen.
So kommt zum Beispiel Herr Graf[*] aufgrund einer Erschöpfungsdepression zur Ergotherapie. Ihm ist es wichtig, dass
er wieder komplexe Handlungen ausführen kann, um alltägliche Aufgaben zu planen und
durchzuführen. Ein Betätigungsproblem des Klienten besteht darin, dass er sich in
der Fülle der Aufgaben verliert. Er gerät ins Grübeln und in eine gedankliche Abwertung
(„Ich kann sowieso nichts!“). Dieses Phänomen tritt auch während der Ergotherapie
auf, als er eine Aktivität (eine Mahlzeit zubereiten) nicht sinnvoll beginnt und nicht
selbstständig zu Ende bringt. Die Therapeutin bietet ihm daraufhin eine Achtsamkeitsübung
zu Beginn der Behandlung an. Dies unterstützt Herrn Graf, sich zu zentrieren und Abstand
zu den negativen Gedanken zu bekommen.
Achtsamkeitsübungen können Klienten unterstützen, im Hier und Jetzt zu verweilen.
Sie werden begleitet, ganz bewusst das Empfinden ihrer Körperwahrnehmung selbst zu
erfahren. Mögliche Indikationen für Achtsamkeitsübungen:
-
Menschen mit Angsterkrankungen profitieren beispielsweise von kurzen Achtsamkeitsübungen
oder einfachen Übungen aus der Progressiven Muskelentspannung. Ziele sind hier, die
nicht-ängstlichen Reaktionen zu stärken und sich achtsam auf den gegenwärtigen Moment
zu fokussieren.
-
Bei Menschen mit Depressionen liegen die Schwerpunkte vor allem darin, die Haltung
gegenüber den Denkinhalten zu verändern und die Wahrnehmungsfähigkeit für den aktuellen
Moment zu stärken.
-
Bei Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen besteht der Schwerpunkt auf körperorientierter
Achtsamkeit.
In der Arbeit mit traumatisierten, labilen oder unter Psychose leidenden Menschen
sollten wir Achtsamkeitsübungen nicht bzw. nur sehr vorsichtig anwenden.
Eigene Erfahrungen sind unumgänglich
Eigene Erfahrungen sind unumgänglich
Möchte man Achtsamkeitsübungen therapeutisch einsetzen, ist es essenziell, diese selbst
zu erfahren. Nur durch die Erfahrung erkennt man Schwierigkeiten, Zweifel und Hürden.
Manchmal erscheinen Achtsamkeitsübungen leichter, als sie wirklich sind. Doch sie
können tiefliegende Gefühle und Erlebnisse bewusst machen und Klienten aufwühlen.
Wer die Übung selbst erlebt hat, kann sich besser in Klienten einfühlen und mit deren
Rückmeldung umgehen. So berichtet ein Klient: „Jedes Mal, wenn ich mich auf den Atem
konzentriere, stockt mir der Atem. Das finde ich bedrohlich.“ Die Therapeutin kann
darauf eingehen: „Ich kann das nachvollziehen. Mir ging das zu Beginn ähnlich. Mir
hat es damals geholfen, den Atem einfach nur an den Nasenöffnungen zu spüren. Wollen
Sie das mal probieren?“
Nicht für jeden geeignet
Bei meditativen Übungen können auch ungewollte „Nebenwirkungen“ auftreten. Angefangen
von Atembeschwerden, Muskelzuckungen, Rastlosigkeit, Hitze- oder Kälteempfindungen
bis hin zu Halluzinationen, einer veränderten Körperwahrnehmung oder wiedererlebten
Traumata. Bislang gibt es nur wenig empirische Befunde zu möglichen Risikofaktoren
[8]. Insbesondere bei Menschen mit emotionaler Instabilität, Vulnerabilität für Psychosen,
Epilepsie, posttraumatischer Belastungsstörung und Erfahrungen von Depersonalisation
oder Derealisation können Achtsamkeitsübungen überfordernd wirken und schlimmstenfalls
Schaden anrichten.
Mir berichtete einmal eine Seminarteilnehmerin von einem Fall: Die Ergotherapeutin
vereinbarte mit einem traumatisierten, depressiven Klienten das Erlernen von Entspannungsübungen.
Zu Beginn nutzte sie Übungen aus der Progressiven Muskelentspannung. Es gab klare
Anweisungen. Der Klient wusste, was er wie tun musste. In der vierten Einheit führte
sie eine Achtsamkeitsübung durch, den Body-Scan (Körper-Scan). Hier werden von den
Füßen bis zum Kopf die einzelnen Körperregionen intensiv gespürt. Bei ihrem Klienten
führte das jedoch dazu, dass er in ein tiefes inneres Erlebnis abglitt, was eine Retraumatisierung
auslöste [9, 10].
