physiopraxis 2017; 15(09): 45-47
DOI: 10.1055/s-0043-110524
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Miktionstagebuch – Die Blasen-Agenda

Barbara Köhler

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Publication Date:
15 September 2017 (online)

 

Harnverlust, Ausscheidungsmenge, Einlagenwechsel, Harndrang und Trinkmenge doku- mentiert ein Patient in seinem Miktionstagebuch. So lassen sich Verhaltensänderungen besprechen, die Therapie planen und der Therapieerfolg beurteilen – ein Muss für einen professionellen Auftritt gegenüber Arzt und Patient.


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Prof. Dr. rer. medic. Barbara Köhler ist Physiotherapeutin und Gymnastiklehrerin. 2009 machte sie ihren Master in Physiotherapiewissenschaften an der Universität Maastricht, 2015 promovierte sie an der Universität Essen-Duisburg und erhielt 2016 eine Professur für Innere Organe und Gefäße an der ZHAW. Seit 2017 hat sie dort zudem einen Weiterbildungsauftrag zur Standardisierung der Assessments bei Inkontinenz und ist zu 40 Prozent fachverantwortlich für die Beckenphysiotherapie am Stadtspital Triemli Zürich.

Sechs bis acht Millionen Menschen in Deutschland haben eine Harninkontinenz, schätzen Experten [1, 2]. Immer mehr Physiotherapeuten haben sich deshalb in den letzten Jahrzehnten auf diese Patientengruppe spezialisiert und bieten hochqualifizierte Leistungen an. Die meisten müssen aufgrund der hohen Nachfrage mit Wartelisten arbeiten und haben im beruflichen Alltag kaum Zeit, um adäquate Arztberichte zu schreiben.

Empfehlenswert ist es deshalb, mit dem sogenannten Miktionstagebuch (ASSESSMENTBOGEN, S. 47) zu arbeiten. Dieses besteht aus einer einfachen, fast selbsterklärenden Tabelle und bietet einen raschen Überblick über die Probleme des Patienten. Auf Basis des Tagebuchs vereinbart der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten Ziele und kann sie objektiv kontrollieren. Dasselbe gilt für das Therapieergebnis. Mit einem kurzen Abschlusstext zum Miktionstagebuch kann er seinen Schlussbericht effizient erstellen und damit dem Patienten den Therapieerfolg und dem Arzt adäquat die Verbesserungen dokumentieren.

Das Assessment eignet sich für alle Patienten mit Harnverlust, ob mit Belastungs-, Drang-, Misch- oder Überlaufinkontinenz. Zudem kommt es vor und nach Operationen, insbesondere bei Unterleibsoperationen wie einer Prostatektomie, zum Einsatz, um beurteilen zu können, ob sich die Speicherfunktion der Blase oder das Trinkverhalten nach dem Eingriff verändert hat. Für eine exakte einmalige Analyse zu Beginn und am Ende der Therapie empfiehlt es sich, dass der Patient drei Tage in Folge dokumentiert [3]. Dazwischen dokumentiert er einmal wöchentlich für 24 Stunden, um den Therapieerfolg zu erfassen.

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Millionen Menschen in Deutschland sind harninkontinent.

Ein umfassendes 24-Stunden-Protokoll

Patienten führen mit dem Miktionstagebuch 24-Stunden-Protokolle, indem sie Uhrzeit, Trink- und Harnmenge, Harnverlust, Harndrang und Einlagenwechsel dokumentieren – beginnend mit der Morgenentleerung. Zu jeder Eintragung notiert der Patient die Uhrzeit. Um bei der Trinkmenge eine mögliche drang- oder harnverlustfördernde Wirkung zu evaluieren, notiert er zur Menge auch die Art des Getränkes: K = Kaffee oder schwarzer Tee, W = Wasser oder Kräutertee, A = Alkohol, S = Saft. Üblicherweise erfolgen zwischen Aufstehen und Schlafengehen fünf bis acht Harnentleerungen, über Nacht null bis zwei. Das Volumen jeder Entleerung misst der Patient mithilfe eines Messbechers. Für gewöhnlich scheidet der Mensch pro Entleerung zwischen 350 und 500 Milliliter aus. Das Volumen des Harnverlustes kreuzt der Patient jedes Mal aus subjektiver Sicht als klein, mittel oder groß an – optimalerweise dokumentiert er dabei, wobei der Harnverlust auftrat. Dasselbe gilt für den Harndrang. Hier entscheidet er sich für „fehlend“ bei einer Entleerung ohne Entleerungsbedürfnis, „normal“ oder „zwingend“, wenn ein Aufschub nicht möglich ist.

