Der Klinikarzt 2017; 46(04): 120-121
DOI: 10.1055/s-0043-108113
Medizin & Management
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Behauptete Hygieneverstöße - Krankenhaus hat gegebenenfalls Darlegungspflicht

Isabel Häser
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Korrespondenz

Dr. iur. Isabel Häser
Rechtsanwältin Fachanwältin für Medizinrecht
Haimhauser Str. 1
80802 München

Publication History

Publication Date:
24 April 2017 (online)

 

Der Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigt sich in dem Beschluss vom 16. August 2016 (Az. VI ZR 634/15) mit der Beurteilung der Darlegungslast in Arzthaftungsprozessen bei behaupteten Hygienemängeln. Er kommt zu dem Ergebnis, dass trotz grundsätzlicher Darlegungslast des Patienten das Krankenhaus bei behaupteten Hygienemängeln in gewissem Rahmen die Einhaltung der Hygienebestimmungen etc. nachzuweisen hat.


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Der Fall

Der Kläger (ein Kfz-Meister) litt im Sommer 2009 unter Beschwerden im rechten Ellenbogen. Im November 2009 wurde er wegen eines sogenannten „Tennisarms“ krankgeschrieben. Die Hausärztin des Patienten überwies ihn an das beklagte Krankenhaus. Da konservative Maßnahmen keinen Erfolg hatten, wurde im März 2010 die Indikation zu einem operativen Eingriff gestellt. Die empfohlene Operation wurde sodann am 09. März 2010 durchgeführt. Der Kläger wurde offenbar im Anschluss an die Operation in einem Zimmer neben einem Patienten untergebracht, der unter einer offenen, eiternden und mit einem Keim infizierten Wunde im Knie litt. Dieser Patient zeigte sein „offenes Knie“ dem Kläger und allen anderen Anwesenden bei den verschiedenen Verbandswechseln und klagte darüber, dass man den Keim nicht „in den Griff“ bekomme. Am 11. März 2015 wurde der Kläger bei reizlosen Wundverhältnissen entlassen. Aufgrund anhaltender Schmerzen im rechten Ellenbogen stellte sich der Kläger Mitte April jedoch wieder bei der Beklagten vor. Es wurde eine deutliche Schwellung über der Ecksensorenplatte festgestellt und eine Revisionsoperation empfohlen. Aufgrund starker Schmerzen und sichtbarer Eiterbildung wurde die Operation bereits nach einer Woche durchgeführt. Die alte Wunde wurde eröffnet, der Eiter entleert und ein Abstrich genommen. Die Wunde wurde ausgiebig gesäubert und ein Debridement durchgeführt. Wegen der Wundinfektion wurde eine antibiotische Therapie eingeleitet. Der Abstrich ergab eine Infizierung der Wunde mit dem Staphylococcus aureus. Eine Nachkontrolle Anfang Mai ergab keine Auffälligkeiten. Die Beschwerdesymptomatik bestand allerdings weiterhin, weshalb sich der Kläger Ende Juni erneut bei der Beklagten vorstellte und eine weitere Operation durchgeführt wurde. Ein Keimwachstum wurde nicht mehr festgestellt. Die Beschwerden des Klägers besserten sich jedoch auch nach der dritten Operation nicht. Er litt unter einer Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogens und unter einem Schnappen im lateralen Bereich des Ellenbogens bei körperlicher Belastung. In einer anderen Klinik wurde eine radiale kollaterale Bandinstabilität festgestellt, die durch eine Seitenbandplastik durch Entnahme des Bindegewebestreifens aus dem Oberschenkel durchgeführt wurde. Der Kläger leidet heute noch unter einem Ruhe- und Belastungsschmerz. Er verklagte das Krankenhaus wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Seine Klage wurde in erster Instanz abgewiesen. Auch das Berufungsgericht wies die Berufung zurück und ließ die Revision nicht zu. Der Patient erhob Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH. Der BGH hob auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hin das Urteil des Oberlandesgerichts auf und verwies zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück an das Berufungsgericht.


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BGH hebt abweisendes Urteil auf

Nach Auffassung des BGH hat das Berufungsgericht den Prozessstoff nicht vollständig gewürdigt und wesentliche, für den Kläger günstige, Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen unberücksichtigt gelassen.

Der Patient hatte nämlich auf die gemeinsame Unterbringung mit einem anderen Patienten mit einer offenen, infizierten Wunde hingewiesen. Grundsätzlich sei dies nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen bei einem Patienten, der einen unauffälligen postoperativen Heilverlauf aufweist, nicht zu beanstanden, sofern bestimmte Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert Koch-Institutes eingehalten werden:

  • „Prävention postoperativer Infektionen im Operationsgebiet“,

  • „Zur Beherrschbarkeit von Infektionsrisiken primum non nocere“,

  • „Anforderungen der Hygiene bei Operationen und anderen invasiven Eingriffen“

  • „Anforderungen der Hygiene beim ambulanten Operieren im Krankenhaus und Praxis“.

Im konkreten Fall hatte das Oberlandesgericht aufgrund des Sachverständigengutachtens geurteilt, dem Krankenhaus sei ein Verstoß gegen Hygienestandards nicht vorzuwerfen. Dem konnte der BGH nicht folgen. Vielmehr habe der Sachverständige angegeben, es entziehe sich seiner Kenntnis, inwieweit die vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Empfehlungen im Rahmen der damaligen ersten stationären Behandlung des Klägers beachtet worden seien. Hierzu müsse ggf. eine entsprechende Recherche betrieben werden, z. B. dazu, ob die Vorschriften zu hygienischen Händedesinfektion und zum Verbandswechsel unter keimarmen Bedingungen eingehalten worden seien. Dies könne er aus den ihm vorgelegten Unterlagen nicht ableiten.

