Laryngorhinootologie 2017; 96(10): 704-709
DOI: 10.1055/s-0043-104771
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Indikatoren für Sprachverständnis bei Kindern mit Migrationshintergrund. Ein Extremgruppenvergleich

Indicators for Speech Comprehension in Migrant Children. A comparison of Extreme Groups
Christiane Kiese-Himmel
1   Phoniatrisch/Pädaudiologische Psychologie, Medizinische Psychologie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen
,
Herbert Poinstingl
2   Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen
,
Nicole von Steinbüchel
2   Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

eingereicht 17 October 2016

akzeptiert 23 February 2017

Publication Date:
19 May 2017 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund Kinder mit Migrationshintergrund und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) gelten häufig als sprachauffällig, was jedoch mangels fehlender Untersuchungsinstrumente im jungen Alter schwer zu objektivieren ist. Hierfür sollten empirisch Risikofaktoren bestimmt werden.

Material und Methoden Aus dem Datenpool einer Entwicklungslängsschnittstudie in 7 Kitas in Frankfurt/M. u. Darmstadt wurden Migrantenkinder im Alter von 3–5;11 Jahren durch ihre Testleistung im oralen Sprachverständnis 2 Extremgruppen zugewiesen: „unauffällig“ bei T-Wert ≥46 (N=61) vs. „auffällig“ bei T-Wert ≤32 (N=65). Gruppenunterschiede wurden anhand von Testergebnissen (Intelligenz; Verständnis grammatischer Strukturen; sprachliche Begriffsbildung; Erkennen von semantischen und grammatischen Inkonsistenzen) analysiert.

Ergebnisse Die Intelligenz war in beiden Gruppen durchschnittlich, in der unauffälligen Gruppe über dem Altersmittel gelegen: T-W 54,1; SD 6,7, in der auffälligen darunter: T-W 42,2; SD 8,8 (p<0,001). In allen Sprachleistungen unterschieden sich die Gruppen durchgängig signifikant. Diskriminanzanalytisch wurden 4 Merkmale für die Güte von DaZ identifiziert: Intelligenzhöhe; Erkennen von Sprachinkonsistenzen; Bildungsstand der Mutter; Grammatikbasiertes Sprachverständnis. Bzgl. der vorhergesagten Gruppenzugehörigkeit wurden 88% der Kinder mit auffälligem und 84% der mit unauffälligem Sprachverständnis korrekt zugeordnet.

Schlussfolgerung Die Studie liefert einen akzeptablen Standard, um Migrantenkinder mit gutem Verständnis von DaZ von solchen mit schwachem zu trennen.

Abstract

Objective Children with migrant background learning German as second language are frequently considered having problems in speech comprehension and speaking; nevertheless, it is very difficult to objectify that for young children. For this purpose risk-factors should be determined empirically.

Material and Methods The study comprised 126 children from a developmental longitudinal study in 7 day-care centers in Frankfurt/M and Darmstadt. The sample was sorted into two extreme groups by their achievement in oral German language comprehension: criterion T-score ≥46=age appropriate (N=61) vs. T-score ≤32=poor (N=65). The study used an assumed best-subtests variable-selection (intelligence; grammatical based comprehension; verbal conceptualization; recognition of semantic and grammatical inconsistencies) to examine risk-factors for the quality of development in German as second language.

Results Intelligence was average in both groups, however, significantly different (T-score=54.1; SD 6.7 vs. T-score=42.2; SD 8.8; p<0,001). Risk-factors for a separation between rather convenient and less convenient conditions for the development of German as second language could be identified by applying discriminant analyses (in order of descending magnitude): intelligence; recognition of verbal inconsistencies; mother’s level of education; grammatical based comprehension. Regarding the group affiliation, 88% of the children with poor and 84% of those with age appropriate oral comprehension could be correctly classified within the selected samples.

Conclusions The results provide an acceptable standard to distinguish migrant children with an age appropriate oral comprehension in German as the second language from such with a poorer one.

 
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