Eine andere Situation erlebte ich selbst: Eine Klientin mit einer Panikerkrankung
zeigte sich interessiert an Achtsamkeitsübungen. Ich hatte gerade meine Ausbildung
als MBSR-Lehrer abgeschlossen (MBSR = Mindfulness Based Stress Reduction), und freute
mich, das neu Erlernte „ausprobieren“ zu dürfen. Ohne detailliertere Vereinbarungen
zu treffen, führte ich die Klientin in eine Körpermeditation. Sie geriet daraufhin
in eine Panikreaktion, weil sie sich vorstellte, in welchen Körperteilen sie welche
Krankheiten erleiden könnte.
Die Beispiele zeigen, dass man Achtsamkeitsübungen nicht leichtfertig und unreflektiert
als Entspannungsverfahren anwenden sollte. Man übersieht oft, dass die Ursprünge aller
Achtsamkeitsübungen und Meditation auf buddhistische Praxisanleitungen zurückzuführen
sind. Diese betonen ausdrücklich, dass mit Meditation ein ausgeglichener Zustand entspannter
Wachheit angeregt wird, auf dessen Grundlage ein tieferes Betrachten der Ursachen
des eigenen Leidens und des Leidens anderer geschieht. Auch wissenschaftliche Untersuchungen
zeigen, dass sich zwar zunächst Erregung und Stress vermindern, dass aber nach längerer
Praxis Erregung und Wachheit verstärkt werden [2, 7]. In der Arbeit mit labilen und
unter Psychose leidenden Menschen, sowie mit Menschen mit traumatischen Erfahrungen
sollten wir Achtsamkeitsübungen nicht anwenden bzw. ausgesprochen vorsichtig und verantwortlich
damit umgehen.
Bereichernd für die therapeutische Arbeit
Bereichernd für die therapeutische Arbeit
In der ergotherapeutischen Arbeit können wir mit einer achtsamen Haltung für unsere
Klienten da sein. Zielgerichtet, betätigungsorientiert und klientenzentriert angewendet
sind Achtsamkeitsübungen ein hilfreiches Medium. Das beinhaltet allerdings auch die
dauerhafte eigene Achtsamkeitspraxis und Erfahrungen in der Gewahrseinsschulung. So
sind wir Ergotherapeuten am ehesten in der Lage, das Erleben und die Rückmeldung der
Klienten nachzuvollziehen und therapeutisch zu begleiten.
Winfried Kümmel
Beispiel Achtsamkeitsübung - Atemmeditation
Die folgende Übung ist eine Atemmeditation und gilt als Grundlagenübung [2, 7]: Klient
und Therapeutin sitzen jeweils auf einem Stuhl, in angemessenem Abstand zueinander.
Vorher wird vereinbart, welche Sitzposition für beide stimmig ist. Die Therapeutin
leitet die Übung an. Sie orientiert sich dabei am unten dargestellten Ablauf. Die
Atemmeditation eignet sich gut als Einstieg zu Beginn einer Therapieeinheit im Einzelsetting,
aber auch einleitend für eine Gruppentherapie, z. B. in einer psychosomatischen Fachklinik
oder Tagesklinik. Diese Übung dauert 5–10 Minuten.
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Beginnen mit der Ausrichtung des Sitzens: Das Sitzen wahrnehmen. Sitzunterlagen spüren. Kontakt mit der Sitzunterlage spüren.
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Haltung des Körpers: Den ganzen Körper wahrnehmen. Empfindungen spüren und so sein lassen. Augen schließen.
Aufrecht sitzen. Arme und Hände entspannt ablegen. Körper beruhigen.
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Aufmerksamkeit auf den Atem richten: Nur spüren, wie der Atem kommt und geht. Den Atem so sein lassen. Den Atem nicht
beeinflussen. Wissen, dass man atmet.
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Atem im Körper spüren: Die Bewegung des Atems im Körper wahrnehmen. Ausdehnen und Zusammenziehen des Brustkorbs,
Heben und Senken der Bauchdecke beim Ein- und Ausatmen.
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Aufmerksamkeit auf den Atem feiner werden lassen: Die ganze Länge der Einatmung und die ganze Länge der Ausatmung bewusst verfolgen.
Pause zwischen Aus- und Einatmung registrieren.
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Ablenkungen registrieren: Wissen, dass immer wieder Ablenkungen die Aufmerksamkeit vom Atem wegbringen. Das
okay sein lassen.
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Ablenkungen beobachten: Registrieren, dass Hören, Denken, Fühlen stattfindet. Sich nicht in den Ablenkungen
verlieren.
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Zurückbringen zum Atem: Aufmerksamkeit sanft, freundlich und ohne Anstrengung und ohne Selbstverurteilen
auf den Atem zurücklenken. Oder auf die Bewegung des Atems im Körper.
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Wiederholen dieses Vorganges: Sich bewusst werden, dass dieser Vorgang ständig geschieht. Immer wieder aufs Neue
die Ablenkung registrieren und Aufmerksamkeit zum Atem zurückbringen.
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Abschließen der Meditation: Ankündigen, dass die Übung beendet wird. Dann beenden und Aufmerksamkeit langsam
wieder nach außen richten.