Die Hygieneartikel kategorisiert der Patient in klein (Slipeinlage), mittel (Binde) und groß (Windel). Vor und nach dem Harnverlust kann er die Einlagen mit einer Briefwaage wiegen, hygienisch geschützt durch eine Klarsichtfolie. Neben dem subjektiven Nässegefühl beeinflussen auch andere Faktoren das Wechselverhalten der Einlagen, etwa Sparsamkeit, aus dem Haus gehen, zu Bett gehen oder Angst vor Geruch. Diese Faktoren sollte der Therapeut erfragen, notieren und in die Auswertung miteinbeziehen.


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Die individuelle Trinkmenge berechnen

Durch die tabellarische Form ist das Miktionstagebuch sehr übersichtlich. Bei der Auswertung geht der Therapeut mit dem Patienten die Werte durch und notiert gegebenenfalls Maßnahmen, um die Situation zu verbessern. Einige Parameter kann der Patient selbst mit den unten angegebenen Normwerten vergleichen. Die individuelle Trinkmenge des Patienten berechnet der Therapeut mit der Formel: Körpergewicht (kg) x 23 = ml. Bei Kindern und Jugendlichen gilt dagegen die sogenannte 7-Becher-Regel [4].

Das Volumen der Entleerung stellt der Therapeut mit Median und Range dar. Hat der Patient beispielsweise neun Entleerungen in 24 Stunden wie folgt dokumentiert: 550, 250, 100, 200, 250, 300, 50, 50 und 100 Milliliter, sortiert der Therapeut die Volumina der Größe nach. Die mittlere Zahl ist der Median, die kleinste und größte Zahl dokumentiert er in Klammern dahinter: Median 200 (Range 50–550). Bei der Auswertung stellt er die jeweiligen Anfangswerte den Schlusswerten gegenüber und lässt sie in den Abschlussbefund einfließen [5]. Besondere Vorkommnisse, die die Blasenfunktion beeinflussen könnten, kann der Patient ebenfalls festhalten.


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Das Tagebuch im Kontext mit anderen Untersuchungen

Im Gesamtassessment der Harninkontinenztherapie spielt das Miktionstagebuch eine zentrale Rolle. Zusätzlich erhebt der Therapeut eine Anamnese inklusive des Erfolgs oder Misserfolgs bisheriger Therapien, macht eine Inspektion, Palpation und funktionelle Untersuchung und lässt den validierten Inkontinenz-Fragebogen ICIQ-UI SF ausfüllen, den es auf der Homepage der Internationalen Kontinenzgesellschaft zum Download gibt [6]. Zudem notiert der Therapeut die Alltagsaktivitäten des Patienten, und dieser soll ihm die Bewegungen zeigen, bei denen er Harn verliert. Wie sich der Harnverlust auf den Patienten auswirkt, erfasst der Therapeut im Sinne der ICF mit einem gekürzten krankheitsspezifischen Formular (ICF-Inkontinenz-Assessment-Formular) [7].


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Auch in elektronischer Form vorhanden

Das Miktionstagebuch ist übersichtlich und für den Patienten leicht verständlich. Dennoch sollte er ausreichend sprachliche und kognitive Kompetenzen sowie eine gute Compliance haben. Je nach Alltagsbelastung, etwa bei jungen Müttern, oder der Arbeitsplatzsituation kann es für die Patienten schwierig sein, ihr Harnvolumen wie oben beschrieben zu messen. Diese Patienten können einmalig ohne zu pressen in einen Becher urinieren und dabei die Sekunden messen. Dann berechnen sie, wie lange 100 Milliliter Harnentleerung dauern, und notieren unterwegs die Uhrzeit sowie die Dauer der Harnentleerung. Am Abend übertragen sie die Daten dann ins Tagebuch.

Da bislang keine valide Form des Miktionstagebuchs vorliegt und verschiedene Versionen im Umlauf sind, sollte der Therapeut darauf achten, dass der Patient immer dieselbe Version benutzt. Zudem sollte er ihm davon abraten, täglich Protokoll zu führen, um eine Pathologisierung zu verhindern. Stabilisiert sich sein Zustand, kann der Patient die Messabstände vergrößern.

Das Miktionstagebuch veranschaulicht Veränderungsbedarf und kontrolliert den Therapieerfolg. Mit den erhobenen Parametern kann der Therapeut die Ergebnisse fachspezifisch und zeitgemäß in Berichten darstellen. Auch erste elektronische Versionen sind bereits auf dem Markt, die die Werte direkt an die betreuende Institution übertragen. Das Miktionstagebuch und die standardisierte Berichterstattung sind damit ein weiterer Schritt in der Professionalisierung der Physiotherapie.

Barbara Köhler


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