Hierbei handelt es sich also um für den Kläger günstige Ausführungen des Sachverständigen, die das Berufungsgericht nach Auffassung des BGH nicht richtig berücksichtigt habe. Da nach Auffassung des BGH nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gelangte wäre, war das Urteil aufzuheben und zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zurückzuverweisen.


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Krankenhaus muss Einhaltung der Hygienebestimmungen darlegen

Nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung gilt der Grundsatz, dass keine Prozesspartei verpflichtet ist, dem Gegner die für den Prozesssieg benötigten Informationen zu verschaffen. Daran hält der BGH auch in dieser Entscheidung fest. Zwar müsse grundsätzlich der Anspruchsteller alle Tatsachen behaupten, aus denen sich sein Anspruch herleitet. Dieser Grundsatz bedürfe aber einer Einschränkung, wenn die primär darlegungsbelastete Partei (hier: der Patient) außerhalb des von ihr vorgetragenen Geschehensablaufs stehe und ihr eine nähere Substantiierung nicht möglich oder nicht zumutbar sei, während der Prozessgegner (hier: das Krankenhaus) alle wesentlichen Tatsachen kenne oder unschwer in Erfahrung bringen könne und es ihm zumutbar sei, nähere Angaben zu machen.

In diesem Fall muss das Krankenhaus sozusagen dem beweispflichtigen Patienten eine prozessordnungsgemäße Darlegung durch nähere Angaben erst einmal ermöglichen, die Beweislast verbleibt aber dennoch beim Kläger. Nach Auffassung des BGH trifft das Krankenhaus insoweit die sogenannte sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Maßnahmen, die sie ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die vom Sachverständigen als Voraussetzung für ein behandlungsfehlerfreies Vorgehen aufgeführten Hygienebestimmungen eingehalten wurden. Der Kläger habe konkrete Anhaltspunkte für einen Hygieneverstoß vorgetragen, was eine erweiterte Darlegungslast der Beklagten auslöse, so der BGH. Vom Patienten könne regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Zu der Frage, ob die Beklagte den vom Sachverständigen genannten Empfehlungen nachgekommen sei, könne und müsse der Kläger nicht näher vortragen. Er stünde insoweit außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs. Welche Maßnahmen das Krankenhaus getroffen habe, um eine sachgerechte Organisation der Koordinierung der Behandlungsabläufe und der Einhaltung der Hygienebestimmungen sicherzustellen (interne Qualitätssicherungsmaßnahmen, Hygieneplan, Arbeitsanweisungen), entziehe sich seiner Kenntnis.


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Keine Beweislastumkehr wegen vollbeherrschbarem Risiko

Neben den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast bei Hygienemängeln setzt sich der BGH noch einmal sehr lehrbuchartig mit den Grundsätzen über das vollbeherrschbare Risiko auseinander. Danach müsse die Behandlungsseite, wenn sich ein Risiko verwirkliche, das von der Behandlungsseite voll hätte beherrscht werden können und müssen, darlegen und beweisen, dass sie alle erforderlichen organisatorischen und technischen Vorkehrungen ergriffen habe, um das Risiko zu vermeiden.

Vollbeherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen, so der BGH.

Demgegenüber stehen Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und der Patientensphäre zuzurechnen sind. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würden.


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Vollbeherrschbarer Bereich

Diesem Bereich seien beispielsweise

  • die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittel,

  • die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit sowie

  • die vermeidbare Keimübertragung

durch andere beteiligten Personen hinzuzurechnen. All diesen Fällen sei gemeinsam, dass objektiv eine Gefahr bestünde, deren Quelle jeweils festgestellt, und die deshalb mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne.


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Keine Umkehr der Beweislast bei ungeklärter Infektionsquelle

Bei ungeklärter Infektionsquelle, käme eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast nach den Grundsätzen über das vollbeherrschbare Risiko dagegen nicht in Betracht. Sie träte vielmehr nur dann ein, wenn feststünde, dass der Gesundheitsschaden aus der von der Behandlungsseite vollbeherrschbaren Sphäre hervorgeht. Dies sei im konkreten Fall nicht gegeben. Es stehe nicht fest, wo und wann sich der Kläger infiziert hatte. Der bei ihm nachgewiesene Erreger sei ein physiologischer Hautkeim, der bei jedem Menschen vorzufinden sei. Es sei möglich, dass der Kläger selbst Träger des Keims gewesen war und dieser in die Wunde gewandert sei oder der Keim durch einen Besucher übertragen worden sei.


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Fazit

Durch den Beschluss versucht der BGH letztlich den Interessen beider Parteien gerecht zu werden. Einerseits gesteht er den Kliniken zu, dass nicht jedes Hygienethema unter das Stichwort „vollbeherrschbares Risiko“ zu fassen ist. Andererseits legt er den Kliniken eine sogenannte „sekundäre Darlegungslast“ bezüglich der Einhaltung bestimmter Hygieneempfehlungen auf, da sich dieses Wissen dem Patienten entzieht.

Wieder einmal mehr wird deutlich, dass auch im Bereich der Hygiene Dokumentation sowie die penible Überwachung interner Qualitätssicherungsmaßnahmen, regelmäßige Anpassung von Arbeitsanweisungen etc. nicht an Bedeutung verloren haben.


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