Was damals in der ersten Euphorie als unrealistische Zukunftsvision erschien, ist
heute zur bedrohlichen Realität geworden. Die Zahl multiresistenter Erreger (MRE)
wächst von Jahr zu Jahr, und Antibiotika werden in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend
nicht mehr als lebensrettende Medikamente, sondern als Ursache für Ausbrüche von Infektionen
mit multiresistenten Keimen wahrgenommen, die zur Stilllegung ganzer Abteilungen in
Krankenhäusern und zum Tod vieler betroffener Patienten führen. Die Ursachen für diesen
Paradigmenwechsel sind vielfältig. Nach wie vor sind Antibiotika in vielen Ländern
Südeuropas rezeptfrei erhältlich und werden dementsprechend in großen Mengen trotz
fehlender Indikation „over the counter“ verkauft. Nicht überraschend ist daher die
Tatsache, dass insbesondere in Ländern mit hohem Antibiotikaverbrauch – z. B. Frankreich,
Spanien, Portugal, Griechenland und Italien – bis zu 50 % der Staphylococcus-aureus-Stämme
gegen Methicillin und viele andere Antibiotika resistent sind (MRSA). Ein weiteres
Problem, auch in Deutschland, ist die Verordnung hochpotenter Antibiotika ohne entsprechende
Indikation, z. B. zur Therapie einer Influenza oder sogar banalen Erkältung. Auch
in unseren Kliniken beruht die Gabe von Antibiotika häufig nicht auf einem entsprechenden
Keimnachweis oder eindeutigen klinischen Symptomen, sondern auf unspezifischen Änderungen
von entzündungsassoziierten Laborwerten. Die Wahl des Präparats wiederum wird historisch
tradiert vorgenommen und orientiert sich oft nicht an neuesten Leitlinien und Empfehlungen.
Generell gilt daher immer noch: Es werden zu viele und zu breit wirksame Antibiotika
verordnet. Was also ist zu tun? Die „Antibiotic Stewardship“ (ABS), also der rationale
und evidenzbasierte Umgang mit Antibiotika, bietet vielversprechende Ansätze.
Antibiotic Stewardship und Hygiene
Antibiotic Stewardship und Hygiene
Wie Petra Gastmeier in ihrem Beitrag eindrucksvoll darlegt, kann ein weiterer Anstieg
multiresistenter Erreger nicht allein durch Maßnahmen der Krankenhaushygiene wie Händedesinfektion,
Screening und Isolation bzw. Verhinderung der Umgebungskontamination verhindert werden.
Das Risiko für einen Patienten, im Rahmen seines Krankenhausaufenthalts einen multiresistenten
Keim zu erwerben, hängt ganz entscheidend davon ab, in welchem Maße er zuvor Antibiotika
erhalten hat. Eine aktuelle Metaanalyse legt nahe, dass das Risiko für die Infektion
mit MRSA im Mittel um den Faktor 1,8 steigt, wenn der Patient zuvor Antibiotika erhalten
hatte; für einzelne Präparate konnte aber auch eine Verdreifachung des Risikos gezeigt
werden. Demgegenüber stößt die Verhinderung einer Transmission durch hygienische Maßnahmen
schnell an ihre Grenzen. Aus hygienischer Sicht sollten demnach endemisch hohe Raten
multiresistenter Erreger in erster Linie durch ABS reduziert werden, epidemische Häufungen
sollten allerdings überwiegend durch Hygiene und Maßnahmen zur Verhinderung der Transmission
kontrolliert werden.
Klinikweites Change Management
Klinikweites Change Management
In der täglichen, klinischen Praxis stellt sich aber das Problem, wie ein ABS-Programm
bei begrenzten personellen Ressourcen umgesetzt werden kann. Wie Jan R. Ortlepp in
seinem Beitrag ausführt, kann dies nur dann gelingen, wenn ein klinikweites „Change
Management“ etabliert wird. Es fokussiert darauf, die Bedeutung des Problems MRE allen
Mitarbeitern und Stakeholdern zu verdeutlichen und gibt darauf aufbauend ein klares
Ziel – konkret die Reduktion der Antibiotikaverordnungen – vor. Dies kann aber nur
dann gelingen, wenn Klinikleitung und Geschäftsführung hierfür an einem Strang ziehen
und gemeinsam in eine bessere Verzahnung von Klinik, Mikrobiologie und Hygiene investieren.
Management beim konkreten Fall
Management beim konkreten Fall
Am Beispiel eines konkreten Ausbruchsgeschehens mit einem extrem gefährlichen MRE,
einem gegen 4 Antibiotikaklassen resistenten (4 MRGN) Acinetobacter baumanii, verdeutlichen
Anette Friedrichs, Bibiane Steinborn und Swantje Eisend die Bedeutung dieser Verzahnung
für das erfolgreiche Management eines solchen Ausbruchs an einem großen Universitätsklinikum.
Es wird klar, dass ein ABS-Programm nur dann funktionieren kann, wenn die Leitung
des Klinikums dafür ein Mandat erteilt und die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung
stellt. Ein bis zwei VK pro 500 Krankenhausbetten erscheint dabei zunächst ambitioniert.
Die Kostenreduktion durch eine rationellere Antiinfektiva-Verordnung kann diese Investition
jedoch rechtfertigen, vom Nutzen bei einem konkreten Ausbruch einmal ganz abgesehen.
Der Nutzen und Mehrwert eines ABS-Programms muss letztlich im Vorher-nachher-Vergleich
auch an harten Endpunkten wie Liegedauer, Beatmungstagen und Sterblichkeit bemessen
werden. Die Daten dazu aus der Literatur sind vielversprechend. In einem konkreten
Fall wie dem hier geschilderten wird ein Klinikum sich auf jeden Fall glücklich schätzen,
ein ABS-Team zur Verfügung zu haben. Nur so sind die komplexen Herausforderungen bezüglich
Mitarbeiterschulung, Patientenisolierung, Festlegung der notwendigen Hygienemaßnahmen
und korrekter Dosierung der Reserve-Antibiotika zeitnah und konsequent zu bewältigen.
Letztlich sind aber alle klinisch tätigen Ärzte gefordert, sich hinsichtlich ABS weiterzubilden
und eine eigene Expertise in diesem Bereich zu erwerben. Unser Fachgebiet ist in vielen
medizinisch relevanten Bereichen mit wichtigen Initiativen vorangegangen, sei es bei
der kardiopulmonalen Reanimation oder dem rationellen Umgang mit Blutprodukten. Auch
im Bereich ABS sind wir gefordert, zum Wohle unserer Patienten tätig zu werden. Es
ist fünf vor zwölf!
Ihre
Berthold Bein und Jens Scholz